Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsausschluß im Zugunstenwege bei Grad der MdE. Anrechnung des Mehrbetrages bzw Ruhen des Berufsschadensausgleichs. Anerkennung des besonderen Berufsbetroffenseins als eigenständiger Bemessungsfaktor
Orientierungssatz
1. Zur Zulässigkeit der Berufung wenn streitig ist, ob auf den Berufsschadensausgleich ein Grundrentenbetrag anzurechnen ist, der auf beruflichem Betroffensein beruht.
2. In § 30 Abs 8 BVG ist nur diejenige Erhöhung der Grundrente gemeint, die nach § 30 Abs 2 BVG zu einer Anhebung der MdE und sodann entsprechend § 31 Abs 1 BVG zu einem Mehrbetrag an Grundrente geführt hat. Wegen der gebotenen Anrechnung des Mehrbetrages bzw des Ruhens des Berufsschadensausgleichs ist als Ausnahme von dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Versorgungsanspruchs eine Aufspaltung der MdE in ihren beiden Faktoren nach § 30 Abs 1 und 2 BVG vorzunehmen. Allein der auf § 30 Abs 2 BVG bezogene und tatsächlich zuerkannte MdE-Anteil rechtfertigt es, den entsprechend erhöhten Grundrentenbetrag mit dem Berufsschadensausgleich zu verrechnen bzw dessen Ruhen festzustellen. Eine solche Verknüpfung verbietet es, von einer Anrechnung auf den Berufsschadensausgleich bzw dessen Ruhen abzusehen und insoweit eine Neuberechnung vorzunehmen, ohne den nach § 30 Abs 2 BVG festgestellten eigenständigen Bemessungsfaktor zu beseitigen. Die Höhe der MdE ist mithin keine Vorfrage, sondern Streitgegenstand.
3. Streitigkeiten dieser Art sind, da weder die Grundrente noch die Schwerbeschädigteneigenschaft im Streit stehen, von der Berufung ausgeschlossen (§ 148 Nr 3 SGG). Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich nicht dadurch, daß die Bewertung der MdE nach § 44 SGB 10 zugunsten des Beschädigten erreicht werden soll. Die Unzulässigkeit der Berufung richtet sich auch dann nach § 148 Nr 3 SGG, weil es gleichfalls um die Höhe der MdE geht.
4. Der in der Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils enthaltene Satz: "Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden" bewirkt keine Zulassung der Berufung. Eine - wie hier - irrtümlich erteilte Rechtsmittelbelehrung eröffnet keine Anfechtungsmöglichkeit nach ihrem unrichtigen Inhalt.
Normenkette
SGG § 148 Nr 3 Fassung: 1958-06-25; BVG § 30 Abs 2 Fassung: 1964-02-21, § 30 Abs 8 Fassung: 1982-01-22, § 31 Abs 1; SGB 10 § 44 Fassung: 1980-08-18; BVG § 30 Abs 1 Fassung: 1964-02-21
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.01.1983; Aktenzeichen L 2 V 74/82) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 10.02.1982; Aktenzeichen S 6 V 209/80) |
Tatbestand
Streitig ist, ob auf den Berufsschadensausgleich ein Grundrentenbetrag anzurechnen ist, der auf beruflichem Betroffensein beruht (§ 30 Abs 5 idF des Bundesversorgungsgesetzes -BVG- vom 21. Februar 1964 - BGBl I S 101 = BVG aF - bzw nunmehr § 30 Abs 8 idF des BVG vom 22. Januar 1982 - BGBl I S 21 = BVG nF -).
Der Kläger, der zwischenzeitlich verstorben ist, bezog ab 1960 Berufsschadensausgleich. Dabei wirkte sich auf den Zahlbetrag des Berufsschadensausgleichs aus, daß ihm Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen unter Einbeziehung eines besonderen Berufsbetroffenseins (Bescheid vom 4. September 1958) gewährt worden ist. Sein Begehren, ihm Versorgungsrente ohne Anerkennung einer besonderen Berufsbetroffenheit zu gewähren, blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) entschied, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nur unter Berücksichtigung eines besonderen Berufsbetroffenseins 100 vH betrage (Urteil vom 8. Oktober 1976). Die demgegenüber vom Landessozialgericht (LSG) getroffene Feststellung, daß dem Kläger weiterhin Beschädigtenrente nach einer MdE im allgemeinen Erwerbsleben um 100 vH zu gewähren ist, hob das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 1. Dezember 1978 - 10 RV 19/78 - auf.
Danach begehrte der Kläger, ihm im Zugunstenwege Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen wegen einer allein nach dem allgemeinen Arbeitsmarkt bemessenen MdE um 100 vH zuzuerkennen und beim Berufsschadensausgleich von der Anrechnung eines Mehrbetrages bzw von einem Ruhen abzusehen. Nach verwaltungsmäßiger Ablehnung unter Bezugnahme auf die rechtskräftige Entscheidung des SG (Bescheid vom 6. Mai 1980; Widerspruchsbescheid vom 12. September 1980) verfolgt der Kläger sein Ziel mit der Klage weiter.
Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat das Urteil des SG sowie die mit der Klage angefochtenen Verwaltungsbescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, mit einem neuen Bescheid den Berufsschadensausgleich des Klägers vom 1. Januar 1975 an neu zu berechnen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufung sei nicht wegen § 148 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Der Kläger begehre im Zugunstenwege die Neuberechnung des Berufsschadensausgleichs. Insoweit sei die Höhe der MdE lediglich eine Vorfrage, nicht aber selbst Streitgegenstand. Der Bescheid des Beklagten vom 29. Juli 1965, der wegen eines besonderen Berufsbetroffenseins den dadurch erzielten Mehrbetrag an Grundrente anrechne, sei unrichtig. Die MdE habe bei Bescheiderteilung schon auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 30 Abs 1 BVG) 100 vH betragen. Dies habe die Einvernahme des Sachverständigen Dr.H. ergeben. Der Beklagte sei gem § 44 Abs 4 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) verpflichtet, dem Kläger rückwirkend (§ 44 Abs 4 SGB X) Berufsschadensausgleich ohne Anrechnung zu gewähren.
Mit der - vom erkennenden Senat - zugelassenen Revision rügt der Beklagte im wesentlichen eine Verletzung des § 148 Nr 3 SGG. Das LSG habe - meint der Beklagte - nicht bedacht, daß in erster Linie die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 4. September 1958 im Streit stehe. Hierdurch werde dem Kläger Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen unter Berücksichtigung eines besonderen Berufsbetroffenseins zuerkannt. Danach habe das Versorgungsamt den Berufsschadensausgleich unter Anrechnung des erzielten Mehrbetrags bemessen. Die Neuberechnung des Berufsschadensausgleichs mit dem Ziel, von einer solchen Anrechnung Abstand zu nehmen, setze eine Änderung der MdE-Feststellung voraus. Darauf sei das Begehren des Klägers gerichtet. Mithin sei ein Streit über die Höhe der MdE anhängig, hinsichtlich dessen die Berufung ausgeschlossen sei. Die MdE sei bei der Neuberechnung des Berufsschadensausgleichs nicht nur als Vorfrage zu werten, wovon das Berufungsgericht rechtirrig ausgehe. Überdies sei dem Kläger ab März 1981 und somit noch vor Erlaß des erstinstanzlichen Urteils der Berufsschadensausgleich entzogen worden; es habe sich wegen Vollendung des 65. Lebensjahres und der damit eingetretenen Minderung des Vergleichseinkommens rechnerisch ein Einkommensverlust nicht mehr ergeben (Bescheid vom 2. April 1981).
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 17. Januar 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 10. Februar 1982 als unzulässig zu verwerfen.
Die Ehefrau des Klägers beantragt nach dessen Tod als Rechtsnachfolgerin, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Die Berufung des Klägers ist teilweise unzulässig, zum Teil auch unbegründet. Im übrigen ist der Rechtsstreit, soweit er wegen der Entziehung des Berufsschadensausgleichs gem § 96 SGG noch anhängig ist, an das SG zur abschließenden Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Ehefrau des Klägers hat das nach dessen Tod unterbrochene Revisionsverfahren wiederaufgenommen (§ 202 SGG iVm § 239 Abs 1 Zivilprozeßordnung). Sie war hierzu als Sonderrechtsnachfolgerin befugt, da sie beim Tode des Klägers als dessen Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hatte (§ 56 Abs 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - - SGB I -).
Dem LSG war es nicht gestattet, über die Höhe der MdE selbständig und unabhängig von der bescheidmäßigen Festlegung (Bescheid vom 4. September 1958) als Vorfrage zu entscheiden. Die im Rahmen des § 44 SGB X vorgenommene Bewertung der MdE durch das LSG - Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und nicht, wie ehedem, unter Einbeziehung eines besonderen Berufsbetroffenseins nach § 30 Abs 2 BVG - betrifft den Grad der MdE. Insoweit ist die Berufung ausgeschlossen (§ 148 Nr 3 SGG). Dem Berufungsgericht war es deshalb verwehrt, über die MdE sachlich zu entscheiden. Dies hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten (BSGE 2, 225, 226 mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum; 21, 292, 294 = SozR Nr 10 zu § 147 SGG; RGZ 110, 172; BGHZ 6, 369, 370).
Mithin hat der Verwaltungsakt vom 4. September 1958, der die Höhe der MdE festgestellt hatte und der mit rechtskräftigem Urteil des SG vom 8. Oktober 1976 bestätigt worden war, weiterhin Bestand. Dem Kläger stand nach wie vor Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen nur unter Berücksichtigung einer besonderen Berufsbetroffenheit zu. Allein darauf hat die Berechnung des Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs 5 BVG aF bzw nunmehr Abs 8 BVG nF abzustellen. Der Bescheid der Versorgungsverwaltung ist entgegen dem LSG nicht zu beanstanden; er ist rechtmäßig.
Nach § 30 Abs 5 BVG aF ist der durch die Erhöhung der Grundrente wegen besonderen Berufsbetroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) erzielte Mehrbetrag auf den Berufsschadensausgleich anzurechnen bzw ruht nach der inhaltsgleichen Nachfolgevorschrift des § 30 Abs 8 BVG der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente erzielten Mehrbetrages. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist allerdings mißverständlich. Es wird nicht etwa wegen beruflichen Betroffenseins die Grundrente erhöht, sondern nur die MdE. Die Höhe der Grundrente wird allein von der Höhe der MdE und nicht von einer beruflichen Betroffenheit bestimmt. Dies bedeutet, daß nach § 30 Abs 5 BVG aF bzw § 30 Abs 8 BVG nF nur diejenige Erhöhung der Grundrente gemeint ist, die nach § 30 Abs 2 BVG zu einer Anhebung der MdE und sodann entsprechend § 31 Abs 1 BVG zu einem Mehrbetrag an Grundrente geführt hat (BSG BVBl 1969 S 46). Wegen der gebotenen Anrechnung des Mehrbetrages bzw des Ruhens des Berufsschadensausgleichs ist als Ausnahme von dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Versorgungsanspruchs (BSGE 11, 26, 28) eine Aufspaltung der MdE in ihren beiden Faktoren nach § 30 Abs 1 und 2 BVG vorzunehmen (BSGE 36, 285, 290 = SozR Nr 69 zu § 30 BVG; BSGE 37, 80, 84 = SozR 3100 § 30 Nr 1; SozR 1500 § 99 Nr 2; SozR Nr 46 zu § 30 BVG; BSG BVBl 1974 S 41). Dementsprechend ist mit dem Bescheid vom 4. September 1958 und der rechtskräftigen Bestätigung durch Urteil des SG vom 8. Oktober 1976 das besondere Berufsbetroffensein des Klägers als eigenständiger Bemessungsfaktor neben dem des § 30 Abs 1 BVG mit 10 vH rechtsverbindlich bewertet worden (§§ 77, 141 SGG).
Allein der auf § 30 Abs 2 BVG bezogene und dem Kläger tatsächlich zuerkannte MdE-Anteil rechtfertigt es, den entsprechend erhöhten Grundrentenbetrag mit dem Berufsschadensausgleich zu verrechnen bzw dessen Ruhen festzustellen (BSG SozR 3100 § 30 Nr 9). Eine solche Verknüpfung verbietet es, von einer Anrechnung auf den Berufsschadensausgleich bzw dessen Ruhen abzusehen und insoweit eine Neuberechnung vorzunehmen, ohne den nach § 30 Abs 2 BVG festgestellten eigenständigen Bemessungsfaktor zu beseitigen. Die Höhe der MdE ist mithin keine Vorfrage, wie das Berufungsgericht meint, sondern gerade Streitgegenstand.
Streitigkeiten dieser Art sind jedoch, da weder die Grundrente noch die Schwerbeschädigteneigenschaft im Streit stehen, von der Berufung ausgeschlossen (§ 148 Nr 3 SGG). Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich nicht dadurch, daß die Bewertung der MdE nach § 44 SGB X zugunsten des Klägers erreicht werden soll. Die Unzulässigkeit der Berufung richtet sich auch dann nach § 148 Nr 3 SGG, weil es gleichfalls um die Höhe der MdE geht. Allein dies ist entscheidend (BSG SozR Nr 34 zu § 148 SGG). Aufgrund dessen ist das Berufungsurteil in bezug auf die Höhe der MdE mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet (BSGE 1, 283, 286; 2, 157, 158; BSG SozR Nrn 40 und 191 zu § 162 SGG; BVerwGE 13, 239, 240 f; 30, 111, 113).
Ebensowenig bewirkt der in der Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils enthaltene Satz: "Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden" eine Zulassung der Berufung. Eine - wie hier - irrtümlich erteilte Rechtsmittelbelehrung eröffnet keine Anfechtungsmöglichkeit nach ihrem unrichtigen Inhalt (BSGE 5, 92, 95 und ständige Rechtsprechung).
Ist aber der prozessuale Anspruch, die MdE-Bewertung zu ändern, im Berufungsverfahren nicht durchsetzbar, verbleibt es bei der bisherigen rechtsverbindlichen Feststellung. Daraus folgt, daß der weitere vom Kläger geltend gemachte prozessuale Anspruch auf Neuberechnung des Berufsschadensausgleichs, der sich gerade auf die veränderte MdE-Bewertung stützt, unbegründet ist.
Der Senat vermag indessen nur insoweit abschließend zu entscheiden (§ 170 Abs 2 SGG), als es hier um die MdE-Bewertung bzw Neuberechnung des Berufsschadensausgleichs geht. Gegenstand des Klageverfahrens ist auch der nach Klageerhebung ergangene Bescheid vom 2. April 1981 geworden (§ 96 SGG), aufgrund dessen dem Kläger der Berufsschadensausgleich mit Ende Februar 1981 entzogen worden ist. Über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides hat das SG bisher noch nicht entschieden. Um dies nachholen zu können, wird in diesem Umfang der Rechtsstreit zur Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen.
Mangels eines zur Zeit der Berufungseinlegung rechtsverbindlichen Entzugs des Berufsschadensausgleichs trifft der Einwand des Beklagten, im Berufungsverfahren sei Streitgegenstand nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume gewesen, weshalb die Berufung ebenfalls nicht zulässig sei (§ 148 Abs 2 SGG), nicht zu.
Das SG hat auch über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen