Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Ablehnung eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB 12 bei Nachweis der Feststellung des Merkzeichens G. Überprüfungsantrag. rückwirkende Feststellung der vollen Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger. maßgeblicher Zeitpunkt für die Entstehung des Anspruchs
Leitsatz (amtlich)
Maßgeblich für das Entstehen des Anspruchs auf einen pauschalierten Mehrbedarf wegen Zuerkennung des Merkzeichens "G" bei voller Erwerbsminderung ist der Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung, nicht die Bekanntgabe des Bescheids des Rentenversicherungsträgers.
Normenkette
SGB XII § 30 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 2011-03-24, § 44 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 2021 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. April 2019 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verpflichtet wird, den Bescheid vom 21. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2017 abzuändern.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit ist die Gewährung eines pauschalierten Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen auch für die Monate September und Oktober 2017.
Der 1957 geborene, alleinstehende Kläger ist schwerbehindert (Grad der Behinderung von 100); ihm ist das Merkzeichen "G" zuerkannt worden (Bescheid des Versorgungsamts des Beklagten vom 9.3.2016). Er bezog zunächst Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) vom Jobcenter des Beklagten, der als zugelassener kommunaler Träger (§ 6a SGB II; sog Optionskommune) auch Träger der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist. Im August 2017 beantragte der Kläger beim Jobcenter unter Hinweis auf fortlaufende Arbeitsunfähigkeit und eine Krebserkrankung die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen krankheitsbedingt kostenaufwändiger Ernährung sowie die Gewährung eines Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) in Höhe von 17 Prozent des Regelbedarfs. Daraufhin bewilligte ihm das Jobcenter des Beklagten den Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung und lehnte die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII ab. Zudem deutete es den Antrag um in einen Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs 4 SGB II und lehnte auch diesen ab (zuletzt Bescheid vom 21.8.2017; Widerspruchsbescheid vom 31.8.2017).
Auf seinen im September 2017 gestellten Rentenantrag bewilligte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund dem Kläger rückwirkend eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1.9.2017 (bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze 31.7.2023; Bescheid vom 8.11.2017). Der Beklagte bewilligte dem Kläger hierauf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) für den Zeitraum vom 1.12.2017 bis 30.11.2018 unter anderem unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung (Bescheid vom 16.11.2017). Hiergegen erhob der Kläger Ende November 2017 Widerspruch und beantragte erneut die rückwirkende Gewährung des Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.9.2017.
Im Januar 2018 befriedigte der Beklagte den (nur) für November 2017 geltend gemachten Erstattungsanspruch des Jobcenters, hob den Bescheid vom 16.11.2017 auf und gewährte dem Kläger bereits ab 1.11.2017 Grundsicherungsleistungen einschließlich eines Mehrbedarfs für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII, lehnte jedoch die Gewährung dieses Mehrbedarfs ab 1.9.2017 weiterhin ab (Bescheid vom 6.2.2018; Widerspruchsbescheid vom 7.2.2018).
Das hiergegen angerufene Sozialgericht (SG) Dresden hat den Beklagten unter Abänderung des Bescheides 6.2.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.2.2018 verurteilt, dem Kläger auch für die Monate September und Oktober 2017 den begehrten Mehrbedarf in Höhe von jeweils 69,53 Euro, insgesamt 139,06 Euro zu zahlen (Urteil vom 30.4.2019). Auf die Berufung des Beklagten hat das Sächsische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.5.2021). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, ein Anspruch auf den Mehrbedarf bestehe nicht, da zwar volle Erwerbsminderung vorliege, jedoch nicht der für Grundsicherungsleistungen erforderliche Antrag für September und Oktober 2017. Der beim Jobcenter gestellte Antrag vom 9.8.2017 sei nicht ausreichend, da die Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII während des Leistungsbezuges nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Dieser Antrag sei außerdem bestandskräftig abgelehnt worden. Für eine rückwirkende Gewährung des Mehrbedarfs für (fingiert) erwerbsfähige Leistungsberechtigte des SGB II sei kein Raum.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII. Der erforderliche Antrag sei bereits im August 2017 gestellt worden. Eine rückwirkende Gewährung des Mehrbedarfs sei möglich, sobald ua die Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung festgestellt seien.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 2021 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. April 2019 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Beklagte verpflichtet wird, den Bescheid vom 21. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2017 abzuändern.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf den begehrten Mehrbedarf auch für September und Oktober 2017, wie das SG im Ergebnis zutreffend entschieden hat. Diesen Anspruch hat er aber im Wege eines Überprüfungsverfahrens mit Erfolg geltend gemacht, weshalb der Tenor des SG-Urteils, der sich ausschließlich auf die Verurteilung zur Leistung beschränkt, von Amts wegen klarstellend neu zu fassen war.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 6.2.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.2.2018 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte nicht nur den Bescheid vom 16.11.2017 iS einer Teilabhilfe (§ 86 SGG) aufgehoben und dem Kläger Grundsicherungsleistungen einschließlich des begehrten Mehrbedarfs ab 1.11.2017 bewilligt hat, sondern auch in der Sache im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) die vom Kläger beantragte (teilweise) Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 21.8.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2017 (konkludent) abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage, die von Beginn an als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4, § 56 SGG) auszulegen war.
Mit dem Widerspruchsschreiben vom 23.11.2017 und dem Beharren auf der Geltendmachung des Anspruchs auch für die Monate September/Oktober 2017 hat der Kläger in der Sache erkennbar auch einen Antrag auf Überprüfung der bestandskräftigen Ablehnungsbescheide des Jobcenters des Beklagten gestellt. Er hat zum Ausdruck gebracht, dass er an das vorangegangene Verwaltungsverfahren anknüpft und die bisher im Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidungen bezüglich des Mehrbedarfs für September und Oktober weiterhin für falsch hält. Anderweitig hätte der Kläger sein Ziel der Bewilligung des Mehrbedarfs ab September nicht erreichen können, da eine Gewährung zunächst die Kassation der Ablehnung aus dem bestandskräftigen Bescheid des Jobcenters vom 21.8.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2017 voraussetzt (vgl zur Auslegung von Anträgen nach den §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫ und nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 27.7.2021 - B 8 SO 10/19 R - SozR 4-1500 § 88 Nr 4 RdNr 9; BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 18/10 R - SozR 4-3500 § 44 Nr 2 RdNr 13; BSG vom 10.3.1994 - 7 RAr 38/93 - BSGE 74, 77 = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 47 mwN). Hierüber hat der Beklagte auch entschieden.
Der Streitgegenstand des Verfahrens ist wirksam beschränkt auf die Überprüfung im Hinblick auf die Zuerkennung des pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII(in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 ≪BGBl I 453≫) für die Monate September und Oktober 2017 (zur Abtrennbarkeit eines Mehrbedarfs als eigener Streitgegenstand zuletzt BSG vom 25.4.2018 - B 8 SO 25/16 R - SozR 4-3500 § 30 Nr 5 RdNr 12 mwN). Zutreffend richtet sich die Klage nur gegen den für die Überprüfung zuständigen Beklagten (dazu sogleich). Einer Beiladung des Jobcenters bedurfte es schon deshalb nicht, weil der geltend gemachte Anspruch auf einen pauschalen Mehrbedarf sich ausschließlich nach den Vorschriften des SGB XII richten kann, sodass die Verurteilung des Jobcenters (vgl § 75 Abs 5 SGG) von vornherein ausschied. Ob und in welchen Fällen eine Beiladung sonst in Rechtsstreitigkeiten gegen sog Optionskommunen erforderlich ist (vgl BSG vom 16.12.2015 - B 14 AS 15/14 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 48 RdNr 43 f mwN), kann dahinstehen.
Der streitgegenständliche Bescheid ist formell rechtmäßig ergangen. Der Beklagte ist die für die Entscheidung über die Rücknahme zuständige Behörde. Nach § 44 Abs 3 SGB X entscheidet über die Rücknahme nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist. Das bedeutet, dass nach Unanfechtbarkeit des Bescheides die allgemeinen Regeln über die sachliche Zuständigkeit gelten und diejenige Behörde zuständig ist, die nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Korrektur des Verwaltungsaktes maßgeblichen Recht örtlich und sachlich zuständig ist (vgl BSG vom 9.6.2011 - B 8 AY 1/10 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 10 mwN; BSG vom 17.7.1985 - 1 RA 35/84 - SozR 1500 § 77 Nr 61; BSG vom 9.6.1999 - B 6 KA 70/98 R - SozR 3-2500 § 95 Nr 20). Die hier ohnehin von Anfang an bestehende sachliche Zuständigkeit des Beklagten für den geltend gemachten Mehrbedarf ergibt sich aus § 46b Abs 1 SGB XII (in der Normfassung des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20.12.2012 ≪BGBl I 2783≫) iVm § 10 Abs 1, Abs 2, § 13 des Sächsischen Gesetzes zur Ausführung des Sozialgesetzbuches (SächsAGSGB, in der Normfassung vom 1.5.2014 ≪SächsGVBl 230≫).
Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen gemäß § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 21.8.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2017, soweit mit diesem der Mehrbedarf iS des § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII für September und Oktober 2017 abgelehnt wurde. Nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII erhalten Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs 2 SGB XII noch nicht erreicht haben und voll erwerbsgemindert sind und durch einen Bescheid der zuständigen Behörde iS des § 69 Abs 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) aF oder einen Ausweis iS des § 69 Abs 5 SGB IX aF (vgl jetzt § 152 Abs 4 und 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - ≪SGB IX≫ in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz ≪BTHG≫ vom 23.12.2016, BGBl I 3234) die Feststellung des Merkzeichens "G" nachweisen, einen Mehrbedarf von 17 von Hundert der maßgeblichen Regelbedarfsstufe, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht.
Diese Voraussetzungen haben beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum vorgelegen. Die Schwerbehinderteneigenschaft nebst dem Merkzeichen "G" war ihm bereits im März 2016 vom Versorgungsamt des Beklagten zuerkannt worden. Er hatte die maßgebliche Altersgrenze noch nicht erreicht und war jedenfalls ab dem 1.9.2017 voll erwerbsgemindert iS des § 43 Abs 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI), was das LSG für den Senat bindend (vgl § 163 SGG) festgestellt hat (vgl zu den erforderlichen gerichtlichen Tatsachenfeststellungen BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 21/11 R - SozR 4-3500 § 43 Nr 3 RdNr 15).
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist maßgeblich für das Vorliegen der vollständigen Erwerbsminderung iS des § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII nicht der Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung im Bescheid des Rentenversicherungsträgers. § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII stellt gerade nicht auf den Zeitpunkt einer bescheidmäßigen Feststellung der vollen Erwerbsminderung ab, sondern darauf, dass Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs 2 SGB XII noch nicht erreicht haben, voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI "sind". Dieser Wortlaut erklärt sich mit dem Gesetzeszweck. § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII dient sowohl der Kompensation eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs als auch dem Ausgleich der fehlenden Hinzuverdienstmöglichkeit tatsächlich voll erwerbsgeminderter Personen (vgl Nebe, SGb 2011, 193 ≪196≫); diese Bedarfslage ist unabhängig von einer bescheidmäßigen Feststellung der vollen Erwerbsminderung (vgl Wrackmeyer-Schoene in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl 2020, § 30 RdNr 12). § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII entspricht weitgehend dem früheren § 23 Abs 1 Nr 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), der von Anfang an einen Ausgleich für die fehlende Möglichkeit von Erwerbsunfähigen schaffen wollte, sich - anders als arbeitsfähige Hilfesuchende - durch eigene Arbeit etwas hinzuzuverdienen und sich dadurch ein über den notwendigen Bedarf hinausgehendes, in bestimmtem Umfang anrechnungsfreies Einkommen zu verschaffen (vgl Hessischer Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ vom 18.5.1972 - VII OE 36/71 - FEVS 21, 296). Durch das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts (vom 23.7.1996, BGBl I 1088) ist die Gewährung des Mehrbedarfs auf erwerbsunfähige gehbehinderte Schwerbehinderte beschränkt worden, ohne dass dadurch der ursprüngliche Zweck entfallen ist. Lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichens "G" kann ausschließlich durch einen entsprechenden feststellenden Bescheid bzw Ausweis nachgewiesen werden; eine entsprechende Regelung hat der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung ausdrücklich eingeführt bzw in veränderter Form beibehalten (vgl dazu BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - SozR 4-3500 § 30 Nr 4 RdNr 20 ff; BSG vom 25.4.2018 - B 8 SO 25/16 R - SozR 4-3500 § 30 Nr 5 RdNr 17 f). Eine solche einschränkende Regelung besteht wegen des Vorliegens der vollen Erwerbsminderung aber nicht.
Anders als das LSG meint, fehlt es auch nicht am erforderlichen Antrag. Als Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wird der begehrte Mehrbedarf auf Antrag gewährt (§ 42 Nr 2 SGB XII, § 44 Abs 1 SGB XII). Der Antrag wirkt gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 SGB XII frühestens auf den Ersten des Monats zurück, in dem die Voraussetzungen der Grundsicherung gemäß § 41 Abs 1 SGB XII vorliegen. Kenntnis iS von § 18 Abs 1 SGB XII genügt insoweit nicht.
Indem der Kläger im August 2017 unter Hinweis auf die langanhaltende Arbeitsunfähigkeit und eine fortschreitende Krebserkrankung eine SGB-XII-Leistung beantragt hat, ist der erforderliche Antrag auch auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII gestellt gewesen. Anträge als empfangsbedürftige einseitige Willenserklärungen werden nach dem objektiven Empfängerhorizont und nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung ausgelegt (s oben); beantragt ist das, was nach Lage des Falles vernünftigerweise in Betracht kommt. Da das Jobcenter des Beklagten nicht nur Kenntnis der anhaltenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers hatte, sondern im Widerspruchsbescheid auch selbst von einem schweren Verlauf der Krebserkrankung ausgegangen ist, waren die für den Anspruch auf Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII relevanten Anhaltspunkte mehr als deutlich. Der Antrag ist in den Räumlichkeiten und damit im Machtbereich des Beklagten eingegangen; auf eine fehlende Weiterleitung (§ 16 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - ≪SGB I≫) kommt es deshalb nicht an. Wollte man dies anders sehen, bestünde jedenfalls Kenntnis (§ 18 Abs 1 SGB XII) von der Bedarfslage beim Jobcenter, die sich der Beklagte zurechnen lassen muss (dazu bereits BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 39; BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 47 RdNr 33, jeweils mwN; vgl auch Sächsisches LSG vom 6.3.2013 - L 8 SO 4/10 - ZFSH/SGB 2013, 435, juris RdNr 33 mwN). Fehlt es nur am Antrag, besteht damit unter den im Übrigen unveränderten Voraussetzungen ein Anspruch nach dem Dritten Kapitel (vgl BSG vom 27.7.2021 - B 8 SO 10/19 R - SozR 4-1500 § 88 Nr 4 RdNr 9).
Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Bewilligungsbescheid des Jobcenters wegen der übrigen laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bestandskräftig geworden ist. Der Kläger ist nach den Feststellungen des LSG (jedenfalls) seit dem 1.9.2017 nicht (mehr) erwerbsfähig iS des § 7 Abs 1 Nr 2 iVm § 8 Abs 1 SGB II und nicht (mehr) dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II. Damit greift der Leistungsausschluss nach § 21 Satz 1 SGB XII nicht. Allein der Bezug der Leistung ist nicht entscheidend; eine Bindungswirkung hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit kommt der Bewilligung des Jobcenters nicht zu (BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R - SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 14; Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl 2020, § 21 RdNr 26).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Bieresborn Scholz Luik
Fundstellen
Haufe-Index 15635488 |
FEVS 2023, 433 |
NZS 2023, 472 |
SGb 2022, 740 |
ZfF 2023, 193 |
info-also 2023, 137 |