Leitsatz (amtlich)
Ein auf Unterhaltsleistung gerichteter Vollstreckungstitel, der vor Ehescheidung erwirkt wurde und auf die Verhältnisse während der Ehe abgestellt ist, kann später nicht als eine Unterhaltsverpflichtung aus einem "sonstigen Grund" im Sinne von AVG § 42 angesehen werden ( Vergleiche BSG 1958-07-29 1 RA 109/57 = BSGE 8, 24).
Normenkette
AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 23. November 1961 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Gewährung von Hinterbliebenenrente als geschiedene Frau des Versicherten. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist ihre 1938 mit dem Versicherten geschlossene Ehe im Jahre 1957 aus der Schuld des Mannes geschieden worden. Dieser hatte eine kaufmännische Lehre durchgemacht und fuhr später als Bordfunker und Zahlmeister zur See. Von 1949 bis 1953 war er - mit Unterbrechungen - arbeitslos. Im September 1950 erwirkte die Klägerin beim Amtsgericht Bremerhaven ein Versäumnisurteil gegen ihren damaligen Ehemann, durch das dieser verurteilt wurde, ihr vom 1. September 1950 an monatlich DM 200,- Unterhalt zu zahlen. Nach der Behauptung der Klägerin kam der Versicherte seinen Verpflichtungen aus diesem Urteil nicht nach; Pfändungen waren erfolglos. Nach der Ehescheidung hat die Klägerin keinen neuen Titel gegen den Versicherten erwirkt. Letzterer starb im Dezember 1958. Von 1953 bis 1958 war er in verschiedenen Berufen, und zwar als Funker, kaufmännischer Angestellter, Wachmann und Magazinverwalter tätig.
Die Beklagte lehnte den im Mai 1959 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente ab, weil die Voraussetzungen des § 42 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) nF nicht erfüllt seien (Bescheid vom 31. März 1960). Im gleichen Sinne entschied das Sozialgericht (SG), das die gegen den Bescheid erhobene Klage abwies (Urteil vom 17. Mai 1961). Das LSG hob dieses Urteil auf und sprach der Klägerin eine Hinterbliebenenrente zu; der Versicherte hätte zur Zeit seines Todes der Klägerin aus einem "sonstigen Grund" im Sinne des § 42 AVG nF, nämlich auf Grund des 1950 ergangenen vollstreckbaren Versäumnisurteils, Unterhalt zu leisten gehabt, unabhängig davon, ob für ihn eine Unterhaltspflicht nach den Vorschriften des Ehegesetzes bestand und ob er gemäß § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder § 767 ZPO die Herabsetzung oder Aufhebung seiner Verpflichtung zur Unterhaltsleistung aus dem Versäumnisurteil hätte verlangen können. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 23. November 1961).
Die Beklagte legte gegen das Urteil des LSG Revision ein und beantragte (sinngemäß), das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie begründete die Revision mit der Rüge, das Berufungsgericht habe § 42 AVG nF nicht richtig angewandt.
Die Klägerin beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Nach § 42 AVG nF wird der geschiedenen Frau eines verstorbenen Versicherten - vorausgesetzt, daß die Wartezeit erfüllt ist (§ 40 AVG nF) - Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahre vor seinem Tode Unterhalt tatsächlich geleistet hat. Das Berufungsgericht, das mit Recht die Wartezeit als erfüllt ansah, hat seine Entscheidung allein auf die Frage abgestellt, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes aus einem "sonstigen Grund" unterhaltspflichtig war. Es blieb deshalb dahingestellt, ob er etwa der Klägerin nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten hatte; ebenso sah das Gericht auch bewußt davon ab zu prüfen, ob etwa ein Anspruch auf Grund der 2. Alternative des § 42 AVG nF (tatsächliche Unterhaltsleistung im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten) gegeben ist. Der Rechtsauffassung des LSG, wonach der verstorbene Versicherte zur Zeit seines Todes aus einem "sonstigen Grund" Unterhalt zu leisten hatte, kann jedoch nicht gefolgt werden.
Das Berufungsgericht geht mit Recht davon aus, daß im vorliegenden Falle eine Abänderungsklage im Sinne des § 323 ZPO nach der Ehescheidung nicht zulässig gewesen wäre (Baumbach/Lauterbach, ZPO, 26. Aufl. § 323 Anm. 2 A). Ob es richtig ist, daß sich - wie das LSG in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre annimmt - für die Klägerin eine neue Klage zur Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen erübrigte, weil das im September 1950 erwirkte Versäumnisurteil auch nach der Ehescheidung bis zum Tode des Versicherten als Vollstreckungstitel rechtswirksam fortbestand, da dieser von der Möglichkeit der Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO nicht Gebrauch gemacht habe, kann dahingestellt bleiben. Zu Unrecht nämlich beruft sich das LSG auf das Urteil des erkennenden Senats vom 29. Juli 1958 (BSG 8, 24), wenn es zu der Auffassung gelangt, daß als "sonstige Gründe" für die Unterhaltspflicht im Sinne des § 42 AVG nF alle im 8. Buch der ZPO aufgeführten Vollstreckungstitel in Betracht kommen, sofern sie nur erkennbar Unterhaltsleistungen betreffen, die auf der Ehe und nicht etwa auf einer Vermögensauseinandersetzung beruhen. Das Berufungsgericht verkennt hierbei, daß der dem erwähnten Urteil von 1958 zu Grunde liegende Sachverhalt von dem des vorliegenden Falles - bei dem eine Unterhaltsregelung rund sieben Jahre vor der Ehescheidung erfolgte - insofern erheblich abweicht, als das in jenem Fall maßgebliche Anerkenntnisurteil erst nach der Ehescheidung erwirkt worden war und den an die geschiedene Frau zu zahlenden Unterhalt regelte. Nur in diesem Zusammenhang und mit der Beschränkung auf nach der Ehescheidung erwirkte Titel ist es zu verstehen, wenn in den Gründen des erwähnten Urteils des erkennenden Senats (aaO S. 28) von Vollstreckungstiteln des 8. Buches der ZPO gesprochen wird. Wie schon der Wortlaut des § 42 AVG nF, nämlich der Hinweis auf Unterhaltsleistung nach den Vorschriften des Ehegesetzes - das ausschließlich den Unterhalt nach der Ehescheidung regelt - erkennen läßt, sind nur nach der Ehescheidung erwirkte Vollstreckungstitel geeignet, als eine Unterhaltsverpflichtung aus einem "sonstigen Grund" angesehen zu werden. Daß diese Auffassung auch dem genannten Urteil des erkennenden Senats zugrunde liegt, wird schon daraus deutlich, daß in den Urteilsgründen auf Unterhaltsleistungen abgestellt ist, die auf der "vorausgegangenen" Ehe und nicht etwa auf einer Vermögensauseinandersetzung "zwischen den Geschiedenen" beruhen (BSG 8, 27). Das Berufungsgericht hat diese Einschränkung offensichtlich verkannt; denn in der Begründung des angefochtenen Urteils (S. 14) kehrt zwar der vorstehende Relativsatz wieder, die darin hervorgehobenen Worte fehlen jedoch. Das LSG geht auch nicht auf den Ausgangspunkt der Erörterungen des erkennenden Senats ein, nämlich darauf, daß "die geschiedene Frau im Anschluß an die Scheidung der Ehe einen Vollstreckungstitel über ihren Unterhaltsanspruch erwirkt hat" (BSG 8, 27). Der Senat hält auch nach erneuter Prüfung an seiner Auffassung fest, daß nur nach der Ehescheidung erwirkte und bis zum Tode des Versicherten gültig gebliebene Vollstreckungstitel geeignet sind, eine Unterhaltspflicht aus sonstigem Grund im Sinne des § 42 AVG nF anzunehmen. Diese Einschränkung ist notwendig, weil nicht selten eine noch zur Zeit des Bestehens der Ehe getroffene Unterhaltsregelung infolge des Schuldspruchs im Scheidungsurteil überholt wird. Es wäre deshalb unbillig und dem Sinn und Zweck des § 42 AVG nF zuwider, aus solchen vor der Ehescheidung und auf Grund der noch bestehenden Ehe erwirkten Vollstreckungstiteln eine Unterhaltspflicht aus sonstigem Grund im Sinne der genannten Bestimmung abzuleiten. Da der erkennende Senat selbst eine solche Einschränkung für richtig hält, besteht kein Anlaß, die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts abzuwarten, den der 4. Senat wegen seiner vom erkennenden Senat abweichenden Auffassung angerufen hat (vgl. Vorlagebeschluß 4 RJ 286/59 vom 20. April 1961).
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden. Da das LSG seine Entscheidung allein auf eine Unterhaltspflicht aus einem sonstigen Grund abgestellt und deshalb keine Feststellungen darüber getroffen hat, ob etwa die übrigen Alternativen für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG nF gegeben sind, ist dem Senat eine abschließende Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits nicht möglich; dieser muß deshalb zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten zu entscheiden haben wird (§ 170 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz).
Fundstellen