Entscheidungsstichwort (Thema)
Wesentliche Änderung. Heilungsbewährung. Schonungsbedürftigkeit als Behinderung. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Eine den Anhaltspunkten entsprechende Bewertung des GdB war nicht von Anfang an rechtswidrig, wenn sich die medizinische Lehrmeinung und die Anhaltspunkte ändern.
2. Die im Feststellungsbescheid nach § 4 Abs 1 SchwbG als medizinische Diagnosen aufgeführten Behinderungen treffen keine Regelung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts; sie dienen nur der Begründung des den GdB festlegenden Verwaltungsakts.
Orientierungssatz
1. Für die Frage, ob eine wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 eingetreten ist, kommt es nicht auf den Inhalt des Bewilligungsbescheides, sondern auf die maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse an (Anschluß an BSG vom 3.10.1989 - 10 RKg 7/89 = SozR 1300 § 48 Nr 60).
2. Der Begriff "Heilungsbewährung" kennzeichnet anschaulich den Gesundheitszustand nach einem gewissen Zeitablauf, erlaubt aber keine Aussage zur anfänglichen Bewertung der MdE - etwa nach Operationen oder bei chronischen langwierigen Erkrankungen, die zu Rezidiven neigen, oder nach denen die volle Belastbarkeit nur schrittweise erreicht wird. Der Senat hat schon früher ausgeführt (vgl BSG vom 11.11.1987 - 9a RVs 1/87 = SozR 1300 § 48 Nr 43), daß die Änderung der Verhältnisse hier nicht in der nachträglichen Erkenntnis einer Fehlbewertung der MdE liegt; vielmehr kann der Verdacht auf eine schwerwiegende Erkrankung und die nach ärztlicher Meinung gebotene Schonung zunächst die Höherbewertung der MdE zulassen. Entfällt der Verdacht - sei es auch nur durch Zeitablauf tritt eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ein, die eine Entscheidung nach § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 rechtfertigt. Diese Verdachtsdiagnosen, die die Höhe der MdE beeinflussen, müssen jedoch in den Bescheid aufgenommen werden.
3. Zur objektiven Beweislast für die Veränderung iS des § 48 SGB 10.
4. Ein in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten ergangener Bescheid kann - bei unterstellter zutreffender Tatsachenermittlung - nur dann unrichtig, also rechtswidrig iS der §§ 45, 48 Abs 3 SGB 10, sein, wenn zugleich mit Erfolg behauptet werden kann, die Anhaltspunkte seien selbst unrichtig; nachträglich müsse ein anderer, richtiger Bewertungsmaßstab angewandt werden.
5. Änderungen der Anhaltspunkte können ähnlich wie Rechtsnormen über § 48 SGB 10 für die Zukunft eine Anpassung auch der Bewertung des GdB gebieten.
Normenkette
SchwbG § 4 Abs 1 S 1; SGB 10 § 48 Abs 1 S 1; SchwbG § 4 Abs 1 S 2; SGB 10 § 45
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 27.10.1988; Aktenzeichen L 5 Vb 814/87) |
SG Kassel (Entscheidung vom 10.06.1987; Aktenzeichen S 6 Vb 106/86) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) - jetzt Grad der Behinderung - (GdB) bei unveränderter Bezeichnung der Behinderungen.
Der 1949 geborene Kläger leidet seit vielen Jahren an den Folgen von Tuberkulose (1976 Operation der Achillessehne rechts; 1977 Entfernung einer Niere). Bei einer operativen Versteifung des Sprunggelenks im Sommer 1983 ergab sich, daß auch die hier vorliegenden Beschwerden tuberkulöser Natur waren. Vor der Operation war die MdE zuletzt auf 70 vH festgelegt worden wegen "Tuberkuloseerkrankung mit Verlust der linken Niere und Bewegungseinschränkung am rechten Sprunggelenk". Nach der Operation wurde die MdE mit Neufeststellungsbescheid vom 21. November 1983 auf 80 vH festgelegt, wobei die Behinderungen wie folgt bezeichnet wurden: "Operative Sprunggelenksversteifung; Verlust der linken Niere". Mehr als zwei Jahre später wurde mit Bescheid vom 2. April 1986 die Gesamt-MdE nach Anhörung des Klägers auf 50 vH herabgesetzt; die Bezeichnung der Behinderungen blieb unverändert. Der Bescheid wurde in zwei Instanzen bestätigt (Urteil des Sozialgerichts Kassel -SG- vom 10. Juni 1987, Urteil des Hessischen Landessozialgerichts -LSG- vom 27. Oktober 1988). Das LSG hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig, weil eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten sei, die zu einer Neufestsetzung der MdE nach § 48 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) berechtige. Zum einen befinde sich die operative Sprunggelenksversteifung nicht mehr im akuten Stadium; zum anderen sei der Verdacht entfallen, daß die Tuberkulose weiter fortschreite. Diese früher als Heilungsbewährung bezeichnete Entwicklung habe der Beklagte als wesentliche Änderung berücksichtigen dürfen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, seit dem Bescheid von 1983 hätten sich die Verhältnisse nicht wesentlich geändert. Die Operation habe damals bereits knapp fünf Monate zurückgelegen; die Tuberkulose sei nicht mehr behandelt worden. Die Niere sei entfernt und das Gelenk versteift gewesen. Dieser Zustand bestehe nach wie vor, weshalb die anerkannten Behinderungen auch unverändert im angefochtenen Bescheid beibehalten worden seien. Der Vorbescheid habe im Verfügungssatz nicht kenntlich gemacht, daß wegen des Tuberkuloseverdachts und/oder der Nähe zur Operation des Sprunggelenks die MdE nur vorläufig auf 80 vH festgesetzt worden sei. Interne Verwaltungsverfügungen könnten nicht zur Auslegung des Bescheids herangezogen werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Oktober 1988 sowie das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 10. Juni 1987 und den Bescheid des Beklagten vom 2. April 1986 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er räumt ein, daß die im Bescheid von 1983 aufgeführten Gesundheitsstörungen an sich nur eine MdE um 50 vH bewirkten. Es habe sich seit 1983 eine wesentliche Änderung daraus ergeben, daß sich die Verhältnisse konsolidiert hätten. Der Operationserfolg sei gesichert und der Verdacht, daß sich die Tuberkulose wieder aktiviere, sei nunmehr ausgeräumt. Diese Veränderungen rechtfertigten eine Herabsetzung der MdE. Auch unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung sei der angefochtene Bescheid richtig.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Die vom Kläger beanstandete Herabsetzung der rechtsverbindlichen Bemessung der MdE (§ 3 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz -SchwbG- vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 -) auf 50 vH, neuerdings GdB (§ 3 Abs 2 und 3, § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF vom 24. Juli 1986 - BGBl I 1110 -/26. August 1986 - BGBl I 1421 -) beruht auf § 48 SGB 10 (vom 18. August 1980 - BGBl I 1469). Nach dieser Vorschrift können Verwaltungsakte mit Dauerwirkung insoweit für die Zukunft geändert werden, als in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei ihrem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Für diese Änderung kommt es nicht auf den Inhalt des Bewilligungsbescheides, sondern auf die maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse an (Anschluß an Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. Oktober 1989 - 10 RKg 7/89 -). Da es hier nicht um eine Leistungsbewilligung im üblichen Sinn, sondern um die Feststellung und Bewertung von Behinderungen geht, sind sowohl bei der Rechtsverbindlichkeit als auch bei der Änderung Besonderheiten zu beachten.
Wie der Senat schon in seinem Urteil vom 26. Oktober 1989 - 9 RVs 4/88 - ausgeführt hat, ist es bedenklich, der jeweiligen Bewertung aller Behinderungen im Schwerbehindertenrecht durch einen bestimmten Grad der Erwerbsminderung in gleicher Weise wie in sonstigen Gebieten der sozialen Entschädigung, die vom Kausalitätsgrundsatz beherrscht werden, Rechtsverbindlichkeit auf unbeschränkte Dauer zuzuerkennen und diese Anerkennung als begünstigende Leistung zu bezeichnen. Für die Fälle der Bewilligung von Krankenhauspflege ist dies im Krankenversicherungsrecht ebenso gesehen worden und die Anpassung der Bewilligungsbescheide gemäß dem jeweiligen Stand der medizinischen Beurteilung für zulässig gehalten worden (vgl BSG SozR 1300 § 47 Nr 2). Ersichtlich hat der Gesetzgeber im Schwerbehindertenrecht jedoch die Rücknahme und Änderung begünstigender Verwaltungsakte entsprechend dem allgemeinen Verfahrensrecht durchführen wollen; § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF schrieb eine entsprechende Anwendung des § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vor, und § 4 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF ordnet ergänzend die entsprechende Geltung des SGB 10 an.
Der angefochtene Verwaltungsakt wird vom Beklagten auf eine tatsächliche Änderung gestützt, die früher mit dem Begriff "Heilungsbewährung" umschrieben worden ist. Dieser Begriff kennzeichnet anschaulich den Gesundheitszustand nach einem gewissen Zeitablauf, erlaubt aber keine Aussage zur anfänglichen Bewertung der MdE - etwa nach Operationen oder bei chronischen langwierigen Erkrankungen, die zu Rezidiven neigen, oder nach denen die volle Belastbarkeit nur schrittweise erreicht wird. Der Senat hat daher schon früher ausgeführt (BSG SozR 1300 § 48 Nr 43), daß die Änderung der Verhältnisse hier nicht in der nachträglichen Erkenntnis einer Fehlbewertung der MdE liegt; vielmehr kann der Verdacht auf eine schwerwiegende Erkrankung und die nach ärztlicher Meinung gebotene Schonung zunächst die Höherbewertung der MdE zulassen. Entfällt der Verdacht - sei es auch nur durch Zeitablauf - tritt eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ein, die eine Entscheidung nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB 10 rechtfertigt (vgl auch BSGE 17, 295, 296 f). Diese Verdachtsdiagnosen, die die Höhe der MdE beeinflussen, müssen jedoch in den Bescheid aufgenommen werden. Schon um der Klarheit willen müssen die vermuteten und befürchteten Erkrankungen, die durch ärztlich gebotene Einschränkungen in der Lebensführung Behinderungen verursachen, kenntlich gemacht werden (so entsprechend für die Rentenversicherung BSG Urteil vom 22. Mai 1974 - 12 RJ 298/73 - besprochen in DRV 1974 S 387), weil erst sie die Höhe der MdE begründen. Soweit die Verwaltung bei bösartigen Geschwulsterkrankungen aus humaner Rücksicht für die Betroffenen von einer Offenlegung des Verdachts ausnahmsweise absieht, hat der Senat dieses Vorgehen gebilligt (vgl SozR 1300 § 48 Nr 43). Humane Gründe können aber im vorliegenden Fall die unvollständige Begründung nicht rechtfertigen, denn die Tuberkuloseerkrankung war dem Kläger bekannt. Schon 1981 war die Schwerbehinderung wegen "Tuberkuloseerkrankung mit Verlust der linken Niere" anerkannt worden. Auch 1983 berief sich der Kläger im Verwaltungsverfahren auf seine Grunderkrankung als Ursache fortbestehender Behinderungen.
Im Schwerbehindertenrecht ist der Begründungszwang verstärkt und besonders im Gesetz hervorgehoben. Nach § 4 Abs 1 SchwbG nF stellen die Behörden nicht nur den Grad der Behinderung, sondern gerade auch das Vorliegen einer Behinderung fest. Die festzustellende Behinderung ist damit - anders als sonstige Begründungen (vgl § 35 Abs 2 SGB 10) - grundsätzlich nicht entbehrlich. Erst in Verbindung mit dieser Feststellung wird der Verwaltungsakt, der die Höhe der MdE/bzw des GdB regelt (§ 31 SGB 10), inhaltlich hinlänglich bestimmt und damit nachprüfbar. Um einen Verfügungssatz handelt es sich bei den Bezeichnungen der Behinderungen - entgegen der Auffassung des Klägers - allerdings nicht. Nur deshalb können die Anerkennungsbescheide im Schwerbehindertenverfahren Bestand haben, obwohl die Versorgungsverwaltung insoweit nicht dem gesetzlichen Auftrag des § 3 Abs 1 SchwbG genügt. Denn sie führt im Bescheid gerade nicht die Auswirkung von nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigungen auf, die ihrerseits auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruhen. Stattdessen bezeichnet sie regelwidrige Zustände mit medizinischen Diagnosen. Der Übernahme einer solchen Diagnose in den Bescheidtext fehlt der Entscheidungs- oder Regelungscharakter auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Die gestellte Diagnose ist lediglich eine zur Begründung von Entscheidungen geeignete Tatsache; sie faßt die Gesamtheit der Behinderungen unter einen Begriff und begründet so die Verwaltungsentscheidung, die allein den Grad der Behinderung betrifft.
Mit diesen Aussagen steht der Senat nicht im Widerspruch zu Anerkennungsbescheiden im sonstigen Entschädigungsrecht oder in der Unfallversicherung. Soweit hier "Krankheiten anerkannt" werden, trifft die Verwaltung eine rechtliche Zuordnung, weil zugleich darüber entschieden wird, daß eine bestimmte Erkrankung auf bestimmte schädigende Ereignisse, Unfälle, Berufskrankheiten usw zurückzuführen ist. Insoweit ist die medizinisch-diagnostische Bezeichnung auch deshalb von Bedeutung, weil infolge der Anerkennung einer Erkrankung für sie Heilbehandlung zu gewähren ist. Trotz der Verweisung in § 4 Abs 2 SchwbG mit der Verpflichtung zur Übernahme anderweiter Feststellungen ist somit die Rechtslage nach dem SchwbG grundsätzlich anders. Die Verwaltung müßte einen für das Lebensalter untypischen regelwidrigen Zustand und die Auswirkungen der hierauf beruhenden Funktionsbeeinträchtigungen feststellen. Ob derartige Feststellungen - sofern sie denn einmal getroffen würden - Verfügungssätze und damit der Bindungswirkung zugänglich wären, kann der Senat hier offenlassen. Derartige Feststellungen hat der Beklagte nicht getroffen.
Nach einer derartigen Feststellung hat aber auch der Kläger nicht verlangt. Er hat aus der stichwortartigen Begründung iVm den Vorbescheiden gewußt, daß die ihm zugestandene MdE auf Behinderungen durch Operationsfolgen bei noch aktiver Tuberkulose beruhte; der Verdacht auf neue Manifestationen der langjährigen Erkrankung war damals nicht ausgeräumt. Ein Verwaltungsakt ist aber genügend bestimmt, wenn sich sein Inhalt im Wege der Auslegung aus dem objektiven Erklärungsgehalt und der Sicht des Adressaten bestimmen läßt (vgl BSGE, 56, 274, 278 und Urteile vom 12. Dezember 1985 - 7 RAr 122/84 - und 26. Februar 1986 - 9a RV 36/84 - mwN; BVerwG Buchholz 316 § 37 VwVfG Nr 4). Der Kläger hat damals den Bescheid richtig verstanden. Das Klageziel im vorliegenden Verfahren steht jedoch zu dieser Erkenntnis in Widerspruch, indem behauptet wird, die MdE sei unrichtig, nämlich zu hoch, festgesetzt, die Behinderung jedoch zutreffend, nämlich ohne die Tuberkulose, anerkannt worden. Die unrichtige MdE sei zu belassen, denn es habe sich bei den Behinderungen nichts geändert. Der Kläger greift somit zur Prüfung der Änderung auf den - unvollständigen - Bescheidtext und nicht auf sein ursprüngliches Verständnis des Verwaltungsakts sowie die tatsächlichen Gegebenheiten zurück. Damit verkennt er, daß § 48 SGB 10 ausschließlich an die erkennbar gewordene Tatsachenlage anknüpft. Daß die Behinderungsbezeichnung im Bescheid von 1983 entsprechend zu ergänzen ist, wurde oben bereits dargelegt.
Dem Kläger ist allerdings zuzugeben, daß auch mit einer um die Tuberkulose ergänzten Begründung noch nicht abschließend festgestellt werden kann, ob die MdE zutreffend bewertet war, also bei einer Änderung im Tatsächlichen nunmehr der jetzige Grad der Behinderung im Bescheid ausgewiesen werden darf. Denn die Neufeststellung nach § 48 Abs 1 SGB 10 darf immer nur soweit gehen, wie die Änderung dies erlaubt. Bei einer Änderung zugunsten des Betroffenen und fehlerhaften Vorentscheidungen muß § 48 Abs 3 SGB 10 beachtet werden (vgl BSGE 60, 287, 291 = SozR 3870 § 3 Nr 27 und Urteil vom 26. Oktober 1989 - 9 RVs 4/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dem Kläger verbleibt im vorliegenden Fall jedoch kein Besitzstand wegen einer teilweise rechtswidrigen begünstigenden Bewertung der MdE. Dies kann der Senat aus den vom LSG getroffenen Feststellungen selbst entscheiden; einer Zurückverweisung bedarf es nicht.
Die objektive Beweislast für die Veränderung iS des § 48 SGB 10 trifft die Versorgungsverwaltung. Ebenso wie sie einen fehlerhaften Verwaltungsakt nicht schon dann für rechtswidrig erklären oder aufheben darf, wenn sie nach neuerem Erkenntnisstand einen solchen nicht erlassen würde, sondern nur dann, wenn der Verwaltungsakt erwiesenermaßen rechtswidrig ist (BSG SozR 1300 § 45 Nr 41), muß sie den Nachweis der Änderung führen, wenn sie eine abweichende Regelung treffen will. Dieser Nachweis setzt aber regelmäßig keine Auseinandersetzung damit voraus, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt in seiner Wertung richtig war, weil es nur auf die tatsächlichen Verhältnisse, nicht aber auf ihre Bewertung ankommt. Will dem aber ein Begünstigter entgegenhalten, daß trotz nachgewiesener Änderung (hier: Fortfall der Verdachtsdiagnose) der ursprüngliche Bescheid rechtswidrig, aber wegen Zeitablaufs bindend sei, obliegt ihm insoweit die Beweislast. Denn nicht die Verwaltung will einen von ihr für unrichtig gehaltenen Verwaltungsakt durch einen rechtmäßigen ersetzen; vielmehr will ein Begünstigter mit dem Ziel, eine Rechtsposition zu behalten, diese Rechtsposition nachträglich für rechtswidrig erklären lassen. Er leitet aus der behaupteten Rechtswidrigkeit Vorteile her.
Die behauptete Rechtswidrigkeit kann der Kläger nicht auf die fehlerhafte Begründung stützen. Das folgt aus dem Rechtsgedanken des § 42 SGB 10. Denn wenn ein Begründungsfehler einen inhaltlich richtigen Verwaltungsakt nicht aufhebbar macht, kann er keine schützenswerte Rechtsposition iS der §§ 45, 48 Abs 3 SGB 10 vermitteln. Die Rechtswidrigkeit könnte der Kläger daher allein aus der Behauptung herleiten, die MdE sei 1983 zu hoch bewertet worden, weil bei ihm die abklingende Tuberkulose keine nennenswerten Behinderungen verursacht hat.
Einer solchen Behauptung ist nicht stets mit einer vollen Beweiserhebung nachzugehen: Zum einen wird in erster Linie der Betroffene selbst das tatsächliche Ausmaß seiner Behinderung kennen und damit beurteilen können, ob der Grad der Behinderung zutreffend eingeschätzt worden ist. Läßt er den Verwaltungsakt bindend werden, stimmt er ihm im Sinne einer inhaltlichen Richtigkeit zu. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß sich der wirkliche Umfang der Behinderung später nicht mehr durch Untersuchung und Begutachtung, sondern nur noch aktenmäßig feststellen läßt. Eines solchen Sachverständigenbeweises nach Aktenlage bedarf es indessen vor allem dann nicht, wenn sich die frühere Bewertung der MdE/des GdB im Rahmen der jeweiligen Anhaltspunkte bewegt. Auch wenn die Anhaltspunkte keine Rechtsnormen sind, vielfach die Grundlagen ihrer Bewertung nicht erkennen lassen und somit ihre objektive Richtigkeit kaum nachprüfbar ist, dienen sie doch der gleichmäßigen Behandlung aller Rechtsunterworfenen (vgl BSG Beschluß vom 26. Oktober 1987 - 9a BVs 39/87 -). Ein in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten ergangener Bescheid könnte somit - bei unterstellter zutreffender Tatsachenermittlung - nur dann unrichtig, also rechtswidrig iS der §§ 45, 48 Abs 3 SGB 10, sein, wenn zugleich mit Erfolg behauptet werden kann, die Anhaltspunkte seien selbst unrichtig; nachträglich müsse ein anderer, richtiger Bewertungsmaßstab angewandt werden.
Die Anhaltspunkte werden immer wieder geändert. So ist dort der regelmäßige 2-jährige Schonzeitraum nach Eintritt der Inaktivität einer Tuberkulose inzwischen entfallen. Die medizinische Einschätzung hat sich geändert. Änderungen könnten ein Indiz dafür sein, daß die früheren Bewertungen unrichtig waren. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache, daß die Anhaltspunkte jeweils den aktuellen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft widerspiegeln, kommt derartigen Änderungen keine Rückwirkung zu. Denn der jeweilige Erkenntnisstand beeinflußt die Therapieempfehlungen. Bei gewissen stummen Erkrankungen folgen die Behinderungen allein aus diesen ärztlichen Verhaltensanweisungen, zB Diät, Ruhepausen, Schonung, verkürzte Arbeitsbelastung, allgemeine Meidung bestimmter Außeneinflüsse (Witterung, Zugluft, Nässe) oder Verordnung von bestimmten Körperhaltungen (Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen usw). Für die Zeitdauer ihrer Geltung sind die Anhaltspunkte Maßstab der Bewertung und machen sie rechtsfehlerfrei, sofern ein Bescheid bindend wird. Für die Zukunft können derartige Änderungen ähnlich wie Rechtsnormen über § 48 SGB 10 eine Anpassung auch der Bewertung des GdB gebieten. Wie zu entscheiden wäre, wenn bei erstmaliger Feststellung der MdE substantiiert gerügt würde, nicht der Einzelfall gebiete eine Abweichung von den Anhaltspunkten - das ist stets zulässig - (Urteil des BSG vom 26. Juni 1985 - 9a RV 40/84 -), sondern die Anhaltspunkte selbst seien formell oder inhaltlich angreifbar (ähnliche Probleme ergeben sich bei der Entwicklung technischer Standards - vgl den Bericht von Dreier in DVBl 1990, 33 -; bei normenkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften - vgl Gerhardt, NJW, 1989, 2233), bleibt ausdrücklich offen.
Da das LSG für den Senat bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) festgestellt hat, daß unter Einbeziehung der Tuberkulose als Grunderkrankung die MdE 1983 entsprechend den Anhaltspunkten bewertet worden ist, durfte der Beklagte der durch Zeitablauf gewonnenen Erkenntnis über die Inaktivität der Tuberkulose im Herabsetzungsbescheid Rechnung tragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen