Verfahrensgang
SG Augsburg (Urteil vom 22.06.1990) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 22. Juni 1990 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um den Fortbestand einer vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) erteilten Leistungszusage.
Auf einen kieferorthopädischen Behandlungsplan des Zahnarztes Dr. Sch. betreffend den Sohn der Klägerin entschied die Beklagte, daß der Anspruch ab Quartal IV/88 bestehe. Sie übernahm mit Schreiben vom 10. November 1988 an die Klägerin die Kosten der Behandlung in voller Höhe. Am 2. Januar 1989 schrieb die Beklagte der Klägerin, aufgrund der Bestimmungen des am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Gesundheitsreformgesetzes (GRG) sei die Mitteilung vom 10. November 1988 nur bis zum 31. Dezember 1988 gültig; sie könne von den ab 1. Januar 1989 entstehenden Kosten nur 80 % übernehmen. Diesen Bescheid änderte sie am 15. März 1989 dahin, daß er erst ab 1. April 1989 gelte.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Bewilligungsbescheid vom 10. November 1988 habe vor dem Hintergrund des § 48 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) unter dem jederzeitigen Vorbehalt einer Aufhebung bei Änderung der maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse gestanden. Der Bescheid habe sich nicht in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern betreffe eine auf mehrere Jahre angelegte, aus einem Bündel von Einzelleistungen bestehende Maßnahme und sei ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Die Beklagte habe deshalb der neuen Rechtslage nach dem SGB V durch den Erlaß der streitigen Entscheidungen Rechnung tragen können. Die Klägerin könne sich auch nicht auf einen Herstellungsanspruch stützen. Auch wenn die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, im Bescheid vom 10. November 1988 auf zu berücksichtigende Rechtsänderungen hinzuweisen, sei im vorliegenden Fall die Unterlassung eines solchen Hinweises folgenlos geblieben.
Die Klägerin macht mit der Sprungrevision geltend, der Bescheid vom 10. November 1988 habe keine Dauerwirkung gehabt. Weder werde eine sich wiederholende Leistung zugesagt noch dem Begünstigten eine Dispositionsmöglichkeit eingeräumt. Eine einmal begonnene kieferorthopädische Behandlung könne der Patient nicht ohne gesundheitliche Schäden abbrechen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 22. Juni 1990 und die Bescheide der Beklagten vom 2. Januar 1989 und vom 15. März 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1989 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig. Es fehlt nicht an der nach § 161 SGG für die Sprungrevision erforderlichen Zustimmung des Gegners. Die Beklagte hat allerdings wörtlich nur „der Zulassung der Revision … zugestimmt”. Die nach § 161 zu fordernde Zustimmungserklärung muß mit hinreichender Deutlichkeit ergeben, daß nicht nur der Zulassung, sondern auch der Einlegung der Sprungrevision zugestimmt wird. In der Regel ist es ausgeschlossen, eine Erklärung zur Zulassung der Sprungrevision als Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision auszulegen (BSG SozR 1500 § 161 Nr 29; Hennig/Danckwerts/König Komm zum SGG § 161 R 3.3 mwN). Das Bundessozialgericht (BSG) hat aber insoweit offengelassen, ob dies auch gilt, wenn die Erklärung nach der Zulassung der Revision abgegeben wird. Im vorliegenden Fall ist die Auslegung als Zustimmung zur Einlegung der Revision geboten, weil die Erklärung mit Schreiben vom 17. Juli 1990 – nach Verkündung des Urteils mit der Zulassung der Revision – abgegeben und dieses Schreiben an die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin gerichtet ist.
Mit Bescheid vom 2. Januar 1989, geändert durch den Bescheid vom 15. März 1989, hat die Beklagte ihre Leistungszusage aufgehoben. Die Aufhebung ist zu Recht erfolgt.
Nach der am 10. November 1988 geltenden Bestimmung des § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a der Reichsversicherungsordnung (RVO) hatten Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Behandlung als Sachleistung. Die Bestimmung ist durch Art 5 Nr 2 GRG gestrichen worden. Nach der gemäß Art 79 Abs 1 GRG am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Vorschrift des § 29 SGB V erstattet die Krankenkasse Versicherten 80 vH der Kosten der im Rahmen der kassenzahnärztlichen Versorgung durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung in bestimmten medizinisch begründeten Indikationsgruppen. Die Kostenerstattung erhöht sich bei mehreren Kindern unter den Voraussetzungen des § 29 Abs 1 Satz 2 SGB V auf 90 %. Die Krankenkasse erstattet Versicherten den von ihnen getragenen Anteil an den Kosten nach § 29 Abs 1 SGB V, wenn die Behandlung in dem durch den Behandlungsplan bestimmten medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen worden ist. Nach § 29 SGB V steht dem Versicherten keinesfalls eine Leistung entsprechend der Zusage vom 10. November 1988 zu.
Ein Anspruch der Klägerin nach den am 31. Dezember 1988 geltenden Vorschriften ergibt sich nicht aus den Übergangsvorschriften des GRG. Art 60 GRG lautet:
Versicherte, deren zahnärztliche Behandlung zur Versorgung mit Zahnersatz oder Zahnkronen oder deren kieferorthopädische Behandlung vor dem 1. Januar 1989 begonnen hat, haben Anspruch nach den am 31. Dezember 1988 geltenden Rechtsvorschriften, wenn die Krankenkasse vor dem 27. April 1988 über den Anspruch bereits schriftlich entschieden hat.
Im vorliegenden Fall ist die Leistungszusage erst am 10. November 1988 erteilt worden.
Die Aufhebung der Vorschrift des § 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst a RVO hinsichtlich der kieferorthopädischen Behandlung ist nicht verfassungswidrig. Es bedurfte insoweit auch keiner weitergehenden Übergangsregelung als in Art 60 GRG.
Nicht verletzt ist Art 14 Grundgesetz (GG). Voraussetzung des Eigentumsschutzes sozialversicherungsrechtlicher Positionen ist eine vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist; die Rechtsposition genießt die Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient. Im Sozialversicherungsrecht werden vielfach Ansprüche auf Leistungen von ersichtlich nicht existentieller Bedeutung eingeräumt; solche Ansprüche unterliegen nicht der Eigentumsgarantie. Nicht jede sozialversicherungsrechtliche Position ist an Art 14 GG zu messen mit der Folge, daß sich die Grenzen für gesetzliche Eingriffe nur noch aus Art 14 Abs 1 Satz 2 GG herleiten ließen (BVerfG SozR 2200 § 165 Nr 81 = S 125; BVerfG SozR 4100 § 104 Nr 13 = S 12).
Durch das SGB V ist der Anspruch auf kieferorthopädische Behandlung beschränkt worden. Dieser konkrete Anspruch hat aber nicht der Existenzsicherung gedient. Seine Einschränkung berührt die freiheitssichernde Funktion der Eigentumsgarantie nicht wesentlich.
Die neue Regelung durch das GRG hinsichtlich der kieferorthopädischen Behandlung entfaltet durch ihre Einwirkung auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen eine unechte Rückwirkung. Sie ist aber auch insoweit nicht verfassungswidrig. Grundsätzlich ist eine unechte Rückwirkung mit der Verfassung vereinbar. Sie ist verfassungswidrig, wenn das Gesetz in einen Vertrauenstatbestand entwertend eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustands nicht übersteigt (BSG SozR 2200 § 200 Nr 12 mwN). Am 27. April 1988 hatte die Bundesregierung den Entwurf des GRG beschlossen und ihn unter dem 29. April 1988 dem Bundesrat zugeleitet (BR-Drucks 200/88). Das Vertrauen der Versicherten, die nach diesem Zeitpunkt Leistungszusagen erhalten hatten, konnte billigerweise keine Rücksichtnahme beanspruchen im Hinblick auf das Anliegen des Gesetzgebers des GRG, die Krankenkassen zu entlasten und Beitragssenkungen zu ermöglichen. Diesem Anliegen entsprach die Anwendung des neuen Rechts vom 1. Januar 1989 an und die Einbeziehung aller noch nicht abgeschlossenen Leistungen im Rahmen des Art 60 GRG.
Das Vertrauen der Klägerin in den Fortbestand der Leistungszusage verdient auch nicht deshalb den Vorrang, weil ein Abbruch der kieferorthopädischen Behandlung möglicherweise zu gesundheitlichen Schäden führt. Dieser Schaden tritt nur ein, wenn der Versicherte für die nach dem 1. Januar 1989 anfallenden Behandlungen seinen Anteil von 20 % nicht trägt oder tragen kann. In der Regel wird ihm aber die Tragung dieses Anteils zugemutet werden können. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, daß hier ein Härtefall vorgelegen habe. Zu berücksichtigen ist insbesondere auch, daß der Eigenanteil von 20 vH nach Abschluß der Behandlung in dem durch den Behandlungsplan bestimmten medizinisch erforderlichen Umfang erstattet wird. Auf einen Behandlungserfolg kommt es nach dem Gesetzeswortlaut nicht an; es genügt die Durchführung der Behandlung entsprechend dem Behandlungsplan. Der Anspruch besteht auch, wenn die Behandlung nicht abgeschlossen wird, weil dies objektiv unmöglich geworden ist (Zipperer in GKV-K § 29 RdNr 34 unter Hinweis auf die BT-Drucks 11/2237 S 171). Denkbar wäre auch, daß eine Behandlung nicht abgeschlossen werden kann, weil nach gesicherter medizinischer Erkenntnis ein Erfolg nicht eintreten und deswegen der Abbruch der Behandlung vom Zahnarzt veranlaßt wird (Vorrang des Wirtschaftlichkeitsgebotes). Übrig bleiben die Fälle, in denen der Versicherte die Behandlung von sich aus abbricht. Dies konnte früher nur aufgrund einer Satzungsbestimmung Rechtsfolgen haben. Es ist dem Versicherten zuzumuten, daß er bei Abbruch der Behandlung von der Rückzahlung ausgeschlossen wird. Fälle, in denen Versicherte ohne medizinische Indikation die Behandlung abbrechen müssen, werden höchst selten sein. Ein solcher Fall liegt auch bei der Klägerin bzw ihrem Sohn nicht vor.
Die Klägerin kann Leistungen entsprechend der Zusage vom 10. November 1988 auch nicht aufgrund eines Herstellungsanspruchs verlangen. Selbst wenn die Beklagte sie mit der Zusage auf die mögliche Änderung der Rechtslage hätte hinweisen müssen, wäre sie doch nicht deshalb an der Zusage festzuhalten. Nachteilige Folgen, die ihr aus dem Unterlassen eines solchen Hinweises entstanden wären, hat die Klägerin nämlich nicht behauptet.
Mit der Aufhebung des alten Bescheides mit Wirkung vom 1. April 1989 hat die Beklagte demnach nur den materiellen Rechtszustand hergestellt, wie er durch die Regelungen des GRG festgelegt wurde. Ob sie zur formellen Aufhebung schon aufgrund der Übergangsbestimmung des Art 60 GRG oder aber nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X berechtigt war, kann hier dahinstehen, da jedenfalls eine der beiden Bestimmungen als Rechtsgrundlage diente.
Wenn Art 60 GRG nicht zugleich die Ermächtigung zu der streitigen Aufhebung enthalten sollte, dann diente dafür jedenfalls § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Die Aufhebung nach dieser Bestimmung setzt keine Ermessensausübung voraus; bei der Zusage der kieferorthopädischen Behandlung hat es sich, wie sich jedenfalls aus der Formulierung „begonnen hat” in Art 60 GRG ergibt, um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gehandelt.
Die Kostenentscheidung wird auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes gestützt.
Fundstellen