Entscheidungsstichwort (Thema)

Verteilung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Hat eine Beschäftigung, bei der sich ein Unfall ereignet hat, mehreren, bei verschiedenen Versicherungsträgern versicherten Unternehmen gedient und einigen sich die beteiligten Versicherungsträger nicht über die Verteilung der Entschädigungslast, so hat der für die Entschädigung des Verletzten zuständige Versicherungsträger einen vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit verfolgbaren Rechtsanspruch auf Mittragung der Entschädigung. Als Klagearten kommen die Leistungsklage nach SGG § 54 Abs 5 und die Feststellungsklage nach SGG § 55 Abs 1 Nr 1 SGG in Betracht. Das Gericht hat die Entschädigungslast nach Billigkeit zu verteilen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. SGG § 51 Abs 1 gilt auch bei Streit über die Verteilung der Entschädigungslast.

2. Durch die Aufhebung des RVO § 1740 hat sich an dem Rechtszustand nichts geändert, daß der vom Verletzten in Anspruch genommene Versicherungsträger auch einen Rechtsanspruch auf die Verteilung hat.

 

Normenkette

RVO § 1739; SGG § 54 Abs. 5, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1740 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. April 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Landwirt S in D hatte zum Bau einer Scheune bei dem Fuhrunternehmer und Baustoffhändler S 1000 Ziegelsteine bestellt, die - wie die Klägerin behauptet - unmittelbar an die Baustelle angeliefert werden sollten. Am 25. Mai 1949 brachte S einen Lastwagenanhänger mit 1000 Steinen, von denen 500 für S und 500 für Arbeiten am Backhaus in D bestimmt waren. Den Anhänger stellte er an dem von der Baustelle S etwa 100 m entfernten Backhaus ab, während er selbst mit dem Motorwagen weiterfuhr. Er gab seinem Kraftfahrer L den Auftrag, S aufzufordern, die für ihn bestimmten 500 Steine mit seinem Gespann am Backhaus abzuholen. Die Umladung der Ziegelsteine auf den Ackerwagen des S erwies sich jedoch infolge der Straßenenge als unmöglich. Deshalb kamen L und S überein, den Anhänger zur Baustelle S zu schieben. Bei diesem Vorhaben wurde S von dem Anhänger an eine Wand gedrückt; sein linkes Bein wurde so schwer verletzt, daß es amputiert werden mußte.

Die Klägerin, die von dem Verletzten um Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung angegangen wurde, vertrat die Auffassung, nicht sie, sondern die Beklagte sei entschädigungspflichtig, weil S im Zeitpunkt des Unfalls vorübergehend in den Betrieb des Fuhrunternehmers S eingetreten gewesen sei. Da die beiden Versicherungsträger sich über die Zuständigkeit zur Entschädigung nicht einigen konnten, rief die Klägerin die Berufsgenossenschaftliche Schiedsstelle an. Diese erklärte am 2. Juli 1951 die Klägerin für entschädigungspflichtig. In der Entscheidung ist u.a. ausgeführt: S sei bei Ausübung der unfallbringenden Tätigkeit sowohl in seinem landwirtschaftlichen Unternehmen als auch im Unternehmen des Fuhrunternehmers S tätig und deshalb sowohl nach § 537 Nr. 8 als auch nach § 537 Nr. 10 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Nach anerkannten Grundsätzen sei für die Entschädigungspflicht in solchen Fällen in der Regel das Versicherungsverhältnis entscheidend, das sich aus dem eigenen Unternehmen ergebe. Besondere Gründe, die eine Ausnahme rechtfertigen könnten, lägen hier nicht vor.

Dementsprechend gewährte die Klägerin dem Verletzten die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung, vor allem eine Dauerrente von zwei Dritteln der Vollrente.

Mit Schreiben vom 14. Oktober 1953 hat die Klägerin die Beklagte unter Berufung auf § 1739 RVO, ihr die Hälfte der Entschädigungsleistungen für Vergangenheit und Zukunft zu erstatten; die Beklagte erklärte sich nur zu einer Beteiligung in Höhe von 25 v.H. bereit. Nachdem die Klägerin erneut eine Beteiligung zur Hälfte gefordert hatte, teilte ihr die Beklagte durch Schreiben vom 4. Juni 1954 mit, sie sehe sich zu einem weiteren Entgegenkommen nicht in der Lage und stelle anheim, Klage zu erheben.

Am 20. Juli 1954 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, sich an den Kosten des Unfalls vom 25. Mai 1949 zur Hälfte zu beteiligen. Sie hat ausgeführt, es sei billig, die Beklagte ebenso hoch wie den Versicherungsträger des Stammunternehmens zu belasten, weil S vertraglich verpflichtet gewesen sei, die Steine bis zur Baustelle S zu transportieren, und weil der Anhänger auf Veranlassung des im Unternehmen S beschäftigten Fahrers L habe geschoben werden sollen.

Das Sozialgericht (SG.) Koblenz hat durch Urteil vom 20. September 1955 die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Bei dem Anspruch der Klägerin auf teilweise Übernahme der Unfallkosten handele es sich um eine "Kann-Leistung", deren Gewährung im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten liege. Die Übernahme von nur 25 v.H. der Lasten durch die Beklagte widerspreche nicht einem pflichtgemäßen Ermessen, da sich die Beklagte insoweit darauf berufen könne, daß die Berufsgenossenschaftliche Schiedsstelle die Auffassung vertreten habe, die Beziehungen des Verletzten zu seinem landwirtschaftlichen Unternehmen hätten im Vordergrund gestanden. Das Gericht könne, wenn es anderer Auffassung sei, nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Beklagten setzen.

Mit der Berufung hat die Klägerin vorgebracht: Das SG. hätte über den Umfang der beiderseitigen Lasten entscheiden müssen. Eine Verteilung je zur Hälfte sei angemessen, zumal da das SG. folgendes übersehen habe: S habe zunächst versucht, hinten am Anhänger zu schieben. Weil das aber nicht gegangen sei, habe L ihn aufgefordert, zu ihm an die Gabel des Anhängers zu kommen und dort zu helfen. Im Augenblick des dann eingetretenen Unfalls habe S also im ausdrücklichen Auftrag des Kraftfahrers L als Vertreter des S geholfen und sei dadurch in dessen Unternehmen eingetreten.

Das Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 12. April 1957 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Da die unfallbringende Beschäftigung für mehrere, bei verschiedenen Versicherungsträgern versicherte Betriebe stattgefunden habe, könnten die beteiligten Versicherungsträger nach § 1739 RVO die Entschädigungslast unter sich verteilen. Es bestehe jedoch kein Rechtsanspruch auf die Beteiligung des zweiten Versicherungsträgers, vielmehr müsse dieser seine Beteiligung nach pflichtgemäßem Ermessen erklären. Sei aber ein Versicherungsträger ermächtigt, nach seinem Ermessen zu handeln, so sei nach § 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) der erlassene Verwaltungsakt nur dann rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei. Das Gericht könne - anders als das Reichsversicherungsamt (RVA.) nach dem am 1. Januar 1954 außer Kraft getretenen § 1740 RVO - nicht selbst Ermessensentscheidungen treffen. Die Entscheidung könne daher nur auf Abweisung der Klage oder auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts lauten. Die Entscheidung der Beklagten, daß sie sich nur zu 25 v.H. an der Entschädigungslast beteiligen könne, entspreche einer pflichtgemäßen Ermessensprüfung, denn die Tätigkeit des Verletzten sei überwiegend seinem eigenen Betrieb zuzurechnen; demgegenüber sei nicht von entscheidender Bedeutung, daß der Verletzte - wie die Klägerin behauptet - im Augenblick des Unfalls auf ausdrückliche Weisung des Kraftfahrers L tätig geworden sei. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 1. August 1957 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 27. August 1957 Revision eingelegt und diese am 19. September 1957 begründet. Sie führt u.a. aus: § 1739 RVO müsse im Zusammenhang mit dem früheren § 1740 RVO gesehen werden. Aus den beiden Vorschriften habe sich ein Rechtsanspruch des leistenden Versicherungsträgers auf Lastenbeteiligung ergeben. Demgemäß habe das RVA. nach seinem Ermessen die Entschädigungslast verteilen können. Durch die Aufhebung des § 1740 RVO sei die Rechtslage nicht geändert, sondern lediglich die Entschädigungsbefugnis auf die allein noch mit richterlichen Aufgaben betrauten Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verlagert worden; an die Stelle der Anrufung des RVA. sei die Klage nach §§ 51 ff. SGG getreten, ohne daß damit dem um Lastenbeteiligung ersuchenden Versicherungsträger der Rechtsanspruch entzogen worden sei. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten über den Umfang der Lastenverteilung nach ihrer freien richterlichen Überzeugung zu entscheiden, ohne an die Feststellung eines Ermessensmißbrauchs des angegangenen Versicherungsträgers gebunden zu sein.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, die Hälfte der Aufwendungen für den Unfall des Landwirts S vom 25. Mai 1949 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Sie tritt den Urteilsgründen des Berufungsgerichts bei.

II

Die Revision ist kraft Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Gegen die Zulässigkeit des Rechtswegs vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bestehen keine Bedenken. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 51 Abs. 1 SGG) liegt auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung nicht nur vor, wenn ein Versicherter Entschädigung wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit beansprucht (BSG. 1 S. 174), sondern auch bei Streit über die Verteilung der Entschädigungslast unter mehreren Versicherungsträgern; denn das Rechtsverhältnis, aus dem der Klageanspruch abgeleitet wird, ist seinem Wesen nach dem öffentlichen Recht der Sozialversicherung zuzurechnen, die Pflichten der beteiligten Versicherungsträger liegen vollständig auf diesem Gebiet (vgl. auch BSG. 3 S. 180 (183)). Dementsprechend hat das Bundessozialgericht (BSG.) auch Ersatzansprüche eines Fürsorgeträgers nach § 1531 RVO und Ersatzansprüche einer Landesversicherungsanstalt (LVA.) gegen einen Fürsorgeträger auf Rückzahlung zuviel gezahlter Erstattungsbeträge als Gegenstände öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten im Sinne des § 51 Abs. 1 SGG angesehen (BSG. 3 S. 57).

Das LSG. hat - ebenso wie das SG. - in dem Schreiben der Beklagten an die Klägerin vom 4. Juni 1954, mit dem die Beklagte es abgelehnt hat, die Entschädigungslast zur Hälfte zu übernehmen, einen Verwaltungsakt und demgemäß in der Klage eine Aufhebungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG gesehen. Diese Betrachtungsweise beruht auf einer Verkennung des Wesens des Verwaltungsakts. Ein Verwaltungsakt ist, wie in der Rechtslehre und Rechtsprechung anerkannt ist, eine Verfügung, Anordnung, Entscheidung oder sonstige Maßnahme, die von einer Verwaltungsbehörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts getroffen wird; dabei muß es sich um eine einseitige Tätigkeit hoheitlicher Art handeln, von der unmittelbare Rechtswirkungen ausgehen (vgl. BSG. 10 S. 218 (221) mit weiteren Nachweisen, insbesondere Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Aufl., Erster Band: Allg. Teil, S. 180 ff.). An diesen Merkmalen fehlt es im vorliegenden Falle. Die Beklagte hat, indem sie die Forderung der Klägerin auf Verteilung der Entschädigungslast im Verhältnis 50 : 50 abgelehnt hat, nicht gegenüber einem untergeordneten Rechtsträger eine Entscheidung mit Verbindlichkeitsanspruch treffen wollen (vgl. Wolff, Verwaltungsrecht, 2. Aufl., S. 222). Vielmehr sollte der Schriftwechsel, der zwischen den Beteiligten als gleichgeordneten Rechtsträgern stattgefunden hat, nach dem Willen der Klägerin zu einer Einigung über die Verteilung der Entschädigungslast, also zum Abschluß eines öffentlich-rechtlichen Vertrages führen, wobei sich die Dispositionsermächtigung aus § 1739 RVO ergab (vgl. zum öffentlich-rechtlichen Vertrag: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I S. 232 e; Rupp, DVBl. 1959 S. 81 (85)). Weder wäre der Vertrag, wenn er zustande gekommen wäre, ein Verwaltungsakt gewesen noch gilt dies für die Ablehnung des Vertragsangebotes durch die Beklagte; die Ablehnung stellte sich als eine rechtsgeschäftliche Erklärung dar. Da die beteiligten Versicherungsträger sich somit zwar in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger, aber als gleichgeordnete Rechtsträger gegenübergetreten sind, war für den Erlaß eines Verwaltungsakts kein Raum (vgl. BSG. 5 S. 140 (143); Brackmann a.a.O. Bd. I S. 240 d). Infolgedessen hat das LSG. § 54 Abs. 2 SGG, der sich auf die Nachprüfung von Verwaltungsakten bezieht, die auf Ermessensentscheidungen beruhen, zu Unrecht angewendet.

Nach den vorangegangenen Ausführungen ist der Streit zwischen den Beteiligten als gleichgeordneten Rechtsträgern des öffentlichen Rechts den Parteistreitigkeiten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vergleichbar (§ 85 Abs. 1 VGG; § 22 Abs. 1 Halbsatz 2 VO 165). Für solche Streitigkeiten kommen in der Sozialgerichtsbarkeit als Klagearten die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und - soweit die Verteilung der Entschädigungslast für die Vergangenheit geregelt werden soll - die Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG in Betracht. Beide Klagen können nur Erfolg haben, wenn der vom Verletzten in Anspruch genommene und für dessen Entschädigung zuständige Versicherungsträger gegen den oder die im Sinne des § 1739 RVO außer ihm beteiligten Versicherungsträger einen Rechtsanspruch auf Mitbeteiligung an der Entschädigungslast hat. § 1739 RVO besagt allerdings seinem Wortlaut nach nur, daß die in Betracht kommenden Versicherungsträger, wenn eine unfallbringende Beschäftigung für mehrere Betriebe oder Tätigkeiten stattgefunden hat, die Entschädigungslast unter sich verteilen können. Wollte man darin jedoch lediglich eine Ermächtigung des vom Verletzten nicht in Anspruch genommenen Versicherungsträgers sehen, seine - zweckgebundenen - Mittel zur teilweisen Entlastung des zur Entschädigung verpflichteten Versicherungsträgers zur Verfügung zu stellen, so würde man der Bedeutung der Vorschrift nicht gerecht werden. Es ist davon auszugehen, daß, wenn Versicherungsschutz durch verschiedene Versicherungsträger in Betracht kommt, wenn also z.B. - wie im vorliegenden Falle - die Beschäftigung, bei der sich ein Unfall ereignet hat, für mehrere Betriebe oder Tätigkeiten stattgefunden hat, die bei verschiedenen Versicherungsträgern versichert sind, dem Verletzten gegenüber immer nur ein einziger Versicherungsträger zur Leistung verpflichtet ist. Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 28. Mai 1957 (BSG. 5 S. 168 (175)) in Übereinstimmung mit der a.a.O. angeführten Rechtsprechung des RVA. entschieden und insbesondere mit der Koppelung der Zuständigkeit zur Entschädigung und der Zuständigkeit zum Feststellungsverfahren begründet. An dieser Auffassung hält der Senat trotz der von Haueisen (JZ. 1958 S. 129 (130)) geäußerten Bedenken fest. Dem notwendigen Ausgleich dafür, daß von mehreren in Betracht kommenden Versicherungsträgern nur einer dem Verletzten leistungspflichtig ist, dient die Vorschrift des § 1739 RVO über die Verteilung der Entschädigungslast. Dasselbe galt bereits für den Vorläufer dieser Vorschrift, § 85 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes (GUVG) vom 30. Juni 1900; als dessen Veranlassung und Aufgabe ist in den Motiven bezeichnet, Vorkehrungsmaßnahmen dagegen zu treffen, daß "eine Berufsgenossenschaft über Gebühr belastet wird" (RVA., AN. 1902 S. 469 (470)). Dieses Ziel wäre nicht erreichbar, wenn es im Belieben des mitbeteiligten Versicherungsträgers stände, jede Beteiligung an der Entschädigungslast des vom Verletzten in Anspruch genommenen Versicherungsträgers abzulehnen und es für diesen keine Möglichkeit gäbe, eine gerechtfertigte Verteilung der Last gegen den Willen des von ihm um Beteiligung ersuchten Versicherungsträgers herbeizuführen. Deshalb war in § 1740 RVO für den Fall, daß die Versicherungsträger sich nicht einigten, die Regelung getroffen, daß das RVA. (Spruchsenat) - an dessen Stelle waren nach Art. 42 Abs. 1 Nr. 4 des Dritten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20. Dezember 1928 (RGBl. I S. 405) berufsgenossenschaftliche Schiedsstellen getreten - auf Antrag die Entschädigungslast verteilen konnte. Nach der Auffassung des Senats bedeutete diese Vorschrift, daß das RVA. in der Verteilung der Entschädigungslast nicht frei war, daß es vielmehr eine Verteilung vornehmen mußte, wenn es unbillig gewesen wäre, den vom Verletzten in Anspruch genommenen Versicherungsträger mit der ganzen Entschädigung endgültig zu belasten. In seiner Rechtsprechung zu § 85 GUVG hat das RVA. allerdings betont, daß es zur Vornahme der Verteilung nur berechtigt, nicht aber verpflichtet sei (z.B. AN. 1905 S. 214 Nr. 2081; so auch Rundschreiben an die Berufsgenossenschaftsvorstände, betreffend die Feststellung der Entschädigungen vom 15. November 1904, § 32 - AN. 1904 S. 643 (657)). Die hierzu ergangenen Entscheidungen lassen jedoch erkennen, daß das RVA. zwar bei einer geringfügigen Mitbeteiligung eines anderen Versicherungsträgers keine Verpflichtung zur anteilmäßigen Übernahme der Entschädigungslast annahm, daß es aber, wenn die alleinige Belastung des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers offensichtlich unbillig gewesen wäre, diesem nicht das Recht auf teilweise Abwälzung der Entschädigungslast absprechen wollte. So gesehen enthielten §§ 1739,1740 RVO mehr als eine bloße Zuständigkeitsregelung für das Verteilungsverfahren; sie berührten auch die materiellen Rechtsbeziehungen zwischen den beteiligten Versicherungsträgern. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß die angeführten Vorschriften ihren Platz in dem das Verfahren betreffenden 6. Buch der RVO gefunden haben. Zwar sind die materiellen Rechtsbeziehungen zwischen Versicherten und den Trägern der Unfallversicherung ausschließlich im 3. Buch der RVO geregelt, die Vorschriften über die Verteilung der Entschädigungslast sind jedoch hinsichtlich der Rechtsbeziehungen der Versicherungsträger untereinander trotz ihrer Anordnung im 6. Buch nicht nur verfahrensrechtlicher, sondern auch materiell-rechtlicher Natur (vgl. RVA. AN. 1902 Nr. 1938 S. 469 (471)).

Nach den vorangegangenen Ausführungen hatte § 1739, im Zusammenhang mit § 1740 RVO gelesen, die Bedeutung, daß die beteiligten Versicherungsträger unter den angeführten Voraussetzungen und wenn es der Billigkeit entsprach, nicht nur das Recht hatten, die Entschädigungslast unter sich zu verteilen, sondern daß der vom Verletzten in Anspruch genommene Versicherungsträger auch einen Rechtsanspruch auf eine solche Verteilung hatte; das Maß der Verteilung hatte das RVA. im Spruchverfahren - später die Berufsgenossenschaftliche Schiedsstelle - zu bestimmen. An diesem Rechtszustand hat sich dadurch, daß § 1740 RVO durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG mit Wirkung vom 1. Januar 1954 aufgehoben worden ist, nach der Auffassung des Senats nichts geändert. An die Stelle des Spruchverfahrens ist das im SGG geregelte Verfahren getreten (§ 213 Abs. 1 SGG). Deshalb konnte und mußte § 1740 RVO in die Vorschriften eingereiht werden, die, weil sie einen im SGG geregelten Gegenstand betrafen (§ 224 Abs. 3 SGG), aufzuheben waren. Nunmehr haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die Funktion zu übernehmen, die § 1740 RVO dem RVA. übertragen hatte; sie haben die Entschädigungslast nach Billigkeit zu verteilen (so im Ergebnis auch Krebs, BG. 1959 S. 155). Welche Gesichtspunkte im einzelnen hierbei zu beachten sind, bedurfte aus Anlaß der Entscheidung über die vorliegende Revision keiner näheren Ausführungen. Als Anhaltspunkte können die Erwägungen dienen, die für die Berufsgenossenschaftliche Schiedsstelle bei der Bestimmung des zuständigen Versicherungsträgers maßgebend gewesen sind.

Vereinzelt ist in der Literatur und auch in der Rechtsprechung (v. Schuch, BG. 1954 S. 319; SG. Bremen, Urteil vom 15.2.1957 - SU 194/56) der Standpunkt vertreten worden, beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 1739 RVO sei der Ausgleichsanspruch des von dem Verletzten in Anspruch genommenen Versicherungsträgers gegen einen mitbeteiligten Versicherungsträger aus den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über den Ausgleich unter Gesamtschuldnern (§§ 421, 426 BGB) herzuleiten. Diesen Weg hält der Senat nicht für gangbar, weil - wie bereits oben im Anschluß an BSG. 5 S. 169 (175) ausgeführt wurde - dem Verletzten gegenüber nur ein Versicherungsträger zur Entschädigung verpflichtet und deshalb eine Gesamtschuldnerschaft im Sinne des § 421 BGB unter den beteiligten Versicherungsträgern begrifflich ausgeschlossen ist. Abgesehen hiervon würde die entsprechende Anwendung des § 426 BGB zu dem sicherlich in vielen Fällen unerwünschten Ergebnis führen, daß die Entschädigungslast nur zu gleichen Anteilen, nicht aber in einem anderen Verhältnis verteilt werden könnte.

Hiernach ist die Revision begründet. Da die Verteilung der Entschädigungslast außer einer rechtlichen Würdigung die Feststellung von Tatsachen voraussetzt, konnte das BSG. in der Sache nicht selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

BSGE, 65

NJW 1960, 1687

MDR 1960, 709

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