Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, wann iS des VerhKindLeistG Art 12 Abs 2 ein Anspruch auf die Leistung vor Juni 1970 geltend gemacht worden ist.
Normenkette
VerhKindLeistG Art. 12 Abs. 2 Fassung: 1971-01-25
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 25. Januar 1972 aufgehoben. |
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Die Klage wird abgewiesen. |
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Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten. |
Gründe
I
Der im März 1945 geborene Kläger begehrt die Zahlung von Waisenrente für die Zeit seiner Hochschulausbildung nach seiner Verheiratung bis zur Vollendung seines 25. Lebensjahres (Oktober 1965 bis März 1970).
Die Waisenrente war für den Kläger seit Oktober 1948 und auch noch nach Vollendung seines 18. Lebensjahres gezahlt worden. Dann hatte die Mutter des Klägers an die Beklagte am 4. Oktober 1965 geschrieben: "Ich teile Ihnen mit, daß mein Sohn ... am 15. September geheiratet hat. An seiner Ausbildung und an meiner Unterhaltsverpflichtung für ihn hat sich jedoch nichts geändert. Ich zahle weiterhin sein monatliches Studiengeld, da seine Frau ebenfalls Studentin ist und nichts verdient. Teilen Sie mir doch bitte mit, wie es in diesem Fall mit der Rente für meinen Sohn steht, ob eventuell Weiterzahlung möglich ist". Auf dieses Schreiben hin hatte die Beklagte die Rentenzahlung eingestellt und am 2. November 1965 geantwortet: "Da die Waise ... nach Ihren Angaben geheiratet hat, entfällt ... der Anspruch auf Waisenrente .... Für die Monate Oktober und November ist die Waisenrente überzahlt. Wir bitten um Überweisung des Betrages ...". Dem war die Mutter ohne Widerspruch nachgekommen.
Nachdem am 25. Januar 1971 das Gesetz zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder erlassen worden war, bat die Mutter des Klägers die Beklagte am 1. Juni 1971 um Mitteilung, was sie unternehmen müsse, um die Nachzahlung der Waisenrente zu erreichen. Dabei wies sie außer auf das genannte Gesetz auch auf ihr Schreiben vom Oktober 1965 hin ("mit dem ich um Fortzahlung der Waisenrente bat"). Durch Bescheid vom 25. Juni 1971 lehnte die Beklagte den "Antrag auf Waisenrente" ab, weil diese nach Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. Januar 1971 frühestens ab Juni 1970 gezahlt werden könnte, der Kläger damals aber schon das 25. Lebensjahr vollendet hatte.
Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Osnabrück den Bescheid auf; es verurteilte die Beklagte, Waisenrente auch für die Zeit von Oktober 1965 bis März 1970 zu zahlen. Das SG war der Meinung, der Kläger könne nach der Änderung des § 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) durch das Gesetz vom 25. Januar 1971 aufgrund der Übergangsvorschrift des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 dieses Gesetzes Waisenrente auch noch für die streitige Zeit beanspruchen; die Voraussetzungen in Art. 12 Abs. 2 Satz 1 seien erfüllt, weil er den Anspruch auf die Leistung vor Juni 1970 geltend gemacht und die Beklagte darüber keine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen habe. Für das Geltendmachen reiche es aus, daß die Waisenrente überhaupt vor Juni 1970 - hier: schon 1948 - beansprucht worden sei; ein wiederholtes Geltendmachen nach dem heiratsbedingten Wegfall werde nicht verlangt; Art. 12 Abs. 2 des neuen Gesetzes bezwecke, eine einmal beanspruchte Rente rückwirkend weiterzuzahlen, sofern keine unanfechtbare Entscheidung entgegenstehe. An dieser fehle es; sie fehle schon dann, wenn man mit der Beklagten deren Schreiben vom 2. November 1965 nicht als Verwaltungsakt werte; aber auch bei dessen richtiger Würdigung als feststellender Verwaltungsakt sei das der Fall, weil die nach § 1631 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erforderliche Zustellung unterblieben und die Klagefrist des § 87 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) somit nicht in Lauf gesetzt worden sei.
Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat stattdessen mit Einwilligung des Klägers gemäß § 161 SGG Sprungrevision eingelegt. Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes vom 25. Januar 1971. Nach ihrer Auffassung hat der Kläger den Anspruch auf die Leistung nicht vor dem 1. Juni 1970 geltend gemacht; dazu genüge der frühere Rentenantrag nicht; erforderlich sei ein auf die nun gesetzlich geregelte Leistung gerichtetes Begehren; das Schreiben der Mutter vom 4. Oktober 1965 sei kein solches gewesen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er widerspricht dieser Auslegung des Schreibens vom 4. Oktober 1965; Art. 12 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes vom 25. Januar 1971 verlange zum Geltendmachen nicht mehr als sonst bei Formulierung von Anträgen und Geltendmachen von Ansprüchen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Das Gesetz vom 25. Januar 1971 hat in Art. 3 die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG durch Streichung des Wortes "unverheiratetes" mit Wirkung vom 1. Juni 1970 (Art. 12 Abs. 1) geändert; Kinder in Schul- oder Berufsausbildung erhalten seitdem Waisenrente nach Vollendung des 18. bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres auch dann, wenn sie verheiratet sind. Diese und die sonstigen durch das Gesetz vorgenommenen Änderungen gelten nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 auch für die Zeit vor dem 1. Juni 1970, "wenn der Anspruch auf die Leistung vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht und darüber nicht auf Grund des damals geltenden Rechts bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden ist". Diese Voraussetzungen sind entgegen der Auffassung des SG nicht erfüllt; Art. 12 Abs. 2 Satz 1 ist schon deshalb nicht anwendbar, weil der Anspruch auf die Leistung nicht vor dem 1. Juni 1970 geltend gemacht war.
Mit "Leistung" meint Art. 12 Abs. 2 Satz 1 nur eine der Leistungen, die das Gesetz vom 25. Januar 1971 eingeführt, für die es eine Rechtsgrundlage geschaffen hat (vgl. SozR Nr. 4 zu § 1262 RVO zum Kinderzuschuß bei einer vergleichbaren Übergangsvorschrift). Der Kläger müßte demnach den Anspruch auf Waisenrente gerade für die Zeit nach seiner Heirat schon vor Juni 1970 geltend gemacht haben. Dazu genügte es nicht, daß er - wie das SG meint - schon 1948 die Waisenrente beantragt hatte; dieser (allgemeine) Antrag bezog sich nur auf die Gewährung von Waisenrente in dem früher gesetzlich vorgesehenen Umfang, schloß also Zeiten nach der Heirat nicht ein. Auch der Regierungsentwurf des Gesetzes vom 25. Januar 1971 ist im übrigen davon ausgegangen, daß für Waisenbezüge der gesetzlichen Rentenversicherung, die infolge des Gesetzes rückwirkend wieder aufleben, ein neuer Antrag erforderlich ist (BT-Drucks. VI/1316 zu Art. 10).
Das bedeutet, daß ein Geltendmachen der hier streitigen Leistung allenfalls in dem Schreiben der Mutter des Klägers vom 4. Oktober 1965 erblickt werden könnte. Insoweit kommt es auf die Auslegung des Begriffes "Geltendmachen" an. Dieser Begriff ist, wie schon der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ausgeführt hat (BSG 21, 157, 158), in der Gesetzessprache nicht eindeutig auf einen bestimmten Tatbestand festgelegt, wenn darunter auch im allgemeinen soviel wie Vorbringen, Anführen, Behaupten (in BSG 16, 7: schlüssiges Behaupten) verstanden werde. Die regelmäßige Bedeutung bedarf jedoch keiner weiteren Klärung. Die Begründung des Regierungsentwurfs zum Gesetz vom 25. Januar 1971 enthält nämlich zu Art. 12 Abs. 2 bereits eine Klarstellung, wie der Begriff "Geltendmachen" dort verstanden werden soll; diese Klarstellung hat in den folgenden Gesetzesberatungen keinen Widerspruch gefunden; der Senat geht deshalb davon aus, daß sie dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Danach ist "ein Anspruch geltend gemacht worden, wenn seine Erfüllung unter Wahrung der für den Rechtsbereich allgemein geltenden Vorschriften so eindeutig begehrt worden ist, daß nach Lage der Dinge hierüber in Form eines sogenannten rechtsmittelfähigen Bescheides zu entscheiden war. Dennoch (gemeint: demnach) sind die Voraussetzungen ... nicht erfüllt, wenn lediglich eine auf den konkreten Fall bezogene Rechtsauskunft über die Gewährung einer Leistung für oder an einen Verheirateten eingeholt worden ist und der um die Auskunft Nachsuchende sich mit einer negativen Auskunft abgefunden hat". Hiernach kann das Schreiben der Mutter des Klägers nicht als Geltendmachen eines Anspruchs auf Waisenrente für die Zeit nach der Heirat des Klägers gewürdigt werden.
Diese Folgerung wird zudem allein dem Sinn und Zweck der Übergangsvorschrift des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes vom 25. Januar 1971 gerecht. Das Bundesverfassungsgericht hatte durch Beschluß vom 27. Mai 1970 (BVerfG 28, 324) die sogenannte Heiratsklausel in § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) für unvereinbar erklärt, soweit über 18 Jahre alte Waisen, die sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden, wenn sie verheiratet sind, in jedem Falle vom Bezug der Waisenrente ausgeschlossen werden; ähnlich hatte es hinsichtlich anderer Heiratsklauseln entschieden. Der Gesetzgeber entschloß sich darauf, im Sinne einer "großzügigen Lösung" die Klauseln allgemein zu streichen. Diese Regelung sollte grundsätzlich mit dem Beginn des Monats wirksam werden, der auf den ersten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (aaO) folgte; nur "soweit noch Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren anhängig sind" (Begründung des Regierungsentwurfs zu Art. 12 Abs. 2), sollte ihr Rückwirkung zukommen. Dabei mußten an die "Anhängigkeit" von Verwaltungsverfahren strenge Maßstäbe angelegt werden; im früheren Recht waren nämlich Leistungen für Zeiten nach einer Verheiratung nicht vorgesehen, die Leistungen daher mit diesem Zeitpunkt regelmäßig ohne Erteilung anfechtbarer Verwaltungsakte eingestellt worden; soweit sich die Betroffenen damit abgefunden hatten, konnte ein Verwaltungsverfahren nicht mehr als anhängig gelten.
Der Senat ist auch der Meinung, daß die so verstandene Übergangsregelung keinen Verstoß gegen das GG (Art. 3 Abs. 1) enthält. Sie knüpft an die ihrerseits verfassungskonforme Regelung des § 79 Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an, die der Nichtigerklärung von Normen durch das Bundesverfassungsgericht nur in beschränktem Umfang Rückwirkung verleiht. § 79 Abs. 2 ist insoweit, wie das Bundesverfassungsgericht bereits ausgeführt hat (MDR 1972, 483), Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der bei "abgewickelten Rechtsbeziehungen" der Rechtssicherheit gegenüber der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang gibt.
Auch solche Rechtsbeziehungen, wie sie zwischen dem Kläger und der Beklagten bestanden, sind lange vor Juni 1970 - schon seit Ende 1965 - in diesem Sinne "abgewickelt" gewesen.
Die Entscheidung des SG ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen