Leitsatz (redaktionell)
Ein mit einer verborgen eingebauten Sprengladung versehenes feindliches Armeefunkgerät stellt auch noch im April 1947 in der Hand einer Zivilperson einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich dar.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Juli 1958 und des Sozialgerichts München vom 3. Mai 1955 sowie der Bescheid des Versorgungsamts München II vom 24. März 1953 aufgehoben. Der Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger wegen der Schädigungsfolgen aus dem Unfall vom 2. April 1947 Versorgung vom 1. September 1952 an zu gewähren. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1930 geborene Kläger verletzte sich am 2. April 1947 beim Zerlegen eines amerikanischen Wehrmachtfunkgerätes, in das eine Sprengladung eingebaut war, so daß der rechte Unterarm amputiert werden mußte; er war damals Elektrolehrling bei der AEG. Am 25. September 1952 beantragte er Versorgung wegen Verlusts des rechten Unterarms. Das Versorgungsamt (VersorgA) München II lehnte mit Bescheid vom 24. März 1953 Versorgung ab, da der Kläger grob fahrlässig an amerikanischem Wehrmachtgut hantiert habe. Das Sozialgericht (SG) München, auf das die Sache mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom Oberversicherungsamt München übergegangen war (§ 215 Abs. 2 SGG), wies die Klage mit Urteil vom 3. Mai 1955 ab, weil das Rundfunkgerät in einem verschlossenen Kellerraum gelagert und daraus entfernt worden war. Die Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 28. Juli 1958 als unbegründet zurück. Der Einbau von Sprengkörpern in Wehrmachtzwecken dienende Funkgeräte sei eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlasse. Dieser Gefahrenzustand dauere bis zur Entschärfung des Funkgerätes an. Das Funkgerät sei durch einen nicht mit dem zweiten Weltkrieg in Zusammenhang stehenden Vorgang unbefugt in die Hände des Klägers gelangt, der es von der Rotkreuzdienststelle der US-Streitkräfte erlangt habe. Durch das Dazwischentreten selbständig und verantwortlich handelnder Personen sei der Vorgang nur noch eine mittelbare Kriegseinwirkung. Der Tatbestand des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG sei auch nicht gegeben, weil die Schädigung nicht vor dem 1. August 1945 eingetreten sei. Das LSG ließ die Revision zu.
Gegen das seinem Prozeßbevollmächtigten am 13. August 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 11. September 1958 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Versorgungsanspruch des Klägers dem Grunde nach anzuerkennen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Innerhalb der bis zum 13. Oktober 1958 laufenden Revisionsbegründungsfrist ist die Revisionsbegründungsschrift vom 2. Oktober 1958 eingegangen.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 1 Abs. 2 und 5 Abs. 1 Buchst. e BVG durch unzutreffende Auslegung und Anwendung. Das LSG habe verkannt, daß der kriegseigentümliche Gefahrenbereich noch angedauert habe, als das Funkgerät aus dem Gewahrsam der Besatzungsmacht entfernt worden ist. Der Begriff des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs erfordere weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen. Die Verwendung von Funkgeräten mit eingebauten Sprengkörpern sei eine Kriegsmaßnahme gewesen. Infolge der noch andauernden Gefährlichkeit der Sprengladung, die dem Funkgerät nicht anzusehen war, habe das Gerät im Augenblick der Explosion unmittelbar schädigend auf den Kläger eingewirkt. Der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG sei daher erfüllt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
In Anlehnung an das BSG 1, 72 habe das LSG die Unmittelbarkeit der Kriegseinwirkung verneint; das Funkgerät sei durch unerlaubte Handlung an den Kläger gelangt, wodurch der ursächliche Zusammenhang unterbrochen worden sei.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch begründet. Die Revision hat die Feststellungen des LSG mit einer Verfahrensrüge (§§ 103, 128 SGG) nicht angegriffen. Die tatsächlichen Feststellungen im Sachverhalt sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Die Revision rügt lediglich eine unzutreffende Anwendung sachlich-rechtlicher Vorschriften. Sie bemängelt die Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 2 i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Da § 5 Abs. 1 BVG einen schon in § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG normierten versorgungsrechtlichen Tatbestand der unmittelbaren Kriegseinwirkung näher ausführt, brauchte der Senat nur nachzuprüfen, ob das LSG die spezielle Norm des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG und allenfalls die Kausalitätsnorm verletzt hat. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gilt als unmittelbare Kriegseinwirkung auch eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Um die nachträgliche Auswirkung derartiger kriegerischer Vorgange handelt es sich dann, wenn der schädigende Vorgang einer Gefahrenquelle entspringt, die mit dem Kriegsgeschehen typisch verbunden ist. Das ist, wie auch das LSG angenommen hat, der Fall, wenn das Kriegsgerät, hier das Wehrmachtfunkgerät, mit einer Sprengladung aus Kampfhandlungen des zweiten Weltkrieges an einem allgemein zugänglichen Ort zurückgeblieben ist (BSG 1, 75; 6, 103; 6, 190). Die Schädigung muß nicht in einem engeren zeitlichen oder örtlichen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen stehen. Die Verlagerung des gefährlichen Gegenstands an einen anderen Ort, auch wenn der Beschädigte selbst sie vorgenommen hat, beseitigt nicht notwendig den ursächlichen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen (SozR BVG § 5 Bl. Ca 15 Nr. 29). Zu Unrecht hat indes das LSG angenommen, daß die kriegseigentümliche Gefahrenquelle nicht mehr unmittelbar wirksam war, nachdem das Gerät aus dem amerikanischen Gewahrsam, einem Keller der amerikanischen Rotkreuzdienststelle, entfernt worden ist. Die vom LSG angenommene Folge (Beseitigung der Unmittelbarkeit) würde nur dann eintreten, wenn der Kläger die Gefährlichkeit des Funkgerätes erkannt hätte oder vermöge seiner Einsichtsfähigkeit hätte erkennen müssen (BSG 1, 72; Wilke, BVG Komm. § 5 Anm. V Abs. 3 und 4 S. 73). Hat aber der im Rundfunkgerät eingebaute Sprengkörper noch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen, so kommt es nur darauf an, ob er für den eingetretenen Erfolg (Verletzung des Klägers) ursächlich war (vgl. Haueisen in JZ 1961 S. 9-12).
Im vorliegenden Fall haben drei Bedingungen zum Unfall des Klägers geführt: Die Herausgabe des Funkgeräts an den Kläger, die im Funkgerät eingebaute und noch wirksame Sprengladung sowie das Verhalten des Klägers durch Zerlegen des Funkapparates. Selbst wenn der Beschädigte und andere verantwortliche Personen schuldhaft gehandelt haben, kann bei Abwägung der einzelnen zur Verletzung führenden Bedingungen doch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich des Funkgeräts so überwiegen, daß darin allein die wesentliche Bedingung zum Erfolg und damit die Ursache im Sinne des § 1 und § 5 BVG gesehen werden muß (BSG 6, 102, 188; SozR BVG § 5 Bl. Ca 15 Nr. 29; Entscheidung des erkennenden Senats vom 31. März 1960 - 9 RV 796/56 -). Um die wirksamste rechtliche Bedingung zum Erfolg zu ermitteln, ist abzuwägen das Verhalten der Angestellten der amerikanischen Rotkreuzdienststelle, dasjenige des Klägers beim Empfang und Gebrauch des Gerätes und die Bedeutung des verborgen eingebauten Sprengsatzes in Rundfunkgerät. Da die Angestellten der amerikanischen Rotkreuzdienststelle und der Kläger die Gefährlichkeit des Rundfunkgerätes nicht gekannt haben, kann ihnen Absicht, Vorsatz oder auch nur grobe Fahrlässigkeit bei der Handhabung und Benutzung des Gerätes nicht zur Last gelegt werden. Ihr Verhalten hat zwar jeweils eine Bedingung zum Unfall gesetzt; aber diese Bedingungen sind in ihrer Bedeutung erheblich geringer einzuschätzen als das Fortwirken des unbekannten, vom Kriegsgeschehen noch herrührenden Sprengsatzes des Rundfunkapparats. Die Beseitigung dieses Gefahrenbereichs war nicht durch den Gewahrsamsübergang beendet oder unterbrochen; denn eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs tritt nicht schon mit der Verlagerung oder dem Besitzwechsel ein, sondern erst mit der Kenntnis oder dem Kennenmüssen der Gefährlichkeit oder mit der Beseitigung des Gefahrenbereichs durch Entschärfung des Geräts. Da der Kläger in dieser Hinsicht ahnungslos war und mangels einer Warnung auch sein konnte, ist durch sein Verhalten beim Zerlegen des Funkapparates die Kriegseigentümlichkeit der dem Sprengkörper innewohnenden Gefahren nicht beseitigt worden. Der Kläger, welcher beim Zusammenbruch Deutschlands 15 Jahre alt war, konnte und mußte trotz des Verbots, an feindlichen Wehrmachtgeräten zu hantieren, nicht vorhersehen, daß das Rundfunkgerät eine Sprengladung enthält. Hat aber die Kriegseigentümlichkeit des Gefahrenbereichs im Zeitpunkt des Unfalls fortbestanden und war die dem Sprengkörper innewohnende Gefahr noch wirksam, so kann dem explodierenden Sprengkörper nicht deshalb die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Mitursache abgesprochen werden, weil auch das Verhalten der Personen der Rotkreuzdienststelle zum Eintritt des schädigenden Ereignisses durch Herausgabe des dort gelagerten Gerätes mitgewirkt hat. Bei Abwägung aller Umstände am Zustandekommen des Unfalls muß vielmehr bei der rechtlichen Bewertung der mehreren Bedingungen, die zu dem schädigenden Ereignis geführt haben, das Verhalten der beteiligten Personen als versorgungsrechtlich unbedeutend angesehen werden. Überragende Bedeutung für den Erfolg hat allein der den Beteiligten unbekannte Einbau der Sprengladung in ein sonst harmloses Gerät gehabt. Dieser wesentlichen Bedingung fehlt auch nicht die Unmittelbarkeit des Zusammenhangs mit dem Kriegsgeschehen, weil die Sprengladung zum Zwecke der Zerstörung nach den Bedürfnissen der Kriegführung eingebaut war. Das LSG hat mithin zu Unrecht angenommen, daß infolge des Verhaltens der an der Verlagerung des Rundfunkgeräts beteiligten Personen die dem Gerät innewohnende kriegseigentümliche Gefahr nicht mehr wirksam war. Das LSG hat dadurch den Begriff des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs und die Gefahrenquelle als Ursache des schädigenden Vorgangs verkannt. Der Kläger hat daher das angefochtene Urteil mit Recht wegen Verletzung des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG angegriffen, so daß die Revision begründet ist. Der Senat konnte auch in der Sache selbst entscheiden, da die Revision nur ein Grundurteil beantragt hat. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt enthält zwar keine Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit und erfaßt auch nicht den Leidenszustand, soweit er über den Verlust des rechten Unterarms hinausgeht. Aber nach dem Sachverhalt hatte der Unfall zumindest den Verlust des rechten Unterarmes zur Folge, so daß in jedem Falle Anspruch auf Versorgung in einem rentenberechtigenden Grade ab Beginn des Monats (September 1952) besteht, in dem der Kläger Versorgungsantrag gestellt hat. Das angefochtene Urteil und das die Klage abweisende Urteil des SG München vom 3. Mai 1955 sowie der Bescheid des VersorgA München II vom 24. März 1953 waren daher aufzuheben und der Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, wegen der durch den Unglücksfall vom 2. April 1947 herbeigeführten Schädigungsfolgen Versorgungsrente vom Beginn des Antragsmonats an zu gewähren (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Befugnis des Gerichts zum Erlaß eines Urteils dem Grunde nach ergibt sich aus § 130 SGG.
Die Kostenentscheidung, welche die außergerichtlichen Kosten der drei Rechtszüge betrifft, beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen