Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 29. November 1995 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und Arbeitslosenhilfe (Alhi) und eine damit verbundene Rückforderung von 12.431,90 DM streitig.
Der Kläger bezog mit Unterbrechungen seit dem 6. November 1991 Alg, seit dem 3. Oktober 1992 Alhi (Bescheide vom 14. Januar, 7. Februar, 21. Februar, 27. Mai, 9. September und 7. Oktober 1992). Dabei legte die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) ein Bemessungsentgelt in Höhe von 1.070,– DM (ab 26. August 1992: 1.140,– DM) zugrunde, das auf den Angaben in der Arbeitsbescheinigung des letzten Arbeitgebers beruhte, wonach der Kläger für eine Beschäftigung als Wachmann in den beim Ausscheiden abgerechneten Lohnabrechnungszeiträumen vom 1. Mai bis zum 25. August 1991 ein Bruttoarbeitsentgelt von insgesamt 10.263,61,– DM bei 25 bezahlten Arbeitstagen und 576,75 bezahlten Arbeitsstunden sowie einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 60 Stunden erzielt hatte. Hieraus errechnete die Beklagte ab 6. November 1991 bei einer Nettolohnersatzquote von 63 vH und der Leistungsgruppe A ein wöchentliches Alg in Höhe von 410,40 DM.
Anläßlich des Antrags auf Weiterbewilligung von Alhi vom 28. Juli 1993 stellte die Beklagte aufgrund einer Nachfrage beim letzten Arbeitgeber fest, daß der Kläger in den Lohnabrechnungszeiträumen 1. Juni bis 25. August 1991 ein Brutto-Arbeitsentgelt in Höhe von insgesamt 7.575,76 DM bei 71 bezahlten Arbeitstagen und 730 bezahlten Arbeitsstunden erzielt hatte. Daraufhin nahm die Beklagte die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 6. November bis 9. Dezember 1991, 23. Dezember 1991 bis 21. April 1992, 21. Mai bis 2. Oktober 1992 und von Alhi für die Zeit vom 3. Oktober 1992 bis 25. August 1993 in Höhe eines Teilbetrages von insgesamt 12.431,90 DM zurück, da der Berechnung der gewährten Leistungen ein wöchentliches Brutto-Arbeitsentgelt in Höhe von 620,– DM habe zugrunde gelegt werden müssen (Bescheid vom 23. November 1993; Widerspruchsbescheid vom 12. September 1994).
Das Sozialgericht hat den Rücknahme- und Erstattungsbescheid aufgehoben: Dem Kläger sei die Rechtswidrigkeit der Bescheide nicht infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt gewesen, da die Berechnungsmodalitäten hinsichtlich der Höhe des Alg recht kompliziert und nicht ohne weiteres zu durchschauen seien.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der BA zurückgewiesen. Es hat ua ausgeführt, die Beklagte habe ihren Aufhebungsbescheid zu Recht auf § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) gestützt. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, da er infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide nicht erkannt habe. Aus den Bewilligungsbescheiden sei für den Kläger ersichtlich gewesen, daß die Beklagte von einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1.070,– DM ausgegangen sei. Eine einfache rechnerische Überlegung hätte erkennen lassen, daß das von der Beklagten zugrunde gelegte Arbeitsentgelt somit im Monat über 4.800,– DM betragen haben müßte. Ein solches monatliches Einkommen habe der Kläger aber niemals erzielt. Das dem Kläger mit monatlich 1.778,40 DM gezahlte Alg sei zudem dem durchschnittlich erzielten Netto-Einkommen fast gleichgekommen. Es habe ein so auffälliges Mißverhältnis zwischen zuvor erzieltem Arbeitsentgelt und danach bewilligter Leistung bestanden, daß dieses ohne Anstellen besonderer Überlegungen leicht erkennbar gewesen sei. Auch die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X sei gewahrt. Die Beklagte habe jedoch das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Hierzu sei sie jedoch verpflichtet gewesen, weil § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Fassung auf den Aufhebungsbescheid noch keine Anwendung finde. Es müsse auf den Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheides abgestellt werden, da sich andernfalls die Rechtsanwendung zu Ungunsten des Betroffenen auswirke und insoweit eine echte unzulässige materielle Rückwirkung vorliege.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 152 AFG und § 45 SGB X. Die Entscheidung über die Rücknahme ergehe nach neuer Rechtslage ausschließlich gebunden. Ein Vertrauen darauf, daß die Umstände des Einzelfalls im Wege der Ermessensausübung ausnahmsweise nicht zur Aufhebung führen, habe auch nach früherer Rechtslage nicht bestanden. Mit Urteil vom 28. November 1996 – 7 RAr 56/96 – habe das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß § 152 Abs 3 AFG in der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Fassung auf alle Aufhebungsbescheide anzuwenden sei, die ab 1. Januar 1994 ergingen. Er betreffe demzufolge auch zeitlich davorliegende Sachverhalte. Das sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 1996 sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 29. November 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Der fragliche Aufhebungsbescheid sei noch im Jahre 1993 erlassen worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine teilweise Rücknahme der Bewilligung von Alg und Alhi haben nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG vorgelegen. Die Beklagte brauchte entgegen der Auffassung des LSG hinsichtlich der Rücknahmeentscheidung nach § 152 AFG nF kein Ermessen auszuüben. Die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage war deshalb abzuweisen.
1. Nach § 152 Abs 2 AFG idF des Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese Vorschrift ist hier heranzuziehen, denn die Bewilligungsentscheidungen der BA waren für die streitigen Leistungszeiträume bei ihrem Erlaß teilweise rechtswidrig; dem Kläger standen nur Leistungen nach einem ursprünglichen Bemessungsentgelt von 620,– DM zu. Der Anwendung des § 152 AFG steht nicht entgegen, daß sich die Rücknahme auf Leistungszeiträume bezieht, die vor Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar 1994 (Art 14 Abs 1 1. SKWPG) lagen, und daß auch der Aufhebungsbescheid vor Inkrafttreten des Gesetzes ergangen ist.
1.1. Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97), bestimmt sich die hier fragliche Anwendung des § 152 Abs 2 AFG iVm § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X aufgrund der fehlenden Übergangsregelungen nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozeßrechts, denn die Vorschriften regeln die Voraussetzungen, unter denen die Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) und die Rechtskraft sozialgerichtlicher Urteile (§ 141 SGG) durchbrochen wird. Änderungen des Verfahrensrechts sind danach grundsätzlich bei bereits anhängigen Verfahren zu beachten, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist (Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97 mwN).
1.2. Damit richtet sich die Rücknahme einer rechtswidrigen Leistungsbewilligung, wie das BSG zuvor bereits zur Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 152 Abs 3 AFG iVm § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X entschieden hatte (SozR 3-4100 § 117 Nr 13 und § 152 Nr 8), grundsätzlich nach der Rechtslage zur Zeit des das Verwaltungsverfahren beendenden Widerspruchsbescheids. Etwas anderes gilt hier auch nicht unter der möglicherweise zu berücksichtigenden einschränkenden Maßgabe, daß § 152 Abs 2 AFG nF keine Anwendung findet, wenn die Verwaltung die Entscheidung über den Widerspruch verfahrensrechtlich unzulässig verzögert und dadurch die Rechtsstellung des Widerspruchsführers verschlechtert. Der Widerspruch des Klägers ist erst am 1. Dezember 1993 erhoben worden, so daß selbst bei Wahrung der Monatsfrist des § 88 Abs 2 SGG ein Widerspruchsbescheid nicht vor Inkrafttreten des 1. SKWPG zu ergehen hatte.
1.3. Die Anwendung des § 152 Abs 2 AFG enthält, wie der Senat im Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97 – bereits dargelegt hat, keine echte Rückwirkung auf vor dem Inkrafttreten des 1. SKWPG abgeschlossene Sachverhalte und ist auch im übrigen verfassungsgemäß (vgl ferner BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 13 und § 152 Nr 8).
2. Der Senat ist, obwohl das LSG § 152 Abs 2 AFG idF des 1. SKWPG wegen seines Inkrafttretens am 1. Januar 1994 für nicht anwendbar und infolgedessen eine Ermessensentscheidung der BA für erforderlich gehalten hat, an einer abschließenden Entscheidung nicht gehindert, weil das LSG im übrigen die Voraussetzungen für eine teilweise Rücknahme der Bewilligung mit zutreffenden Gründen bejaht hat.
2.1. Die Bestimmung des § 45 SGB X kommt vorliegend zur Anwendung, weil die Bewilligungs- bzw Änderungsbescheide bereits bei ihrem Erlaß teilweise rechtswidrig waren. Rechtswidrig war der Bescheid vom 14. Januar 1992 und die nachfolgenden Bescheide bei ihrem Erlaß insoweit, als der Leistungsgewährung ein Bemessungsentgelt von 1.070,– DM zugrunde gelegt wurde, obwohl nur Leistungen nach einem Bemessungsentgelt von ursprünglich 620,– DM hätten gewährt werden dürfen und auf dieser Grundlage dem Kläger insgesamt Alg und Alhi in Höhe des von der Beklagten zutreffend errechneten Betrages in Höhe von insgesamt 12.431,90 DM rechtswidrig zuerkannt worden ist.
2.2. Die Ein-Jahres-Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X hat die Beklagte schon deshalb nicht versäumt, weil sie erst durch das Schreiben des ehemaligen Arbeitgebers vom 10. September 1993 Kenntnis davon erlangte, in welchem Umfang die Bewilligungsbescheide rechtswidrig und deshalb zurückzunehmen waren. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X beginnt erst zu laufen, wenn für eine Rücknahme keine weiteren Ermittlungen mehr erforderlich sind (BSGE 74, 20, 26 = SozR 3-1300 § 48 Nr 32; SozR 3-1300 § 45 Nr 26).
2.3. Schließlich läßt die vom LSG vorgenommene Prüfung, ob der Kläger sich mit Erfolg auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs 2 SGB X berufen kann, Rechtsfehler nicht erkennen. Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X). Es ist unter Einbeziehung der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit des Klägers davon ausgegangen, daß im Hinblick auf das auffällige Mißverhältnis zwischen zuvor erzieltem Einkommen und bewilligter Leistung jedenfalls eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem außergewöhnlich hohen Ausmaße vorgelegen hat. Es hat dem Kläger vorgeworfen, daß er die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen im Hinblick auf die Höhe der Leistungen und das vorher erzielte Entgelt ohne weiteres hätte erkennen können. Diese – vom Kläger in der Revisionsinstanz nicht angegriffenen – Ausführungen sind, soweit vom Revisionsgericht überhaupt nachprüfbar, nicht zu beanstanden. Das LSG hat seine Beurteilung rechtlich zutreffend den subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff zugrunde gelegt (BSGE 74, 20, 24 = SozR 3-1300 § 48 Nr 32 mwN). Die gewählten Formulierungen zeigen ferner, daß es sich der Unterscheidung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit bewußt war.
3. Nichts anders ergäbe sich im übrigen, wenn für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Leistungshöhe der ab 3. Oktober 1992 bewilligten Alhi nach § 136 Abs 2 Nr 1 AFG nicht auf das von der BA von Rechts wegen der Alg-Bemessung zugrunde zu legende Arbeitsentgelt abzustellen wäre (so Ebsen in: Gagel, AFG, § 136 Rz 28), sondern auf das tatsächlich von der BA der Alg-Bemessung zugrunde gelegte Arbeitsentgelt. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung wäre dann auf § 48 Abs 1 SGB X iVm § 152 Abs 3 AFG zu stützen, was im Hinblick auf die übereinstimmende Rechtsfolge und die ähnlich geregelten Voraussetzungen dieser Rechtsfolge in beiden Vorschriften nicht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt (vgl Urteil vom 18. September 1997 – 11 RAr 9/97 –). Insbesondere ergibt sich aus den vom LSG getroffenen Feststellungen auch die Bösgläubigkeit des Klägers iS des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen