Leitsatz (amtlich)
Der für den Rentenbeginn maßgebende Wegfall der Arbeitsunfähigkeit iS der Krankenversicherung (RVO § 580 Abs 1, Alternative 1) gilt auch für solche Verletzten, die nicht bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind.
Normenkette
RVO § 580 Abs. 1 Alt. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 9. Februar 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der als Assistenzzahnarzt in der zahn- und kieferchirurgischen Abteilung des Stadtkrankenhauses F beschäftigte Kläger erkrankte am 21. Januar 1964 an Hepatitis epidemica und wurde stationär bis zum 10. März 1964, anschließend ambulant behandelt; arbeitsunfähig blieb er bis zum 14. Juli 1964, in dieser Zeit wurde ihm sein tarifliches Monatsgehalt weitergezahlt. Am 15. Juli 1964 nahm der Kläger seine Tätigkeit wieder auf. Der Beklagte erkannte die Erkrankung als Berufskrankheit (BK) im Sinne der Nr. 37 der Anlage zur 6. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) an; er gewährte durch Bescheid vom 10. Februar 1965 dem Kläger für die Zeit vom 22. Januar bis zum 9. März 1964 Heilanstaltspflege, anschließend bis zum 14. Juli 1964 Heilbehandlung und für die Zeit vom 15. Juli 1964 an eine vorläufige Rente, welche - entsprechend dem fachärztlichen Gutachten - bis zum 31. Oktober 1964 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H., sodann nach einer MdE um 30 v.H. bemessen wurde.
Mit der hiergegen erhobenen Klage machte der Kläger geltend, er habe für die Zeit vom 22. Januar bis zum 14. Juli 1964 Anspruch auf Gewährung der Vollrente. Da er nicht krankenversichert sei, hätte ihm nach altem Recht vom Tage nach dem Unfall an Rente gewährt werden müssen. Daran habe § 580 der Reichsversicherungsordnung (idF durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz - UVNG - vom 30. April 1963 - RVO nF -) nichts geändert; das in Abs. 1 dieser Vorschrift enthaltene Kriterium "Wegfall der Arbeitsunfähigkeit (AU) im Sinne der Krankenversicherung (KrV)" gelte nur für krankenversicherungspflichtige Personen. Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat durch Urteil vom 9. Februar 1966 die Klage abgewiesen: Für den streitbefangenen Zeitabschnitt komme ein Anspruch des Klägers auf Verletztengeld wegen der Gehaltsfortzahlung nicht in Betracht (§ 560 Abs. 1 Satz 1 RVO nF). Aber auch Verletztenrente habe der Beklagte für diese Zeit nicht zu gewähren. Schon nach § 559 c RVO aF habe die Praxis die Verletzten, denen vom Arbeitgeber das Gehalt weitergezahlt wurde, wie diejenigen behandelt, die nach der RVO krankenversichert waren und Krankengeld bezogen (Lauterbach, UV, 2. Aufl., Anm. 5 zu § 559 c RVO aF). § 580 RVO nF habe im Gegensatz zur früheren Regelung klar bestimmt, daß die Rente für alle Verletzten - einerlei ob gesetzlich krankenversichert oder nicht - gleichmäßig mit dem Tage nach Wegfall der AU im Sinne der KrV beginne; dabei sei es unerheblich, ob der Verletzte wegen der AU Krankengeld erhalte oder nicht. Der Kläger sei auch nicht dadurch benachteiligt, daß er im Gegensatz zu einem krankenversicherungspflichtigen Verletzten für die Zeit vom 22. Januar bis zum 14. Juli 1964 keine Leistungen (Krankengeld oder Verletztengeld) von einem Sozialversicherungsträger erhielt. Krankengeld und Verletztengeld hätten eine Lohnersatzfunktion. Der Kläger habe während der Zeit seiner AU ohne Unterbrechung bereits Entgelt erhalten, sei daher auf den Bezug solcher Ersatzleistungen nicht angewiesen gewesen. Der Grundsatz, daß die Verletztenrentenzahlung allgemein mit der Wiederaufnahme der Arbeit (= Wegfall der AU im Sinne der KrV) einsetze, liege im System der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) mit ihrer abstrakten Schadensberechnung begründet. Ein früherer Rentenbeginn auf Grund der 2. Alternative des § 580 Abs. 1 RVO nF - Beginn der BK-bedingten Erwerbsunfähigkeit (EU) im Sinne der Rentenversicherung - werde vom Kläger nicht geltend gemacht. Das SG hat die - seines Erachtens nach § 145 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene - Berufung zugelassen.
Gegen das am 3. März 1966 zugestellte Urteil hat der Kläger am 1. April 1966 unter Beifügung der Einwilligungserklärung des Beklagten (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG) Sprungrevision eingelegt und sie am 19. April 1966 wie folgt begründet: Bei richtiger Anwendung des § 580 RVO nF hätte das SG den Anspruch des Klägers auf Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. für die Zeit vom 22. Januar bis zum 14. Juli 1964 als begründet ansehen müssen. Bei einem gegen Krankheit nicht Versicherten beginne die Verpflichtung des UV-Trägers zur Rentengewährung unter der Voraussetzung des Bestehens einer zu entschädigenden MdE rückwirkend mit dem Tage nach Beginn der BK. Die vom Kläger begehrte Geldleistung solle einen Ausgleich dafür bilden, daß er in der fraglichen Zeit an den Folgen der BK arbeitsunfähig erkrankte und eben nicht einer gesetzlichen KrV angehörte, die ihn in dieser Zeit etwa mit Krankengeld unterstützt hätte. Die Auslegung des § 580 RVO nF durch das SG bedeute eine - bei der Abfassung des UVNG keinesfalls beabsichtigte - Schlechterstellung gegenüber dem früheren Recht, auf Grund dessen der Kläger für die Zeit vom 22. Januar bis zum 14. Juli 1964 einen Rentenanspruch gehabt hätte. Die Gehaltsfortzahlung während dieser Zeit und die Geldleistungen des Beklagten seien voneinander völlig unabhängig und nicht gegenseitig zu verrechnen. Die UV-Leistungen hätten keine Lohnersatzfunktion; die Erwägung, der Kläger sei auf einen Lohnersatz nicht angewiesen, treffe nicht zu; mit der gleichen Begründung könnte dem Kläger, der nach Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit weiterhin sein volles Gehalt bekomme, auch jeder Rentenanspruch für die Folgezeit verweigert werden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 100 v.H. für die Zeit vom 22. Januar bis zum 14. Juli 1964 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt
Zurückweisung der Sprungrevision.
Er pflichtet dem SG-Urteil bei und führt ergänzend aus, die Geldleistungen der UV hätten unterschiedliche Funktionen. Unfallbedingte AU löse nach § 560 RVO nF den Anspruch auf Verletztengeld aus. Das Verletztengeld solle - wie das Krankengeld der KrV - dem Erkrankten das ersetzen, was er infolge der krankheitsbedingten AU an Entgelt einbüße; bei Entgeltfortzahlung bleibe also für die auf Lohnersatzfunktion abgestimmten Barleistungen während und trotz der fortbestehenden AU kein Raum; für die Zeit der AU bestehe aber auch kein Anspruch auf Verletztenrente. § 580 RVO nF bringe keine Schlechterstellung für den Kläger, sondern gewährleiste nur, daß in der UV der gesetzlich gegen Krankheit Versicherte und der Nichtkrankenversicherte gleichgestellt seien.
II
Die Sprungrevision genügt den Anforderungen des § 161 Abs. 1 SGG und ist somit statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg.
Der Kläger meint, nach dem bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Recht hätte ihm als einem nicht gesetzlich gegen Krankheit Versicherten der Beklagte schon "mit dem Tag nach dem Unfall" - d.h. hier vom 22. Januar 1964 als dem Tage nach dem Beginn der BK an - Rente gewähren müssen; das UVNG bezwecke keine Schlechterstellung des nicht krankenversicherten Personenkreises, daher hätte das SG den § 580 RVO nF konform mit der früheren Rechtslage auslegen müssen.
Dem Ausgangspunkt dieser Darlegungen ist beizupflichten, nicht dagegen den daran geknüpften Folgerungen. Der vor dem 1. Juli 1963 geltende § 559 c RVO aF stellte es bei der Regelung des Rentenbeginns auf eine Differenzierung zwischen zwei Gruppen von "Verletzten" (ihnen sind die Leistungsberechtigten auf Grund der BKVOen gleichgestellt, vgl. § 545 RVO aF, § 551 Abs. 3 RVO nF) ab: Einerseits die "auf Grund der Reichsversicherung gegen Krankheit Versicherten", deren UV-Rente mit dem Wegfall des Krankengeldes aus der KrV beginnen sollte, andererseits die "anderen Verletzten", für die der Tag nach dem Unfall als Anfangstermin vorgesehen war. Die jener Regelung offenbar zugrunde liegende Erwägung, daß die Krankenversicherten während der Zeit ihrer unfallbedingten AU wegen des Bezugs von Krankengeld noch keine Rentenleistungen benötigten, erwies sich schon bald als nicht ganz stichhaltig; denn ein an sich bestehendes KrV-Verhältnis gewährleistete nicht unter allen Umständen den Bezug von Krankengeld in angemessenem Ausmaß. Das Reichsversicherungsamt (RVA) war deshalb bestrebt, den hieraus sich unter Umständen ergebenden Unbilligkeiten durch Auslegung des § 559 c RVO aF abzuhelfen (vgl. die GE in AN 1927 S. 392 Nr. 3272, S. 450 Nr. 3283; 1928 S. 330 Nr. 3307; 1929 S. 304 Nr. 3491; 1930 S. 78 Nr. 3653; 1932 S. 472 Nr. 4483; 1937 S. 169 Nr. 5071). Mochte es dem RVA mit diesem Bestreben noch mehr oder minder gelungen sein, sinnwidrige Ergebnisse abzuwenden, so war ihm das nicht mehr möglich, nachdem der seit 1926 geltende § 559 c auf Grund der Not-VO vom 8. Dezember 1931 (5. Teil, Kap. II, Abschn. 1 § 7) durch den Absatz 2 ergänzt worden war, wonach das Ruhen des Krankengeldes nach § 189 Abs. 1 RVO nicht als Wegfall des Krankengeldes im Sinne des § 559 c Abs. 1 galt. Dies hatte zur Folge, daß Krankenversicherte, deren Krankengeldanspruch wegen Fortzahlung von Arbeitsentgelt während der unfallbedingten AU ruhte, in dieser Zeit weder Krankengeld aus der KrV noch Rente aus der UV erhalten konnten (vgl. Lauterbach, UV, 2. Aufl., Anm. 8 zu § 559 c RVO aF). Diese Konsequenz traf aber eben nur die Verletzten, die Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen waren. Bei "anderen Verletzten" hatte die Weiterzahlung des Arbeitsentgelts nicht dieselbe Wirkung; denn ihnen mußte ja Rente aus der UV vom Tage nach dem Unfall an gewährt werden. Damit war, worauf das Schrifttum zutreffend hinwies (vgl. den Beitrag in Betriebsberater 1949, 209 unter N), ein wirtschaftlich besser gestellter Personenkreis gegenüber den wirtschaftlich schwächeren Krankenkassenmitgliedern begünstigt worden. Die Praxis der UV-Träger versuchte zwar, dieses unbefriedigende Ergebnis dadurch zu vermeiden, daß man auch bei nicht gesetzlich gegen Krankheit versicherten Verletzten für die Dauer der Lohn- oder Gehaltsfortzahlung einen Rentenanspruch verneinte. Dieser Versuch war wohl geeignet, zu praktisch vernünftigen Lösungen zu führen, indessen mußte er am eindeutigen Wortlaut des § 559 c RVO aF scheitern (vgl. Haase, WzS 1955, 339; Lauterbach aaO Anm. 5).
Der Gesetzgeber des UVNG hat jedoch die dargelegte Unstimmigkeit, die sich aus den in § 559 c RVO aF maßgebenden Kriterien ergab, erkannt und deshalb die Frage des Rentenbeginns nach anderen Gesichtspunkten geregelt. Maßgebend war dabei für ihn folgende Erwägung: "Im Gegensatz zu § 559 c RVO aF soll die Rente für alle Verletzten - unabhängig davon, ob sie bei einem Träger der gesetzlichen KrV versichert sind oder nicht - gleichmäßig vom Tage nach dem Wegfall der AU an beginnen. Die bisherige unterschiedliche Behandlung beider Verletztengruppen ist nicht gerechtfertigt." (BT-Drucks. IV/120, S. 58 zu § 580; s. auch schon BT-Drucks. III/758, S. 56 zu § 576). Dies läßt erkennen, daß der Gesetzgeber für den Personenkreis, dem der Kläger angehört, die sich aus § 559 c RVO aF ergebende - sozial nicht gerechtfertigte - Begünstigung bewußt aufheben wollte, indem an die Stelle des Wegfalls des Krankengeldes der Wegfall der AU im Sinne der KrV (vgl. hierzu BSG 26, 288) getreten ist, was nunmehr für Krankenversicherte wie für Nichtkrankenversicherte gleichermaßen gilt. Im übrigen ist für alle Unfallversicherten während der Zeit der AU zunächst das Verletztengeld als Barleistung vorgesehen, wobei sich die Fortzahlung von Arbeitsentgelt sowohl Krankenversicherten als auch Nichtkrankenversicherten gegenüber anspruchshemmend auswirkt (§ 560 Abs. 1 Satz 1 RVO nF). Diese Geldleistung soll einen nach dem Arbeitsunfall eintretenden vorübergehenden Verdienstausfall ersetzen, während die an den Wegfall der AU anschließende Verletztenrente den Ausgleich für eine fortdauernde MdE darstellt (vgl. Ilgenfritz, BABl 1963, 350, 352; Lauterbach, Gesetzl. UV, 3. Aufl., Anm. 6 zu § 580 RVO nF). Hiernach erweist sich die vom Kläger vorgetragene Auffassung, § 580 RVO nF müsse für die Gruppe der nichtkrankenversicherten Verletzten übereinstimmend mit der bisherigen Regelung des § 559 c RVO aF gehandhabt werden, als unzutreffend. Für diesen Personenkreis ist vielmehr - aus den dargelegten Gründen sozialer Gerechtigkeit - der Beginn der Verletztenrente auf denselben Zeitpunkt hinausgeschoben worden, der auch für die Krankenversicherten gilt (vgl. Lauterbach aaO Anm. 2 i; Schieckel/Göbelsmann, RVO-Gesamtkommentar, § 580 Anm. 6 am Ende; Haase/Koch, UV, § 580 Anm. 4).
Der vom SG festgestellte Sachverhalt bietet keinen Anlaß zur Prüfung der Frage, ob dem Kläger für die Zeit vor dem 15. Juli 1964 Verletztenrente auf Grund der 2. Alternative des § 580 Abs. 1 RVO nF - "Beginn der durch den Arbeitsunfall verursachten EU im Sinne der Rentenversicherung" - zugestanden haben könnte. Auch in der Revisionsbegründung ist hierzu nichts geltend gemacht worden.
Die Revision ist somit unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen