Leitsatz (amtlich)

1. Die Bestimmungen des RVA über die Unterstützungspflicht der Krankenkassen und Unternehmer gegenüber den Trägern der Unfallversicherung und über Ersatzleistungen zwischen Krankenkassen, Ersatzkassen und Trägern der Unfallversicherung ("Bestimmungen") vom 1936-06-19 (AN 1936, 195) sind Bundesrecht geworden.

2. Eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung kommt im durch Mitwirkung der Krankenkasse nur dann zustande, wenn die Krankenkasse (oder der von ihr dazu angehaltene Kassenarzt) den Verletzten im Einzelfalle ausdrücklich im Auftrag der Berufsgenossenschaft dem Facharzt oder einer der nach § 6 Abs 2 der "Bestimmungen" bezeichneten Heilanstalten überwiesen hat. Dies gilt auch dann, wenn der Versicherte wegen Transportunfähigkeit keiner solchen Heilanstalt zugeführt werden konnte.

 

Normenkette

RVO § 559f Fassung: 1925-07-14, § 559g Fassung: 1925-07-14; GG Art. 74, 123, 125; RVABest 1936 §§ 6, 6a

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beigeladenen werden das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 10. Oktober 1956 und die Vorentscheidung des Versicherungsamts Saulgau vom 22. Dezember 1953 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 64,65 DM (i.W. Vierundsechzig 65/100) zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) versicherte Kläger erlitt bei einem Arbeitsunfall am 5. August 1952 einen Wirbelkompressionsbruch und wurde von seinem Hausarzt in das Kreiskrankenhaus S... eingewiesen, das zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung nicht zugelassen ist. Der leitende Arzt des Kreiskrankenhauses, der Durchgangsarzt i.S. des § 5 der Bestimmungen des Reichsversicherungsamts über die Unterstützungspflicht der Krankenkassen und Unternehmer gegenüber den Trägern der Unfallversicherung und über Ersatzleistungen zwischen Krankenkassen, Ersatzkassen, und Trägern der Unfallversicherung vom 19. Juni 1936 (-"Bestimmungen"- AN 1936, 195) ist, veranlaßte stationäre kassenärztliche Behandlung im Kreiskrankenhaus S..., die in der Zeit vom 7. August bis zum 12. August 1952 durchgeführt wurde.

Die beklagte AOK lehnte die Übernahme der Unterbringungskosten und der Transportkosten für die Heimreise des Klägers in Höhe von insgesamt 64,65 DM ab, weil die beigeladene Berufsgenossenschaft verpflichtet sei, diese Kosten zu tragen. Der Kläger, der die Unterbringungs- und Transportkosten selbst getragen hat, beantragte daraufhin beim Versicherungsamt S... nach § 1636 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF die Feststellung der Leistungspflicht der Kasse. Durch Vorentscheidung seines Vorsitzenden vom 22. Dezember 1953 stellte das Versicherungsamt fest, daß die beklagte AOK nicht verpflichtet sei, die Krankenhauskosten für die Behandlung des Klägers zu tragen. Die Berufung des Klägers (§§ 1658, 1675 RVO aF) ist nach § 215 Abs. 2 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG) Ulm übergegangen.

Mit Urteil vom 10. Oktober 1956 verurteilte das SG Ulm die nach § 75 Abs. 2 SGG beigeladene Berufsgenossenschaft, dem Kläger Krankenhilfe für die Behandlung im Kreiskrankenhaus S... vom 7. August bis 12. August 1952 zu gewähren. Die Berufung wurde zugelassen. Eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung im Rahmen der §§ 5 c, 6 a der "Bestimmungen" habe zwar nicht vorgelegen, weil die Berufsgenossenschaft weder einen allgemeinen noch einen besonderen Auftrag erteilt habe. Die Verpflichtung der beigeladenen Berufsgenossenschaft zur Übernahme der Kosten ergebe sich aber aus §§ 1, 10 und 10 a der "Bestimmungen", denn in Notfällen könne auch ein zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung nicht zugelassener Arzt in einem nicht zugelassenen Krankenhaus die erste Heilbehandlung übernehmen. In solchen Fällen komme eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung mittelbar zustande. Da die Transportunfähigkeit des Klägers hinreichend nachgewiesen sei und somit ein Notfall vorgelegen habe, sei die beigeladene Berufsgenossenschaft entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers zu verurteilen, die Kosten der Krankenhausbehandlung zu tragen.

Gegen das am 26. Oktober 1956 zugestellte Urteil hat die beigeladene Berufsgenossenschaft am 26. November 1956 mit Einwilligung der übrigen Beteiligten Sprungrevision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die beklagte AOK zu verurteilen, an den Kläger 64,65 DM zu zahlen. Sie stützt die Revision auf eine unrichtige Anwendung der §§ 6 ff der "Bestimmungen". Danach könne eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung nur in einer von den Berufsgenossenschaften nach § 6 Abs. 2 der "Bestimmungen" bezeichneten Heilanstalt durchgeführt werden, wobei es unerheblich sei, ob die rechtzeitige Überweisung des Unfallverletzten in eine solche Heilanstalt mit oder ohne Verschulden der Krankenkasse unterblieben sei.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II

Die nach § 161 SGG zulässige Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 164 SGG), sie ist auch begründet.

Die "Bestimmungen" des Reichsversicherungsamts (RVA), deren Verletzung die Beigeladene rügt, sind auf Grund der §§ 1501, 1513, 1543 a bis 1543 c RVO und des § 1 der Verordnung zur Durchführung der Unfallversicherung vom 14. Juni 1926 (RGBl I 272) ergangen. Sie regeln entsprechend gesetzlicher Ermächtigung die Unterstützungspflicht der Krankenkassen und Unternehmer gegenüber den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung und die Ersatzleistungen zwischen Krankenkassen, Ersatzkassen und Trägern der Unfallversicherung (§§ 1504 bis 1510 RVO) sowie im Falle des § 1543 b RVO. Sie haben mithin den Charakter einer Rechtsverordnung. Da auch die Verkündung der "Bestimmungen" im Reichsarbeitsblatt den zur Zeit ihres Erlasses herrschenden Publikationsgrundsätzen genügte, bestehen gegen ihre Rechtswirksamkeit keine Bedenken (vgl. BSG 6, 47, 51, 204, 207). Als ehemaliges Reichsrecht, das dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zuzurechnen ist und innerhalb mehrerer Besatzungszonen einheitlich gilt, sind sie Bundesrecht und damit revisibles Recht geworden (Art. 74 Nr. 12, 123 Abs. 1, 125 des Grundgesetzes - GG -; § 162 Abs. 2 SGG).

Die Verletzung, die der Kläger erlitten hat, ist eine Krankheit i.S. des § 182 Abs. 1 RVO. Da bei der Art der Verletzung an der medizinischen Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung keine Zweifel bestehen und die übrigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, war die beklagte Krankenkasse grundsätzlich verpflichtet, dem Kläger Krankenhauspflege zu gewähren und die Transportkosten zu übernehmen. Zwar stellt die Verletzung, die der Kläger bei einem Arbeitsunfall erlitten hat, gleichzeitig einen von der beigeladenen Berufsgenossenschaft zu entschädigenden Versicherungsfall dar. Dadurch wird die Leistungspflicht der Beklagten jedoch nicht berührt, denn bei den nach der RVO gegen Krankheit Versicherten, die einen Arbeitsunfall erlitten haben, ist die Krankenkasse vorleistungspflichtig (§§ 557 a, 559 f, 559 g Abs. 1 RVO), es sei denn, die zuständige Berufsgenossenschaft zeigt der Krankenkasse an, daß sie an einem bestimmten Tage mit der berufsgenossenschaftlichen Krankenbehandlung beginnen werde. Erst mit dem Beginn dieses Tages endet grundsätzlich die Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung der Krankenpflege (§ 559 g Abs. 2 RVO). Eine solche Anzeige liegt jedoch in dem hier streitigen Falle nicht vor.

Die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung ist auch nicht auf Grund der in den "Bestimmungen" besonders geregelten Verfahren zustande gekommen. Um sicherzustellen, daß der Verletzte bei einem Arbeitsunfall möglichst sofort von einem Facharzt behandelt und nötigenfalls dem berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren zugeführt wird (§ 1 der "Bestimmungen"), kann der von der Berufsgenossenschaft bezeichnete Durchgangsarzt, den der Verletzte zu Rate zieht, soweit er dazu von der Berufsgenossenschaft ermächtigt ist, sofort die erforderlichen Maßnahmen veranlassen. Wird berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung eingeleitet, so erhält von deren Beginn die Krankenkasse durch die Berufsgenossenschaft oder den Durchgangsarzt unverzüglich Nachricht (§ 5 Abs. 1 und 2 der "Bestimmungen"). Diese Nachricht steht der Anzeige der Berufsgenossenschaft nach § 559 g Abs. 2 RVO gleich. Im vorliegenden Falle war der leitende Arzt des Krankenhauses, in das der Kläger eingewiesen wurde, Durchgangsarzt. Er hat jedoch nach seinem Durchgangsarztbericht vom 8. August 1952 die stationäre kassenärztliche Behandlung im Krankenhaus S... veranlaßt, nicht aber die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung eingeleitet.

Ein berufsgenossenschaftliches Heilverfahren ist auch nicht im Wege des Verletzungsartenverfahrens nach §§ 6 6 a der "Bestimmungen" zustande gekommen. Selbst wenn die beklagte Krankenkasse von dem zuständigen Landesverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften nach § 6 a Abs. 1 der "Bestimmungen" einen allgemeinen Auftrag zur Einleitung der berufsgenossenschaftlichen Krankenbehandlung erhalten hätte - eindeutige Feststellungen hierüber hat das SG nicht getroffen -, könnte der Mitteilung der Beklagten vom 12. August 1952 an die beigeladene Berufsgenossenschaft, der Kläger befinde sich wegen eines Wirbelkompressionsbruchs in stationärer Behandlung im Kreiskrankenhaus Saulgau, nicht die Wirkung einer Anzeige nach § 559 g Abs. 2 RVO beigemessen werden. Nach § 6 a Abs. 2 der "Bestimmungen" kommt die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung durch Mitwirkung der Krankenkasse im Falle des § 6 der "Bestimmungen" nämlich nur dann zustande, wenn die Krankenkasse (oder der von ihr dazu angehaltene Kassenarzt) den Verletzten im Einzelfall ausdrücklich im Auftrag der Berufsgenossenschaft dem Facharzt oder einer der nach § 6 Abs. 2 bezeichneten Heilanstalten zur Behandlung überwiesen hat. Dies ist hier nicht geschehen. Der klare und eindeutige Wortlaut des § 6a Abs. 2 Satz 2 der "Bestimmungen", wonach es für das Zustandekommen der berufsgenossenschaftlichen Krankenbehandlung bedeutungslos ist, ob die Überweisung an den Facharzt oder in eine der bezeichneten Heilanstalten mit oder ohne Verschulden der Krankenkasse unterblieben ist, verbietet eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 6 der "Bestimmungen" auf Fälle, in denen, wie hier, der Versicherte wegen Transportunfähigkeit nicht einer der in der Erklärung der Berufsgenossenschaften bezeichneten Heilanstalten zugeführt werden konnte. Eine ausdehnende Auslegung würde auch im Widerspruch zum Sinn und Zweck dieser Regelung stehen, die nur gewährleisten soll, daß bei bestimmten Verletzungen im Interesse des Versicherten, nicht aber, um die Krankenkasse zu entlasten, die Behandlung von einem Facharzt in besonders ausgewählten Krankenhäusern durchgeführt wird (ebenso Albrecht in SozVers. 1954, 257). Bei dieser Sach- und Rechtslage kann es dahinstehen, ob für die Einleitung des Verletzungsartenverfahrens durch die Krankenkasse überhaupt noch Raum ist, wenn der Durchgangsarzt bereits die kassenärztliche Behandlung eingeleitet hat.

Entgegen der Ansicht des SG ist die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung durch Mitwirkung der Krankenkasse auch nicht "mittelbar" zustande gekommen. Eine solche Regelung ist dem geltenden Recht unbekannt; sie läßt sich auch nicht aus §§ 1, 10, 10 a der "Bestimmungen" herleiten. § 1 der "Bestimmungen" erläutert nur den Sinn und Zweck der Unterstützungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Trägern der Unfallversicherung. Danach soll es den Trägern der Unfallversicherung ermöglicht werden, die - gegenüber der kassenärztlichen Krankenbehandlung weitergehende - berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung (vgl. §§ 182 Abs. 2, 558 a RVO) so schleunig einzuleiten, daß schon der erste, meist für den weiteren Verlauf entscheidende ärztliche Eingriff durch den Facharzt (nötigenfalls in der Heilanstalt) erfolgt und nur im Notfall dem Nichtfacharzt die erste Hilfeleistung überlassen bleibt. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß durch die Überweisung des Verletzten in eine von den Berufsgenossenschaften nicht bezeichnete Heilanstalt bereits eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung zustande kommt, durch die die Krankenkasse nach § 559 g Abs. 2 RVO von ihrer Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten befreit wird. Auch aus § 10 a der "Bestimmungen", wonach die §§ 7 bis 10 auch für die Fälle gelten, in denen die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung nicht infolge eines allgemeinen (§§ 5 c, 6 a der "Bestimmungen") oder besonderen (§ 1510 RVO) Auftrages an die Krankenkasse zustande kommt, kann nicht geschlossen werden, daß in Notfällen eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung auch in einer von den Berufsgenossenschaften nicht bezeichneten Heilanstalt stattfinden kann. § 10 a der "Bestimmungen" hat nur die Bedeutung, daß die Krankenkasse den ihr nach §§ 7 bis 10 der "Bestimmungen" obliegenden Verpflichtungen (Mitteilungen über den Stand oder die Dauer des Heilverfahrens, Mitteilung von nachteiligen Zwischenfällen, gegebenenfalls Unterlassung eigener Leistungen, Zahlung wiederkehrender Geldleistungen) auch dann nachzukommen hat, wenn die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung nicht durch die Krankenkasse infolge eines allgemeinen oder besonderen Auftrags zustande gekommen ist, sondern die Berufsgenossenschaft die Krankenbehandlung selbst übernommen hat (§§ 559 i, 559 g Abs. 2 RVO) oder die berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung ohne Mitwirkung der Krankenkasse im Wege der in § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 der "Bestimmungen" genannten Verfahren (Durchgangsarztverfahren, Beratungsarztverfahren, Augen- und Ohrenarztverfahren) zustande gekommen ist.

Da eine berufsgenossenschaftliche Krankenbehandlung nicht stattgefunden hat und die Beklagte somit von ihrer Verpflichtung dem Kläger gegenüber nach § 559 g Abs. 2 RVO nicht befreit worden ist, hat sie ihm die Aufwendungen für die Krankenhauspflege im Kreiskrankenhaus S. in der Zeit vom 7. bis 12. August 1952 sowie die Transportkosten, deren Höhe nicht streitig ist, zu erstatten.

Ersatzansprüche zwischen der beklagten AOK und der beigeladenen Berufsgenossenschaft sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2304734

BSGE, 233

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