Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschlußfrist. Verjährung
Orientierungssatz
1. § 111 SGB 10 findet auf die in § 1504 RVO aF geregelten Erstattungsansprüche grundsätzlich keine Anwendung (vgl BSG vom 6.4.1989 2 Ru 43/88 = SozR 2200 § 1504 Nr 8).
2. Das Leistungsverweigerungsrecht der Verjährung nach § 113 SGB 10 ist nur auf die im pflichtgemäßen Ermessen des verpflichteten Leistungsträgers stehende Einrede zu berücksichtigen.
Normenkette
RVO § 1504 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; RVO § 1504 Abs 2 Fassung: 1977-06-27; SGB 10 § 111 S 1, § 113 Abs 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Erstattungsanspruch der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) gemäß § 1504 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gegen die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) nach § 111 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), ausgeschlossen ist.
Der bei der Beklagten krankenversicherte Asbestzementwerker (E.) wurde vom 13. Oktober 1982 bis zum 16. März 1983 wegen eines Bronchialkarzinoms stationär behandelt. Die Beklagte gewährte ihm die Krankenhauspflege und zahlte ihm Krankengeld in der Zeit vom 8. November 1982 bis zum 15. Juli 1983. Als ihm die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz nachträglich für die Zeit ab 1. März 1983 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt hatte, erstattete die LVA der Klägerin wegen der Krankengeldzahlungen 5.266,30 DM. Die Beklagte teilte der zentralen Erfassungsstelle asbeststaubgefährdeter Arbeitnehmer bei der Textil- und Bekleidungs-BG im Mai 1984 mit, daß sie wegen der Krebserkrankung des E. ein Feststellungsverfahren durchführen werde. Die Klägerin wurde davon nicht unterrichtet. Mit Schreiben vom 10. März 1987 erklärte die Beklagte der Klägerin, E. sei am 6. Januar 1985 an den Folgen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) verstorben. Der Versicherungsfall sei mit Beginn der Arbeitsunfähigkeit des E. am 27. September 1982 eingetreten. Die Beklagte forderte abschließend die Klägerin auf, ihren Erstattungsanspruch geltend zu machen. Als die Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 19. März und 8. Mai 1987 die Erstattung von insgesamt 43.854,26 DM (34.620,- DM an Krankenhauspflegekosten und nach Abzug der Erstattung durch die LVA 9.234,26 DM an Kosten wegen Krankengeldzahlungen) verlangte, lehnte die Beklagte eine Erstattung ab: Der Anspruch der Klägerin gemäß § 1504 RVO aF sei nach § 111 SGB X ausgeschlossen, weil die Klägerin ihn nach Ablauf der in dieser Vorschrift aufgestellten Frist geltend gemacht habe.
Während das Sozialgericht (SG) Lüneburg die Beklagte verurteilt hat, der Klägerin die aus Anlaß der Leistungen an E. wegen der Erkrankung am 27. September 1982 entstandenen Aufwendungen in Höhe von 43.854,26 DM zu erstatten (Urteil vom 16. September 1988), hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. April 1989): Die Klägerin habe zwar - was zwischen den Beteiligten unstreitig sei - gemäß § 1504 RVO aF einen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte in der von der Klägerin geltend gemachten Höhe gehabt. Aber dieser Erstattungsanspruch sei ausgeschlossen und damit erloschen, weil die Klägerin ihn erst nach Ablauf der einjährigen Ausschlußfrist des § 111 SGB X geltend gemacht habe; diese Vorschrift sei auch auf Erstattungsansprüche gemäß § 1504 RVO aF anzuwenden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 1504 RVO aF und § 111 SGB X. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 6. April 1989 - 2 RU 43/88 - entschieden, daß § 111 SGB X nicht auf Erstattungsansprüche nach § 1504 RVO aF anzuwenden sei.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 16. September 1988 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie wendet sich gegen die Entscheidung des Senats vom 6. April 1989 - 2 RU 43/88 - und hält § 111 SGB X auch auf die in § 1504 RVO aF geregelten Erstattungsansprüche für anwendbar. Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Entscheidung sei die Klage unbegründet, da sie - die Beklagte - zu Recht die Einrede der Verjährung erhebe. Diese Einrede könne sie auch noch im Revisionsverfahren erheben, da es ihr nach dem Urteil des BSG vom 6. April 1989 (aaO) praktisch nicht mehr möglich gewesen sei, vor dem Landessozialgericht die Verjährung geltend zu machen. Deshalb sei ihre erstmals im Revisionsverfahren erhobene Einrede der Verjährung ebenso begründet wie in den Fällen, in denen aufgrund einer Rechtsänderung erstmals während des Revisionsverfahrens die Möglichkeit eröffnet werde, sich auf eine Verjährung zu berufen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch gemäß § 1504 RVO aF ist nicht nach § 111 SGB X ausgeschlossen, weil letztere Vorschrift auf die in § 1504 RVO aF geregelten Erstattungsansprüche grundsätzlich keine Anwendung findet. Das hat, unmittelbar bevor das LSG das angefochtene Urteil gefällt hat, der Senat in seiner Entscheidung vom 6. April 1989 (2 RU 43/88, zur Veröffentlichung bestimmt) mit eingehender Begründung entschieden. Daran hält er auch nach erneuter Prüfung in diesem Verfahren fest. Der 9. Senat des BSG teilt, was die Revision im Ergebnis nicht verkennt, die Rechtsauffassung des erkennenden Senats.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem angefochtenen Urteil, die für den Senat bindend sind (§ 163 Sozialgerichts -SGG-), ist der Erstattungsanspruch aus § 1504 RVO in der bis zum 31. Dezember 1988 vor Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) gültig gewesenen Fassung begründet. Darüber waren sich die Beteiligten schon vor dem LSG einig.
Auf die Frage, ob die bereits bis zum 31. Dezember 1982 der Klägerin entstandenen Erstattungsansprüche (s BSG SozR 1300 § 111 Nr 3 und Urteil des Senats vom 6. April 1989 - 2 RU 43/88 -) nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren gemäß § 113 SGB X (eine Verjährungsfrist, die entsprechend § 45 Abs 1 und Abs 4 SGB I aF und zuvor gemäß § 29 Abs 3 RVO aF auch schon vor dem 1. Juli 1983 galt) am 1. Januar 1987 bereits verjährt waren, durfte im Revisionsverfahren nicht mehr eingegangen werden. Denn anders als beim Erlöschen eines Erstattungsanspruchs nach § 111 SGB X ist das Leistungsverweigerungsrecht der Verjährung (§ 222 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-) nach § 113 SGB X nur auf die im pflichtgemäßen Ermessen des verpflichteten Leistungsträgers stehende Einrede zu berücksichtigen (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 11. Aufl S 969; Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, X 3, Rdnr 16 zu § 113, s. Schellhorn in GK-SGB X 3, § 113 Rdnr 14). Sie muß noch vor Schluß der letzten mündlichen Verhandlung des LSG erhoben worden sein. Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Da seit der Entscheidung des LSG in diesem Zusammenhang auch keine Rechtsänderung eingetreten ist, muß die erstmalige Erhebung dieser Einrede im Revisionsverfahren als unzulässig beurteilt werden (s BSGE 6, 283, 288; 42, 135, 137; BVerwG Buchholz 421.2 Hochschulrecht - Allgemeines Nr 37 = USK 74217).
Entgegen der Auffassung der Revision ist der Rechtsänderung insoweit eine vom LSG abweichende, das SG bestätigende Entscheidung des BSG selbst dann nicht gleichzustellen, wenn das Revisionsgericht über die maßgebende Rechtsfrage erstmals zu einem Zeitpunkt entschieden hat, in dem es für die Erhebung der Einrede im Berufungsverfahren aufgrund der Entscheidung des Revisionsgerichts faktisch zu spät war. Mit der Möglichkeit einer von der Rechtsauffassung des LSG abweichenden Entscheidung des Revisionsgerichts ist nicht nur nach Sinn und Zweck eines Revisionsverfahrens zu rechnen, sondern auf diese Möglichkeit kann sich der betroffene Beteiligte auch durch die hilfsweise Erhebung der Einrede der Verjährung jederzeit spätestens im Berufungsverfahren einrichten.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 Abs 4 SGG.
Fundstellen