Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung. fachärztliche Begutachtung. Beweisantrag. Fortwirkung bei teilweiser Erledigung eines Beweisantrages. Hinweis auf Ende der Sachaufklärung

 

Orientierungssatz

1. Liegen dem Gericht unterschiedliche nichtfachärztliche Beurteilungen über gesundheitliche Beeinträchtigungen vor, verletzt es seine Aufklärungspflicht, wenn es nicht - entgegen eines ausdrücklichen Vorschlags - ein fachärztliches Gutachten einholt.

2. Der in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellte Beweisantrag kann nicht deshalb für erledigt erachtet werden, weil er in der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr ausdrücklich aufrecht erhalten worden ist, sofern nicht den Besonderheiten des Einzelfalls entnommen werden muß, daß die mit dem Beweisantrag bezweckte weitere Klärung nach Auffassung des Antragstellers inzwischen erfolgt ist. Selbst dann muß aber das Gericht, dessen Amtspflicht die von Beweisanträgen unabhängige Sachaufklärung ist, sich darüber Gewißheit verschaffen, ob auch ihm nunmehr der Sachverhalt als hinreichend geklärt erscheint. Trifft das zu, so ist gegenüber den Beteiligten ein Hinweis angebracht, daß das Gericht von sich aus keine weitere Beweiserhebung mehr für geboten erachtet.

 

Normenkette

SGG § 103 S 1, § 106 Abs 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.11.1984; Aktenzeichen L 6 Ar 546/82)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 08.11.1982; Aktenzeichen S 12 Ar 622/81)

 

Tatbestand

Die 1936 geborene und 1967 aus Rumänien in die Bundesrepublik zugezogene Klägerin war vor ihrer Aussiedlung als Spinnereiarbeiterin und danach als Hilfsarbeiterin tätig. Ihren 1981 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach ärztlicher Begutachtung mit der Begründung ab, der Klägerin seien noch leichte Frauenarbeiten im Wechselrhythmus vollschichtig zumutbar.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beiziehung medizinischer Unterlagen über die Klägerin aufgrund eines in der mündlichen Verhandlung erstatteten Gutachtens die Klage aus den gleichen Gründen abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat zunächst einen Befundbericht des Dr. F. beigezogen und sodann den Facharzt für innere Krankheiten Dr. K. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat darauf hingewiesen, daß eine nervenärztliche Untersuchung zur Beurteilung der psychischen Störungen weder von der Beklagten noch vom SG veranlaßt worden sei; die Einholung eines internistischen, eines nervenärztlichen und eines frauenärztlichen Gutachtens sei unbedingt erforderlich. Dies hat der damalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin beantragt. Das LSG hat nunmehr das innerfachärztliche Gutachten des Prof. Dr. H. vom 17. Juli 1984 eingeholt, der leichte Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, unter Vermeidung häufigen Bückens und in gebückter Haltung als der Klägerin vollschichtig zumutbar bezeichnet und auf eine Rentenfixierung hingewiesen hat. Das LSG hat sich dem angeschlossen und die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 16. November 1984 zurückgewiesen.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin, das LSG habe § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt, weil es auf die Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens verzichtet habe, das seelisch bedingte Funktionsstörungen mit eigenem Krankheitswert sowie Arbeits- und Erwerbsfähigkeit ergeben hätte.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides vom 22. September 1981 zu verurteilen, ihr ab 1. Juli 1981 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren;

hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Zutreffend rügt die Revision, das LSG habe die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht und damit § 103 SGG verletzt. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht den Sachverhalt ohne Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten zu erforschen. Die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, erfüllt oder verletzt hat, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) danach zu beurteilen, ob der dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannte Sachverhalt von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder das LSG zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG SozR Nrn 7 und 40 zu § 103 SGG).

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit wesentlich von der ihr verbliebenen ärztlich zu beurteilenden Leistungsfähigkeit abhängt, die dem Gericht die zur Anwendung der §§ 1246 und 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) notwendigen Feststellungen ermöglicht. Das LSG mußte deshalb allen Hinweisen auf Störungen der Leistungsfähigkeit der Klägerin nachgehen oder aber darlegen, aus welchen Gründen es dies nicht für erforderlich oder nicht für möglich hielt.

Wie die Revision zutreffend vorbringt, war dem LSG aus den ihm vorliegenden Gutachten bekannt, daß die Klägerin an einem deutlichen psychasthenischen Syndrom mit reaktiven Verstimmungszuständen litt. Dies hatte schon die Begutachtung im Verwaltungsverfahren ergeben. Auch der Terminsgutachter des SG hatte ein psychovegetatives Syndrom mit Neigung zu reaktiven Verstimmungszuständen bejaht und Dr. F. hatte berichtet, die Klägerin leide an depressiver Verstimmung. Dagegen hatte Prof. Dr. H. ein psychasthenisches Syndrom mit reaktiven Verstimmungszuständen verneint.

Dem LSG lagen mithin unterschiedliche ärztliche Beurteilungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Klägerin auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet vor. Keine dieser Beurteilungen stammte jedoch von einem Facharzt auf diesem Gebiet. Die Beurteilung durch Prof. Dr. H., der das LSG gefolgt ist, war zwar aufgrund stationärer Begutachtung abgegeben, bot aber mangels psychiatrisch-neurologischer Kompetenz dieses Arztes im Vergleich zu den - abweichenden - übrigen ärztlichen Beurteilungen keine größere Gewähr für ihre Richtigkeit. Das LSG mußte deshalb, wie Dr. K. ausdrücklich vorgeschlagen hatte, ein fachärztliches Gutachten zur Frage der Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit der Klägerin durch Gesundheitsstörungen auf psychischem und neurologischem Gebiet einholen. Da nicht auszuschließen ist, daß ein solches Gutachten die Behauptungen der Klägerin bestätigt und sich daraus eine wesentlich andere Beurteilung des ihr noch verbliebenen Leistungsvermögens ergeben hätte, ist die Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht begründet.

Das LSG war der Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens weiter aufzuklären auch nicht etwa deshalb enthoben, weil die Klägerin in der mündlichen Verhandlung den Beweisantrag aus dem Schriftsatz ihres früheren Prozeßbevollmächtigten vom 29. Februar 1984 nicht mehr wiederholt hatte. Zweck der Beweisanträge ist es nämlich, wie das BSG im Beschluß vom 22. Oktober 1975 (SozR 1500 § 160 Nr 12) näher ausgeführt hat, den Sachverhalt - tunlichst bereits vor der mündlichen Verhandlung - so vollständig wie möglich aufzuklären (vgl § 106 Abs 2 SGG). Deshalb kann der in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellte Beweisantrag nicht deshalb für erledigt erachtet werden, weil er in der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr ausdrücklich aufrecht erhalten worden ist, sofern nicht den Besonderheiten des Einzelfalls entnommen werden muß, daß die mit dem Beweisantrag bezweckte weitere Klärung nach Auffassung des Antragstellers inzwischen erfolgt ist. Selbst dann muß aber das Gericht, dessen Amtspflicht die von Beweisanträgen unabhängige Sachaufklärung ist, sich darüber Gewißheit verschaffen, ob auch ihm nunmehr der Sachverhalt als hinreichend geklärt erscheint. Trifft das zu, so ist gegenüber den Beteiligten ein Hinweis angebracht, daß das Gericht von sich aus keine weitere Beweiserhebung mehr für geboten erachtet. Nach alledem hätte das LSG sich im angefochtenen Urteil zumindest dahin äußern müssen, daß und weshalb es angesichts des Gutachtens des Facharztes für innere Krankheiten, Prof. Dr. H., eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung der Klägerin für nicht erforderlich hielt. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Das LSG wird nunmehr den von der Klägerin beantragten Beweis in Gestalt eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu erheben oder aber darzutun haben, daß und aus welchen Gründen diese fachärztliche Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin entbehrlich oder nicht möglich ist. In gleicher Weise wird es sich auch mit der Anregung auseinandersetzen müssen, ein frauenfachärztliches Gutachten einzuholen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657830

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?