Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Rente auf Zeit (RVO § 1276 Abs 1) fällt der Versicherungsfall mit dem Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusammen.
2. Für die Zeit des Bezugs einer Rente auf Zeit (RVO § 1276 Abs 1) ist die Entrichtung von 9 Monatsbeiträgen jährlich, um sich den Anspruch auf die Vergleichsberechnung aus ArVNG Art 2 § 42 zu erhalten, nicht erforderlich.
Leitsatz (redaktionell)
Mit 1958 entwertete Beitragsmarken können für 1959 angerechnet werden, wenn der mutmaßliche Wille des Versicherten auf Anwartschaftserhaltung zwecks Vergleichsberechnung gerichtet ist.
Normenkette
RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Februar 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei einer "Rente auf Zeit" der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit bereits mit dem zur Berufsunfähigkeit führenden Krankheitsgeschehen oder erst mit dem Beginn der Rentenzahlung nach § 1276 der Reichsversicherungsordnung (RVO), also nach Ablauf von 26 Wochen, eintritt.
Die Klägerin war von 1928 bis 1942 in der Rentenversicherung der Arbeiter pflicht- und von 1949 an freiwillig versichert. Im Juli 1957 beantragte sie Rente wegen Berufsunfähigkeit. Vom 19. Juni bis 17. Juli 1958 gewährte die Beklagte der Klägerin Heilbehandlung, außerdem Übergangsgeld für die Zeit vom 28. Januar bis 18. Juni 1958. Durch Bescheid vom 2. Oktober 1958 bewilligte sie Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 i. V. m. § 1276 RVO für die Zeit vom 17. Juli bis 31. Dezember 1958 in Höhe von monatlich 21,30 DM. Sie führte dazu aus, die Rente könne erst vom Beginn der 27. Woche nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (Juli 1957) gewährt und die "Vergleichsberechnung" nach Art. 2 § 42 ArVNG nicht durchgeführt werden, weil der Eintritt des Versicherungsfalls im Januar 1958 liege und für 1957 keine neun Monatsbeiträge entrichtet seien.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, ihr fortlaufend Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren und wegen des Eintritts des Versicherungsfalles vor Januar 1958, nämlich im Juli 1957, die Vergleichsberechnung durchzuführen. Das Sozialgericht (SG) hat am 23. Februar 1960 die Beklagte verurteilt, die Vergleichsberechnung vorzunehmen und der Klägerin die sich danach ergebende günstigere Rente zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Im März 1960 hat die Klägerin bei der Beklagten ihren Antrag auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit erneuert. Zuvor hatte sie in der am 11. Dezember 1958 ausgestellten Versicherungskarte Nr. 11 je neun Monatsbeitragsmarken mit dem Aufdruck "58" für die Jahre 1957 und 1958 entwertet. Die Beklagte hat daraufhin der Klägerin mit Bescheid vom 15. Dezember 1960 Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. März 1960 an in Höhe von monatlich 24,90 DM bewilligt, Erwerbsunfähigkeit verneint und die Durchführung der Vergleichsberechnung wiederum abgelehnt, weil seit dem 1. Januar 1957 nicht jährlich mindestens neun Monatsbeiträge nachgewiesen seien.
Auf die Berufung der Klägerin hin hat das Landessozialgericht (LSG) den Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 1960 dahin geändert, daß die Beklagte der Klägerin vom 1. März 1960 an die sich aus der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG ergebende höhere. Rente zu gewähren habe; im übrigen hat es die Berufung der Klägerin und die Anschlußberufung der Beklagten, mit der diese eine Ablehnung der Vergleichsberechnung erstrebte, zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Berufung der Klägerin sei insoweit unbegründet, als sie Rente wegen Berufsunfähigkeit über Dezember 1958 hinaus und wegen Erwerbsunfähigkeit an Stelle von Berufsunfähigkeit erstrebe, denn nach dem Beweisergebnis sei die Klägerin noch nicht erwerbsunfähig und in der Zeit von Januar 1959 bis Februar 1960 auch nicht berufsunfähig gewesen. Dagegen sei das Begehren der Klägerin auf die Durchführung der sog. Vergleichsberechnung begründet, und zwar sowohl bezüglich der bis Dezember 1958 als auch bezüglich der von März 1960 an gewährten Rente. Entgegen der Ansicht der Beklagten sei bei der Klägerin der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit erstmals im Juli 1957 eingetreten und nicht erst 26 Wochen später, so daß zur Sicherstellung der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG die Verwendung von mindestens neun Monatsbeiträgen für das Jahr 1957 nicht erforderlich sei. Die Klägerin habe Anspruch auf die sich aus der Vergleichsberechnung ergebende höhere Rente auch für die erneut von März 1960 an gezahlte Rente wegen Berufsunfähigkeit. Von Juli 1957 bis Ende 1958 sei die Klägerin berufsunfähig gewesen, im März 1960 sei wiederum Berufsunfähigkeit eingetreten. Für 1959, das Jahr, in dem die Klägerin berufsfähig gewesen sei, fehlten zwar neun Monatsbeiträge, doch sei es für zulässig zu erachten, von den im Dezember 1958 entwerteten Beiträgen mit dem Aufdruck "58" neun zur Sicherstellung der Vergleichsberechnung auf das Jahr 1959 zu verschieben und für dieses Jahr anzurechnen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen und auf die Anschlußberufung hin das Urteil des SG, soweit die Beklagte zur Durchführung der Vergleichsberechnung verpflichtet worden sei, aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe die §§ 1276, 1233 Abs. 2, 1255 Abs. 8 RVO und Art. 2 § 42 ArVNG verletzt. Entgegen der Ansicht des LSG falle bei einer "Rente auf Zeit" der Versicherungsfall nicht mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zusammen, sondern trete erst nach Ablauf der 26. Woche ein. Das LSG habe auch zu Unrecht die während der Berufsunfähigkeit im Dezember 1958 für dieses Jahr entrichteten neun Monatsbeiträge auf das Jahr 1959 angerechnet. Die nachträgliche Umdeutung von Beiträgen in solche, die für die Zukunft gelten sollen, sei nur zulässig, wenn ein erkennbarer, ganz bestimmt darauf gerichteter Wille des Versicherten vorgelegen habe. Da im vorliegenden Fall die Beiträge für das Jahr 1958 entwertet worden seien, lasse sich ein Wille der Klägerin, Beiträge für die Zukunft zu entrichten, nicht unterstellen. Die Beiträge könnten deshalb bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG bei dem erneuten Eintritt der Berufsunfähigkeit im März 1960 nicht berücksichtigt werden.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet.
Besteht begründete Aussicht, daß die Berufsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein wird, so ist gemäß § 1276 Abs. 1 RVO "die Rente wegen Berufsunfähigkeit ... vom Beginn der siebenundzwanzigsten Woche an, jedoch nur auf Zeit und längstens für zwei Jahre von der Bewilligung an zu gewähren". Bei der Klägerin ist Berufsunfähigkeit von Juli 1957 bis Dezember 1958 und erneut von März 1960 an festgestellt. Streitig ist zunächst, wann bei der Klägerin erstmals der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eingetreten ist, im Juli 1957 oder im Januar 1958. Der Senat ist in Übereinstimmung mit dem SG und LSG der Auffassung, daß in den Fällen des § 1276 Abs. 1 RVO der Versicherungsfall mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zusammenfällt. Gleicher Ansicht ist auch der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in den Urteilen vom 5. März 1965 - 11/1 RA 239/61 und 11/1 RA 79/62 -. Die gegenteilige Meinung ist noch durch das frühere Recht und die damalige Rechtsprechung beeinflußt. Sie übersieht die seit dem 1. Januar 1957 eingetretene Änderung der Rechtslage. Vor dem 1. Januar 1957 gab es Versicherungsfälle von Invalidität. Gemäß § 1253 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RVO aF war zwischen der dauernden und der vorübergehenden Invalidität zu unterscheiden. Eine ähnliche Unterscheidung macht das neue Recht nicht. Zwar gibt das neue Recht auch keine Definition des Versicherungsfalles. Anerkanntermaßen ist aber Versicherungsfall für die Rente wegen Berufsunfähigkeit die Verwirklichung des Tatbestands der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 RVO). Gleiches gilt für den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Abs. 2 RVO). Die seit dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften erwähnen keinen besonderen Versicherungsfall einer "vorübergehenden" Berufs (Erwerbs-) unfähigkeit . Das läßt den Schluß zu, daß das neue Recht nur noch einen einheitlichen Versicherungsfall der Berufs(Erwerbs-) unfähigkeit kennt, der eintritt, sobald die Voraussetzungen des § 1246 Abs. 2 (§ 1247 Abs. 2) RVO erfüllt sind. Nach § 1246 Abs. 3 (§ 1247 Abs. 3) RVO muß zu dieser Zeit die Wartezeit erfüllt sein. In diesem Zusammenhang gibt es keine Sondervorschrift dahin, daß in den Fällen, in denen die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit voraussichtlich behebbar ist, die Wartezeit erst 26 Wochen später erfüllt sein brauche. Auch bei voraussichtlich nur begrenzte Zeit bestehender Berufsunfähigkeit hängt die Gewährung der Rente davon ab, daß die Wartezeit vor dem Eintritt der Berufsunfähigkeit erfüllt ist.
Hieran wird auch nichts durch § 1276 Abs. 1 RVO geändert. Diese Vorschrift fügt den allgemeinen Vorschriften über die Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO) insoweit nichts Neues hinzu; sie enthält keine generellen Leistungsvoraussetzungen. § 1276 RVO ist eine Sondervorschrift, die den Beginn, den Wegfall und die Umwandlung der Rente betrifft. Daß es sich bei den Renten auf Zeit um keine Renten handelt, denen ein besonderer Versicherungsfall zugrunde liegt, ergibt sich aus der systematischen Stellung und auch aus dem Wortlaut des § 1276 RVO: "die Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit" ist die Rente, deren Voraussetzungen in den §§ 1246 und 1247 RVO geregelt sind. Diese Auslegung bestätigt auch die Regelung in § 1290 Abs. 1 RVO: "die Rente ist, vorbehaltlich der Bestimmungen des § 1276 Abs. 1 RVO, vom Beginn des Monats an zu gewähren, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind". Diese allgemeine Vorschrift über den Beginn von Renten nimmt § 1276 RVO ausdrücklich aus; der Rentenbeginn beim Vorliegen einer in absehbarer Zeit behebbaren Berufsunfähigkeit soll sich nicht nach § 1290 RVO richten, sondern nach § 1276 RVO. Über den Eintritt des Versicherungsfalls ist nichts bestimmt. Es bleibt deshalb dabei, daß der Versicherungsfall mit dem Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusammenfällt. Für die Klägerin liegt also der erste Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit im Juli 1957, der zweite im März 1960.
Dem LSG ist darin beizutreten, als es der Klägerin einen Anspruch auf die Vornahme der Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 42 ArVNG für die bis zum 31. Dezember 1958 und für die erneut von März 1960 an gezahlte Rente wegen Berufsunfähigkeit zuerkannt hat. Die Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG sind für beide Renten erfüllt. Der Versicherungsfall ist in beiden Fällen in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1961, nämlich im Juli 1957 bzw. März 1960 eingetreten. Die Anwartschaft aus früheren Beiträgen war zum 31. Dezember 1956 erhalten; beim Eintritt der Versicherungsfälle war die Wartezeit erfüllt. Die Rente alten ist auch höher als die Rente neuen Rechts. Es kommt daher entscheidend darauf an, ob auch das weitere Erfordernis des Art. 2 § 42 ArVNG erfüllt ist, wonach für die Zeit vom 1 Januar 1957 an für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalls für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet sein müssen. Für den 1957 eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit bedurfte es keiner solchen Beitragsleistung, weil sie nur - von 1957 an - für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles gefordert wird. Für den Versicherungsfall des Jahres 1960 ist zu beachten, daß die in Art. 2 § 42 ArVNG geforderte jährliche Beitragsleistung Reste des früheren Anwartschaftsrechts enthält. Daher sind, wie der Senat schon mehrfach entschieden hat, hinsichtlich dieser Beiträge auch Grundsätze des früheren Anwartschaftsrechts anzuwenden. Hieraus folgt, daß die Klägerin für die Jahre 1957 und 1958 keine Beiträge zu leisten brauchte, weil sie damals berufsunfähig war und überdies Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen hat (§ 1264 RVO aF). Die Rechtsprechung zum früheren Anwartschaftsrecht ließ weiter zu, daß freiwillige Beiträge unter Umständen auch für die Zukunft verwendet werden konnten. Für welche Zeiträume Beiträge im Rahmen der Weiterversicherung als entrichtet gelten sollen, dafür sollte - in Ermangelung einer eindeutigen Willenserklärung des Versicherten - der den Umständen zu entnehmende mutmaßliche Wille zur Zeit der Beitragsentrichtung maßgebend sein. Dieser Grundsatz hat sinngemäß auch bei Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG zu gelten (BSG in SozR RVO § 1264 Aa 3 Nr. 5 und Aa 4 Nr. 6 i. V. m. der dort zitierten Rechtsprechung des RVA).
Das LSG hat als mutmaßlichen Willen der "um ihre ordnungsgemäße Versicherung bemühten Klägerin" angenommen, sie habe durch die Entrichtung von je neun Monatsbeiträgen mit dem Aufdruck "58" alles tun wollen, um beim erneuten Eintritt eines Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit die höchstmögliche Rente zu erhalten. Deshalb sei ihr die Anrechnung von neun Monatsbeiträgen auf das Jahr 1959 nicht zu versagen. Diesem Ergebnis tritt der Senat bei. Die Klägerin, die sich im Dezember 1958 einer völlig ungeklärten Rechtslage gegenübersah, wollte durch die Entrichtung von Beiträgen auf jeden Fall erreichen, daß die "Anwartschaft" für künftige Versicherungsfälle - einschließlich des Versicherungsfalles der nicht mehr behebbaren Berufsunfähigkeit - erhalten blieb. Die Beiträge sollten, falls erforderlich, auch für die Anwartschaftserhaltung im sich unmittelbar anschließenden Jahr 1959 gelten. Das war auch zulässig, weil die Klägerin das ganze Jahr 1959 über berufsfähig war, Berufsunfähigkeit der Beitragsentrichtung also nicht entgegenstand.
Das LSG hat deshalb richtig entschieden. Die Revision der Beklagten muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen