Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruchsbegründender Personenkreis nach BVG. abgeleiteter Versorgungsanspruch. tatrichterliche Überzeugungsbildung bei historischen Tatsachen
Leitsatz (amtlich)
Verschleppung iS des § 5 Abs 1 Buchst d BVG kann auch eine im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen durchgeführte Verhaftung sein. Sie muß im Unterschied zu dem gleichlautenden Rechtsbegriff in anderen Kriegsfolgegesetzen nicht die Verbringung ins Ausland zum Ziele haben (Aufgabe von BSG 27.1.1970 9 RV 50/67 = SozR Nr 44 zu § 5 BVG; Ergänzung zu BSG 26.4.1960 10 RV 240/57 = SozR Nr 26 zu § 5 BVG).
Leitsatz (redaktionell)
1. Von einer unmittelbaren Kriegseinwirkung iS des § 1 Abs 2 Buchst a BVG ist immer dann auszugehen, wenn einer der Tatbestände des § 5 Abs 1 BVG verwirklicht ist.
2. Unter Verschleppung (§ 5 Abs 1 Buchst d BVG) ist die zwangsweise rechtswidrige Verbringung eines Menschen an einem anderen Ort oder die Behinderung seiner Rückkehr zu verstehen. Unerheblich ist, daß der schädigende Vorgang nicht durch feindliche Truppen, sondern durch Angehörige einer deutschen Einheit verursacht worden ist. Auf Verschleppung nur iS eines grenzüberschreitenden Tuns kommt es nicht an.
Orientierungssatz
1. Es ist rechtlich ohne Belang, ob der Gehörte selbst - im Falle seines Überlebens - in den persönlichen Anwendungsbereich der §§ 7 oder 8 BVG gefallen wäre. Für den nach § 38 BVG abgeleiteten Versorgungsanspruch ist allein rechtserheblich, daß in seiner Person ein Schädigungstatbestand iS des § 1 ff BVG erfüllt ist. Damit gilt er jedenfalls als ein "anderes Kriegsopfer", dem nach § 7 Abs 1 Nr 3 BVG Versorgung zugestanden hätte.
2. Sind die zu berücksichtigenden Tatsachen historischer Natur und allgemeinkundig, bedürfen sie der tatrichterlichen Überzeugungsbildung von ihrer Richtigkeit nicht.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d, § 1 Abs. 2 Buchst. a; HkG § 1 Abs. 3; KgfEG § 2 Abs. 2; HHG § 1 Abs. 5; BVG § 7 Abs. 1 Nr. 3, §§ 8, 1 Abs. 2 Buchst. d; SGG § 128; BVG § 38
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 17.05.1982; Aktenzeichen L 11 V 1759/81) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 28.07.1981; Aktenzeichen S 13 V 1680/79) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Hinterbliebenenversorgung gemäß § 38 Bundesversorgungsgesetz (BVG) streitig.
Die 1905 geborene Klägerin lebt seit März 1978 als Spätaussiedlerin in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist die Witwe des im Jahre 1908 in O. in der Ukraine (UdSSR) geborenen und durch Beschluß des Amtsgerichts Pforzheim vom 23. August 1978 für tot erklärten J. St..
St. war in der Landwirtschaft tätig. Aus Gründen, die nicht weiter aufgeklärt werden konnten, wurde er im Mai 1942 in seinem Wohnort O. von Angehörigen der SS festgenommen und ohne gerichtliches Verfahren einige Zeit darauf an einem von O. etwa 30 km entfernten Ort erschossen.
Der Antrag der Klägerin auf Witwenrente verfiel der Ablehnung (Bescheid des Versorgungsamts vom 15. Januar 1979, Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts vom 27. Juni 1979). Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, die Erschießung sei zwar offensichtliches Unrecht iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG, die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen seien aber nicht erfüllt. St. habe weder militärischen noch militärähnlichen Dienst geleistet, noch hätten 1942 allgemeine Auflösungserscheinungen bestanden. Ebenso sei § 1 Abs 2 Buchst a BVG iVm § 5 Abs 1 Buchst d BVG nicht anwendbar. Die Ukraine sei 1942 weder deutsches noch ehemals deutsch besetztes Gebiet gewesen. Es fehle auch am Merkmal der Verschleppung. Dieser Begriff setze die zwangsweise Verbringung in ein ausländisches Staatsgebiet voraus. St. sei aber nur 30 km von seinem Heimatort entfernt getötet worden. Aufgrund der erkennbar gewordenen Umstände biete auch § 1 Abs 2 Buchst a BVG iVm § 5 Abs 1 Buchst e keine Anspruchsgrundlage.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 1 Abs 2 Buchst a BVG iVm § 5 Abs 1 Buchst d BVG). Der Tod des St. sei - meint sie - durch eine gesetzlose Bestrafungsaktion infolge einer mit der militärischen Besetzung ehemals deutsch besetzten Gebietes verbundenen besonderen Gefahrenlage eingetreten. Auch habe St. infolge einer mit der Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr den Tod gefunden. Die Verschleppung erfordere nicht die Verbringung in ein fremdes Staatsgebiet. Sie setze nur eine Ortsveränderung oder die Verhinderung der Rückkehr voraus.
Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen und die Bescheide des Beklagten aufzuheben und ihn zu verurteilen, den Tod ihres Ehemannes als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihr ab 1. April 1978 die gesetzliche Witwenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung gemäß § 38 BVG. Denn ihr Ehemann ist an den Folgen einer Schädigung gestorben (§ 1 Abs 5 iVm § 1 Abs 1 und Abs 2 Buchst a, § 5 Abs 1 Buchst d BVG).
Die Klägerin gehört zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen (§ 7 Abs 1 Nr 1 BVG). Sie lebt nach ihrer Aussiedlung von März 1978 an im Geltungsbereich des BVG und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Hingegen ist es rechtlich ohne Belang, ob St. selbst - im Falle seines Überlebens - in den persönlichen Anwendungsbereich der §§ 7 oder 8 BVG gefallen wäre. Für den nach § 38 BVG abgeleiteten Versorgungsanspruch ist allein rechtserheblich, daß in der Person des St. ein Schädigungstatbestand iS des § 1 ff BVG erfüllt ist (Wilke/Wunderlich, BVG, 5. Aufl, Anm I 1 § 38 S 438; für das Rentenrecht: BSGE 36, 255, 256 f = SozR Nr 72 zu § 1251 RVO). Damit gilt er jedenfalls als ein "anderes Kriegsopfer", dem nach § 7 Abs 1 Nr 3 BVG Versorgung zugestanden hätte.
Die Vorinstanzen haben zutreffend die Tötung des St. durch Angehörige der SS nach den Umständen des Falles als offensichtliches Unrecht gewertet, jedoch eine Schädigung iS des § 1 Abs 2 Buchst d BVG verneint, weil diese Maßnahme weder mit dem militärischen oder militärähnlichen Dienst noch mit allgemeinen Auflösungserscheinungen in einem Zusammenhang gestanden hatte. Von einem beginnenden Zusammenbruch der militärischen Ordnung (BSG Breithaupt 1959 S 1022; auch BSGE 4, 289, 290) konnte zur Zeit des St. zugefügten gewaltsamen Todes im Jahre 1942 nicht die Rede sein. Historisch gesichert ist, daß seinerzeit die Sommeroffensive der deutschen Truppen unmittelbar bevorstand; sie begann am 28. Juni 1942 (Philippi/Heim "Der Feldzug gegen Sowjetrußland 1941 bis 1945" S 133). Die Frontlinie verlief zu diesem Zeitpunkt von Taganrog am Asowschen Meer nach Norden in Richtung Charkow. Sie grenzte an den Bezirk Stalino (Donezk) an, in dem die Tat geschehen ist.
Gleichwohl hat die Klägerin Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung. Denn der Tod des St. ist durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung iS des § 1 Abs 2 Buchst a BVG verursacht worden. Davon ist immer dann auszugehen, wenn einer der Tatbestände des § 5 Abs 1 BVG verwirklicht ist (BSGE 2, 29, 30 ff; 2, 256, 268; 5, 116, 117; 12, 99, 102; SozR Nr 42 zu § 5 BVG; BSG-Urteil vom 8. Juli 1980 - 9 RV 44/79 - = VdK-Mitt 1980, Nr 12 S 24 f). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
St. ist nach den Feststellungen des LSG von SS-Angehörigen verhaftet und an einem etwa 30 km von seiner Wohngemeinde entfernten Ort getötet worden. Aufgrund dessen kommt als unmittelbare Kriegseinwirkung die letzte Alternative des § 5 Abs 1 Buchst d BVG "schädigender Vorgänge, die infolge einer mit der Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind" zur Anwendung. Unter Verschleppung ist die zwangsweise rechtswidrige Verbringung eines Menschen an einen anderen Ort (BSG SozR Nr 3 zu § 2 des Gesetzes über die Unterhaltsbeihilfe für Angehörige von Kriegsgefangenen -UBG-) oder die Verhinderung seiner Rückkehr zu verstehen. Diese für das Versorgungsrecht maßgebliche Auslegung, die der umgangssprachlichen Deutung entspricht (Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Ausgabe 1984), läßt allein den gewaltsamen Ortswechsel genügen (BSG SozR Nr 26 zu § 5 BVG). Hingegen ist - was der Senat in seinem Urteil vom 8. Juli 1980 aaO noch offenlassen konnte - entgegen seiner Rechtsprechung (BSG SozR Nr 44 zu § 5 BVG) damit nicht begriffsnotwendig die Überführung in ein ausländisches Staatsgebiet, dh ein für den Betroffenen in bezug auf seine Staatsangehörigkeit fremdes Staatsgebiet verbunden. Für den schädigenden Vorgang ist es auch unerheblich, daß dieser nicht durch feindliche Truppen, sondern durch Angehörige einer deutschen Einheit verursacht worden ist (BSGE 12, 99/100, 102/103 = SozR Nr 27 zu § 5 BVG; BSG SozR Nr 44 zu § 5 BVG; BSG-Urteil vom 25. Mai 1971 - 10 RV 123/70 -, abgedruckt in VdK-Mitt 1971 S 301 und Urteil vom 8. Juli 1980 aaO).
Dieser für das Versorgungsrecht gebotenen Auslegung des Rechtsbegriffs der Verschleppung steht nicht entgegen, daß in anderen Kriegsfolgegesetzen der Tatbestand der Verschleppung nur iS eines grenzüberschreitenden Tuns verstanden wird. So billigt § 1 Abs 3 des Heimkehrergesetzes (HKG) vom 19. Juni 1950 (BGBl I S 221) seit seiner Änderung und Ergänzung vom 17. August 1953 (BGBl I S 931) denjenigen Deutschen Entschädigung zu, die in ein ausländisches Staatsgebiet verschleppt waren. Das Bedürfnis, diesen Personenkreis in das HKG einzubeziehen, beruht darauf, daß Deutsche zum Zwecke der Arbeitsleistung nach "Rußland oder in einen seiner Satellitenstaaten" oder ins Ausland verbracht worden waren (RdSchr des BMA vom 28. September 1953 -IIc 5/668/53-2995.15-, abgedruckt in Schönleiter, BVG, Anhang nach HKG Nr 5; VGH Kassel, Urteil vom 13. Dezember 1957 - OS II 61/56 - und VGH Mannheim, Urteil vom 22. Juni 1956 - 1 S 67/56 -). Nach der zum HKG ergangenen Verwaltungsvorschrift Nr 17 gilt als verschleppt, wer gegen seinen Willen in ein ausländisches Staatsgebiet gebracht worden ist und an seiner Rückkehr gehindert war. Gleichfalls ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu § 2 Abs 2 Ziff 1 Buchst b Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz (KgfEG) vom 30. Januar 1954 (BGBl I S 5) das Tatbestandsmerkmal der Verschleppung nur erfüllt, wenn die Verbringung grenzüberschreitend und staatsangehörigkeitsfremd geschehen ist (BVerwGE 16, 79; 17, 27; 19, 204, 208 und ständige Rechtsprechung). Eine solche auslandsbezogene zwangsweise Aufenthaltsbestimmung regelt auch § 1 Abs 5 Häftlingshilfegesetz (HHG) vom 6. August 1955 (BGBl I S 498) idF der Änderung des Gesetzes vom 29. September 1964 (BGBl I S 1793). Danach gilt als Gewahrsam auch die Zeit, die eine Person gegen ihren Willen in einem ausländischen Staatsgebiet verbracht hatte und an der Rückkehr gehindert war. Das BVerwG hat in seiner zu § 37 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen (G 131) ergangenen Entscheidung den Begriff der Verschleppung im HKG mit dem auslandsbezogenen Gewahrsam in der Vorschrift des HHG als gleichgestellt erachtet (BVerwGE 13, 228, 233). - Überdies enthält auch das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit vom 15. Juli 1951 (BGBl I S 448) diesen Auslandsbezug. § 234a des Strafgesetzbuchs (StGB) stellt erstmals ua "die Verbringung in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes" unter Strafandrohung. Anlaß für diese Gesetzgebung war die Verschleppung aus der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin in den kommunistischen Machtbereich und die dort geschehene rechtsstaatswidrige Verfolgung (BGHStE 30, 2, 3; Leipziger Kommentar 10. Aufl, vor I zu § 234a). § 234a StGB enthält als Gefährdungstatbestand den "Verlust grundgesetzlicher Schutzgarantie" (Leipziger Kommentar aaO RdNr 3); er stellt den grenzüberschreitenden und damit auslandsbezogenen Freiheitsentzug unter Strafe, im Unterschied zu sonstigen Straftaten gegen die persönliche Freiheit.
Die Beschränkung des Rechtsbegriffs der Verschleppung in den genannten Gesetzen auf Auslandssachverhalte erschließt sich aus seinem jeweiligen Regelungsgehalt. Deutsche und deutsche Volkszugehörige, die wegen der Niederlage der deutschen Wehrmacht bzw. des deutschen Reiches von den seinerzeitigen Feindmächten in ihrer Freiheit auf mannigfaltige Weise beschränkt worden waren, sollten Entschädigung erhalten, weil sie Opfer der Beendigung des Krieges geworden sind. Demgegenüber liegt den deutschen Versorgungsgesetzen der Gedanke zugrunde, daß diejenigen Deutschen, "die für ihr Vaterland beim militärischen Dienst oder im Krieg ein besonderes Opfer durch die Hingabe von Leben oder Gesundheit gebracht haben, entschädigt werden sollen" (BSGE 26, 30, 36 = SozR Nr 7 zu § 7 BVG). Entsprechendes gilt für deutsche Volkszugehörige und andere Kriegsopfer: § 7 Abs 1 Ziff 1 bis 3 BVG. Der im BVG normierte Aufopferungsanspruch (BVerfGE 48, 281, 288 mwN) kommt also ua denjenigen zugute, die Opfer von Kriegshandlungen, also von unmittelbaren Kriegseinwirkungen geworden sind (§ 1 Abs 2 Buchst a iVm § 5 Abs 1 Buchst a bis d BVG; BSGE 21, 266, 269 = SozR Nr 5 zu § 7 BVG). Von daher ist es folgerichtig, die Verschleppung dem Schutzbereich des BVG zu unterstellen, ohne an das Erfordernis der Grenzüberschreitung anzuknüpfen. Dafür spricht auch, daß das Tatbestandsmerkmal der Verschleppung in § 5 Abs 1 Buchst d BVG auch in Kenntnis der Terminologie anderer Kriegsfolgegesetze nicht revidiert worden ist.
Allerdings könnten die in § 5 Abs 1 Buchst a bis e BVG genannten Entschädigungstatbestände darauf schließen lassen, daß die Opferlage iS des BVG auf Fälle beschränkt sein soll, in denen jemand in einer engen direkten Beziehung mit kriegerischem Geschehen geschädigt worden ist. Der Wortlaut der in Buchst a bis c enthaltenen Tatbestände scheint dies zu bestätigen. Dort sind "ua Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen", "behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen" oder "besondere Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib und Leben" genannt. Hingegen wird nach dem Gesetzeswortlaut des Buchst d ("schädigende Vorgänge, die mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind") eine solche Unmittelbarkeit mit kriegerischen Ereignissen nicht verlangt (BSG SozEntsch IX/3 § 5 BVG Nrn 13 und 76). Ebenso spricht die gebrauchte Wortwahl "Umsiedlung" anstelle "Räumung oder Evakuierung" für eine extensive Auslegung (vgl BSG-Urteil vom 25. Mai 1971 - 10 RV 123/70 -, abgedruckt in VdK-Mitt 1971 S 301). Die in § 5 Abs 1 BVG normierte Gesetzesinterpretation der "unmittelbaren Kriegseinwirkung" erfordert jedoch auch bei Buchst d, daß das schadensstiftende Geschehen zumindest im Zusammenhang mit dem Krieg steht. Demzufolge müssen Strafverfolgungsmaßnahmen wegen krimineller Taten hier ebenso außer Betracht bleiben wie auch politische oder rassische Verfolgungsmaßnahmen. Solche Tatumstände hat das LSG nicht festgestellt; sie scheiden, wie nachstehend ausgeführt wird, aus.
Zwar bedurfte es nach der Rechtsauffassung des LSG nicht der Feststellung, ob die Verschleppung im Zusammenhang mit dem Krieg gestanden hatte, weil es den Tatbestand der Verschleppung als solchen verneint hat. Wenn aufgrund dessen genaue Feststellungen fehlen, hindert dies den Senat nicht, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 SGG). Die tatsächlichen Umstände, die zu dem Tod des St. geführt hatten, lassen sich zwanglos dem zur Tatzeit herrschenden Kriegsgeschehen im Gebiet Stalino zuordnen. Die zu berücksichtigenden Tatsachen sind historischer Natur und allgemeinkundig (BSGE 43, 124, 127 = SozR 4100 § 41 Nr 28); sie bedürfen der tatrichterlichen Überzeugungsbildung von ihrer Richtigkeit nicht (Meyer-Ladewig, SGG, 1981 Anm 5 zu § 163). Es ist historisch belegt, daß das Unternehmen "Barbarossa" das Ziel verfolgte, Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Geheimbefehl Hitlers vom 18. Dezember 1940: "Hitlers Weisungen für die Kriegsführungen", Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, herausgegeben von Hubatsch, dtv-Dokumente, München 1965 S 96). Als Endziel des Feldzuges nannte Hitler "die Abschirmung gegen das asiatische Rußland auf der allgemeinen Linie Wolga-Archangelsk" (Hubatsch aaO S 97). Vor der am 28. Juni 1942 beginnenden Sommeroffensive der deutschen Wehrmacht (Hillgruber, "Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht - Wehrmachtsführungsstab - Band II: 1. Januar 1942 bis 31. Dezember 1942", S 456) verlief die Ostfront in dem für den Streitfall bedeutsamen Abschnitt ca 80 km östlich der Stadt Stalino. Der südlich von Stalino in der Nähe des Asowschen Meeres gelegene Tatort war ebenfalls etwa 80 bis 100 km von der Front entfernt. Ziel der Sommeroffensive war es, bis zum Kaukasus und Stalingrad vorzudringen (Weisung Hitlers Nr 41 vom 5. April 1942, Hubatsch aaO S 213 ff; Hillgruber, aaO S 47). Bereits im Mai 1942 gab es heftige Kämpfe bei den nördlich von Stalino gelegenen Städten Charkow und Isjum (Philippi/Heim aaO S 123; ebenso Hillgruber, aaO, S 366 ff). Das rückwärtige Frontgebiet, so ua im Bereich Stalino, diente zum Zeitpunkt der Tatausführung als Aufmarschgebiet zur Vorbereitung der Sommeroffensive (Hillgruber, aaO, S 128 f). Es liegt auf der Hand, daß gerade dieses Gebiet besonderen Sicherungsmaßnahmen unterstellt war. Dies war um so mehr geboten, als der von Stalin propagierte Partisanenkrieg (vgl die vom Rat der Volkskommissare und dem Zentralkomitee der VKP(b) vom 29. Juni 1941 erlassene Direktive "über die Ausrufung des allumfassenden Volkskrieges im Hinterland des Feindes" sowie der Beschluß vom 18. Juli 1941 des Zentralkomitees der Partei "über die Organisierung des Kampfes im Hinterland der deutschen Truppen": Boog, Förster, Hoffmann, Klink, Müller, Ueberschär, "Der Angriff auf die Sowjetunion", S 753) ab Frühjahr 1942 an Wirksamkeit mehr und mehr zugenommen hatte (Boog ua aaO S 754, 755). Zum Schutz des rückwärtigen Frontgebiets, das dauernden Unruhen ausgesetzt war (Dallin, "Deutsche Herrschaft in Rußland 1941 - 1945" S 106), unterstanden die Distrikte Stalino, Charkow und die Krim nicht dem am 1. September 1941 errichteten Reichskommissariat Ostland bzw Ukraine (Dallin aaO S 96), sondern weiterhin der Militärverwaltung (Reitlinger "The house built on sand" S 184; Dallin aaO S 105 und 108). Die zuständigen Militärbefehlshaber hatten die Direktiven Hitlers für die Sicherung der besetzten Gebiete zu beachten. Am 23. Juli 1941 erging auf dessen Befehl eine Weisung des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, General Keitels, die ua folgenden Inhalt hatte: "Die zur Sicherung der eroberten Ostgebiete zur Verfügung stehenden Truppen reichen bei der Weite dieser Räume nur dann aus, wenn alle Widerstände nicht durch die juristische Bestrafung der Schuldigen geahndet werden, sondern wenn die Besatzungsmacht denjenigen Schrecken verbreitet, der allein geeignet ist, der Bevölkerung jede Lust zur Widersätzlichkeit zu nehmen. Die entsprechenden Befehlshaber sind mit den ihnen zur Verfügung stehenden Truppen verantwortlich zu machen für die Ruhe in ihren Gebieten. Nicht in der Anforderung weiterer Sicherungskräfte, sondern in der Anwendung entsprechender drakonischer Maßnahmen müssen die Befehlshaber das Mittel finden, um ihre Sicherungsräume in Ordnung zu halten" (Hubatsch aaO S 169). Die eingesetzten Sicherungskräfte hielten sich ganz offensichtlich daran. So wird über wahlloses Vorgehen berichtet, wobei oft kein Unterschied zwischen der friedlichen Bevölkerung und Partisanen gemacht wurde und Sühne- bzw Geiselerschießungen sowie Brandschatzungen vorkamen (Boog ua aaO S 755 und 757). Um die Partisanenbekämpfung erfolgreicher zu gestalten, waren frühzeitig Bestrebungen einer Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und SS im Gange (Boog ua aaO S 1044). SS und Polizei, deren Stellung zunächst etwas zweideutig war, dehnten in den Ostgebieten fortgesetzt ihre Funktionen aus, bis ihnen schließlich aufgrund Hitlers Weisung Nr 26 vom 18. August 1942 die Leitung militärischer Operationen hinter der Front übertragen worden war (Dallin aaO S 109). Bereits mit Erlaß Hitlers vom 17. Juli 1941 waren Polizei und SS polizeiliche Sicherungsaufgaben übertragen worden (Dallin, aaO S 96 Fußnote 1).
Im Lichte dieser historisch belegten Geschehnisse läßt der vom LSG geschilderte Sachverhalt die Feststellung zu, daß St. im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ums Leben kam. St. war seinen Bewachern schutzlos ausgeliefert und ist ohne Gerichtsverhandlung erschossen worden. Infolge dieses durch die SS begangenen Willküraktes ist er einer mit der Verschleppung verbundenen "besonderen" Gefahr erlegen (BSGE 6, 288, 299 ff; zum Begriffsmerkmal der besonderen Gefahr ua BSGE 8, 203, 204 f; 16, 195 = SozR Nr 32 zu § 5 BVG). Der Schädigungstatbestand des § 5 Abs 1 Buchst d BVG letzte Alternative ist damit erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen