Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertreibung eines selbständigen Landwirts. Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung. Einkommensverlust

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Senat hat seinen im Urteil vom 1970-03-17 9 V 328/68 = BSGE 31, 74 vertretenen Standpunkt überprüft und ist dabei - übereinstimmend mit dem Urteil des 10. Senats vom 1970-09-16 10 RV 627/68 = BSGE 32, 1 - zu dem Ergebnis gelangt, daß es für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich vertriebener Landwirte nicht auf irgendwann einmal in der Vergangenheit entstandene Schäden ankommen kann, sondern daß diese Leistung einen aktuellen Einkommensverlust ausgleichen soll, der in der vom erhobenen Ausgleichsanspruch erfaßten Zeit besteht.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 3-4

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1970 wird geändert, soweit der Beklagte zur Gewährung von Berufsschadensausgleich und zur Tragung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin verpflichtet worden ist. Insoweit wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres am 5. Dezember 1968 im Alter von 62 Jahren verstorbenen Ehemannes Georg K (K.) die Gewährung von Berufsschadensausgleich für die Zeit von Januar 1964 bis Dezember 1968. K. arbeitete nach dem Volksschulbesuch ab 1920 in der elterlichen Landwirtschaft, ohne hierbei eine Berufsausbildung durchzumachen; seit Ende 1936 war er als selbständiger Landwirt auf einem 12,5 ha großen Anwesen in K, Kreis W (Schlesien) tätig. Ende August 1939 zur Wehrmacht eingezogen, wurde K. am 22. Februar 1942 am linken Bein verwundet, welches im Oberschenkel amputiert werden mußte. Er erhielt deswegen eine Beschädigtenrente und wurde umgeschult. Seit Februar 1944 war er für ein Monatsgehalt von 246,80 RM als Posthalter bei einer Nebenstelle des Postamts W tätig, seine Landwirtschaft hatte er verpachtet. Im Januar 1945 floh die Familie K. vor den Russen und hielt sich bis August 1946 in K auf, dann wurde sie nach A, Kreis W/Westfalen umgesiedelt. Dort nahm K. im September 1946 eine Beschäftigung als Entgrater (Schleifer) bei einer Metallwarenfabrik auf. Diese Tätigkeit, die er ganztägig gegen vollen Tariflohn ausübte, endete im Juli 1961, als K. an Darmkrebs erkrankte und operiert wurde; er bezog seither eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) aus der Arbeiterrentenversicherung.

Wegen der Schädigungsfolge "Teilverlust des linken Oberschenkels" erhielt K. seit 1947 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H.. Im Januar 1965 beantragte er die Gewährung von Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Dieser Antrag wurde durch Bescheid vom 28. September 1966 mit der Begründung abgelehnt, K., der keinen Beruf erlernt habe, wäre infolge der Vertreibung auch ohne die Schädigungsfolgen jetzt kein Landwirt, sondern hätte nach dem Kriege eine Tätigkeit als Arbeiter in der Industrie aufnehmen müssen; seine von 1946 bis 1961 ausgeübte Berufstätigkeit als Schleifer könnte er trotz der anerkannten Schädigungsfolgen weiterhin verrichten; seine EU sei nicht auf die Schädigungsfolgen zurückzuführen; ein evtl. vorliegender Einkommensverlust sei daher nicht schädigungsbedingt. Der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 28. Juni 1967 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die hiergegen erhobene Klage, mit der K. die Gewährung einer höheren Rente (§ 30 Abs. 2 BVG) und des Berufsschadensausgleichs beantragte, durch Urteil vom 1. Februar 1968 abgewiesen.

Während des Verfahrens über die von ihm hiergegen eingelegte Berufung ist K. an seinem Krebsleiden verstorben; die jetzige Klägerin hat Anfang 1969 das Verfahren aufgenommen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 5. Mai 1970 den Beklagten verpflichtet, der Klägerin und den weiteren Erben des K. für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis zum 31. Dezember 1968 einen Berufsschadensausgleich zu gewähren, bei dessen Berechnung das mutmaßliche Durchschnittseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 5 und - seit 1. Januar 1967 - A 7 zu ermitteln ist; im übrigen ist die Berufung verworfen worden: Hinsichtlich der beantragten Rentenerhöhung wegen besonderen beruflichen Betroffenseins sei die Berufung gemäß § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig. Der Klaganspruch auf Gewährung des Berufsschadensausgleichs sei dagegen begründet, wobei es unerheblich sei, daß der Beklagte über das Vorliegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins bei K. nicht entschieden habe. Für die Beurteilung der im Fall der Unversehrtheit wahrscheinlich eingetretenen Berufsentwicklung komme es auf die Zeit seit der Schädigung an. Der Formulierung "angehört hätte" (§ 30 Abs. 4 Satz 1 BVG) könne nicht entnommen werden, daß lediglich diejenige Berufs- oder Wirtschaftsgruppe zugrunde zu legen sei, die der Beschädigte ab Leistungsbeginn ohne Schädigung wahrscheinlich erreicht hätte (BSG 31, 74, 78).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 30. Juni 1970 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16. Juli 1970 Revision eingelegt und sie innerhalb der gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist wie folgt begründet: Das LSG habe § 30 Abs. 3 und 4 BVG (2. und 3. NOG), §§ 2, 3, 5 DVO 1964 und 1968 zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG unrichtig angewandt sowie gegen § 128 SGG verstoßen. Es sei nicht gerechtfertigt, das wahrscheinliche Durchschnittseinkommen des K. nach § 5 DVO zu ermitteln. Das LSG habe nicht festgestellt, daß K. in der nach § 30 Abs. 4 BVG, § 2 Abs. 1, Buchst. c DVO maßgeblichen Zeit wahrscheinlich selbständig tätig gewesen wäre; maßgebliche Zeit sei der einzelne Leistungszeitabschnitt (Monat), für den jeweils der Einkommensverlust im Sinne des § 30 Abs. 4 BVG zu ermitteln sei. Zu Unrecht habe hingegen das LSG - bezugnehmend auf BSG 31, 74 ff - nur die Zeit unmittelbar nach der Schädigung als rechtserheblich erachtet. Bei dieser Auffassung werde verkannt, daß es auch hinsichtlich der in § 30 Abs. 3 BVG geforderten Kausalität auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Schädigungsfolgen und den jeweils Monat für Monat bestehenden Einkommensverlust (nicht aber einen irgendwann einmal früher aufgetretenen Einkommensverlust) ankomme.

Bei seiner Annahme eines nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst eingetretenen Einkommensverlustes habe das LSG nicht beachtet, daß K. nach der Schädigung umgeschult und dann Posthalter geworden sei; dabei sei übersehen worden, daß K. möglicherweise mit dem Verdienst eines Posthalters und den Einnahmen aus der Verpachtung des Hofes damals ein Gesamteinkommen bezog, das nicht unter den - ohne Schädigung - durch Bewirtschaftung des Hofes zu erzielenden Einkünften lag. Für den Verlust des Posthalterberufs und die Beendigung des Pachtverhältnisses sei die Schädigungsfolge nicht kausal gewesen. Ferner hätte das LSG berücksichtigen müssen, daß bis zum Beginn des streitigen Zeitraumes die Einkommensverhältnisse des K. auch noch durch den schädigungsunabhängigen Eintritt der EU ungünstig beeinflußt wurden. Im Schriftsatz vom 24. Mai 1971 hat sich der Beklagte schließlich für seine Rechtsauffassung auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. September 1970 (BSG 32, 1) bezogen. Der Beklagte beantragt,

unter Änderung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, soweit das LSG sie nicht schon als unzulässig verworfen hat,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Da die Klägerin keine Revision eingelegt hat, ist auf die Revision des Beklagten nur darüber zu entscheiden, ob K. in der Zeit von 1964 bis 1968 Berufsschadensausgleich zugestanden hat. Der Senat darf nicht prüfen, ob das SG zu Recht sachlich auch über den Anspruch auf Rentenerhöhung nach § 30 Abs. 2 BVG entschieden und das LSG insoweit zu Recht die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen hat.

Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG nicht von der Erfüllung der Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG - Höherbewertung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins - abhängt (vgl. BSG 29,208, 214).

Die Gründe des angefochtenen Urteils stellen es ausschlaggebend darauf ab, daß K. nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst im Dezember 1943 infolge des schädigungsbedingten Beinverlustes nicht weiterhin als selbständiger Landwirt tätig sein konnte; schon hieraus sei ohne weiteres ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich herzuleiten, den die späteren schädigungsunabhängigen Ereignisse - insbesondere die Vertreibung und die 1961 eingetretene EU aufgrund der Krebserkrankung - nicht mehr hätten beseitigen können. Selbst wenn diese Auffassung richtig wäre, hätte das LSG nicht die - bei seiner rückblickenden Betrachtungsweise sich geradezu aufdrängende - Prüfung unterlassen dürfen, ob denn K. in der Zeit ab Februar 1944, als er den Beruf eines Posthalters ausübte, mit seinem damaligen Arbeitsentgelt, den Einnahmen aus Verpachtung seines Hofes und den Versorgungsbezügen überhaupt ein geringeres Einkommen hatte, als er mit selbständiger Landwirttätigkeit hätte erzielen können. Die Annahme des LSG, ohne den schädigungsbedingten Beinverlust hätte K. nach Entlassung aus dem Kriegsdienst wieder seinen Hof in Klein-Schmograu bewirtschaftet, könnte offensichtlich nur für die Zeit bis August 1946 gelten und läßt im unklaren, von welchen Vorstellungen das LSG für die Folgezeit ausgegangen ist. Es bestehen auch Zweifel, ob das LSG als das "derzeitige Bruttoeinkommen" seit 1964 die EU-Rente zugrunde legen durfte, die K. damals infolge der schädigungsunabhängigen Krebserkrankung bezogen hat.

Dies bedarf jedoch keiner abschließenden Erörterung, weil der erkennende Senat den Erwägungen des LSG schon im Ansatzpunkt nicht beizupflichten vermag. Diese Erwägungen stimmen allerdings weitgehend mit dem Urteil des erkennenden Senats vom 17. März 1970 (BSG 31, 74 f.) überein; seinen damals vertretenen Standpunkt zur Frage des Berufsschadensausgleichs bei vertriebenen Landwirten hält der Senat jedoch nach eingehender Überprüfung (vgl. hierzu die ausführliche Begründung in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 6.7.1972 - 9 RV 668/71 -) nicht mehr aufrecht.

Den Anstoß zu dieser Überprüfung gibt das Urteil des 10. Senats vom 16. September 1970 (BSG 32, Seite 1 f). Darin wird es mit Recht als Zweck des § 30 Abs. 3 und 4 BVG bezeichnet, einen "aktuellen" Schaden auszugleichen, welcher in der Zeit, auf die sich der erhobene Ausgleichsanspruch bezieht, vorliegen muß; irgendwann einmal in der Vergangenheit entstandene Schäden durch "Einkommensverlust" - treffender wäre die Bezeichnung "entgangenes Einkommen" - sind mit dieser Versorgungsleistung nicht auszugleichen (BSG 32, 2, 7). Bei dem Einkommensvergleich gemäß § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG ist also das "höhere Durchschnittseinkommen" nach der Berufsgruppe zu bestimmen, welcher der Beschädigte in der Zeit, für die er die Leistung begehrt, ohne die Schädigung wahrscheinlich angehören würde. Zur Ermittlung dieser mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit maßgebenden Berufsgruppe sind, wie es der Gesetzgeber in § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG (ebenso § 2 Abs. 1 DVO) ausdrücklich angeordnet hat, neben rein persönlichen Merkmalen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Arbeits- und Ausbildungswillen) des Beschädigten insbesondere seine "Lebensverhältnisse" zu berücksichtigen. Dieser Begriff umfaßt aber auch den Umstand, daß K. seine Berufstätigkeit als selbständiger Landwirt bis zum Kriege in Schlesien ausgeübt hat, von wo seit der Eroberung Anfang 1945 der Großteil der deutschen Bevölkerung systematisch vertrieben wurde. Diese Vertreibung betraf die erwachsenen Personen ohne Rücksicht darauf, ob sie kriegsbeschädigt oder voll erwerbsfähig waren. Für die vertriebenen Landwirte war es nun bei ihrer Ankunft im westlichen Deutschland typisch, daß sie - abweichend von anderen Berufszweigen - in ihrer neuen Heimat regelmäßig nicht wieder ihre angestammte Berufstätigkeit aufnehmen konnten, weil nur für einen ganz geringen Teil von ihnen landwirtschaftliche Betriebe verfügbar waren. Die Bedeutung dieses typischen Geschehensablaufs hat der Senat im Urteil vom 17. März 1970 (BSG 31, 77, 78) nicht hinreichend gewürdigt.

Dafür, daß K., wäre er 1946 unverwundet in Westfalen eingetroffen, zu den wenigen Ausnahmefällen gehört haben würde, in denen dem Vertriebenen die Übernahme eines landwirtschaftlichen Anwesens möglich war, bieten sich - selbst wenn das neue tatsächliche Vorbringen der Klägerin in der Revisionsverhandlung über die besonderen Verhältnisse im Gebiet von Berleburg berücksichtigt werden könnte - keine Anhaltspunkte, ebensowenig auch dafür, daß er ohne die Kriegsbeschädigung in einen höher qualifizierten und entlohnten neuen Beruf gelangt sein könnte. Mit der Aufnahme der Beschäftigung als Schleifer, in der K. den vollen Tariflohn verdiente, hat er demnach eine berufliche Entwicklung durchgemacht, die sich nicht vom typischen Schicksal seiner aus den Vertreibungsgebieten in den Westen gelangten früheren Berufskollegen unterschied. Ihnen allen wie auch K. wurden übrigens für die durch Vertreibung erlittenen Schäden Ersatzansprüche durch die Gesetzgebung über den Lastenausgleich eröffnet.

Soweit das LSG sich für seine gegenteilige Auffassung auf § 6 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG bezieht, verkennt es, daß es sich hierbei um eine Sondervorschrift zur Berücksichtigung individueller Berufserfolge handelt, die in Fällen der hier gegebenen Art von vornherein nicht einschlägig ist. Auch die 1. Alternative der in § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG zum Schadensausgleich der Witwen getroffenen Regelung hat für die Auslegung des § 30 Abs. 4 BVG keine Bedeutung (vgl. BSG 32, Seite 5 bis 7 gegen BSG 31, 79, 80). Die Meinung des LSG, man dürfe nicht von einer "überholenden Kausalität" ausgehen, führt im Ergebnis dazu, daß eine von den maßgebenden "Lebensverhältnissen" abstrahierende Betrachtungsweise angewandt werden müßte, was dem Gesetz (§ 30 Abs. 4 Satz 1 BVG) offenbar zuwiderlaufen würde.

Nach alledem hat das LSG zu Unrecht den Beklagten zur Gewährung des Berufsschadensausgleichs für die Jahre 1964 bis 1968 verpflichtet. Auf die begründete Revision des Beklagten muß deshalb unter entsprechender Änderung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647439

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