Leitsatz (amtlich)
Die Gewährung von Unterhaltsgeld nach AFG § 44 schließt den Anspruch auf verlängerte Waisenrente wegen Berufsausbildung nicht aus (Fortführung von BSG 1975-03-13 12 RJ 204/74 und BSG 1975-03-14 1 RA 221/74).
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AFG § 44
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 1973 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 4. Juli 1973 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte dem Kläger Waisenrente ab 1. September 1972 zu zahlen hat.
Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
Der im Oktober 1948 geborene Kläger bezog bis Oktober 1966 Waisenrente; er leistete von Januar 1969 bis Juni 1970 Wehrdienst und war bis Sommer 1972 als Tischler tätig. Seit 7. August 1972 absolvierte er eine viersemestrige Technikerausbildung an der Technikerschule O. Die Arbeitsverwaltung (Arbeitsamt) zahlte ihm während dieser Zeit Unterhaltsgeld nach § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Es betrug anfangs wöchentlich 162,- DM und wurde im Laufe der Zeit auf 185,40 DM erhöht; dieser Berechnung lag das letzte Arbeitseinkommen des Klägers (Einheitslohn von wöchentlich 275,- DM bis 295,- DM) zugrunde.
Die Beklagte lehnte den im August 1972 gestellten Antrag des Klägers, ihm - wiederum - Waisenrente zu zahlen, ab; eine Berufsausbildung im Sinne des § 44 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) liege nicht vor, da das Unterhaltsgeld vollem Arbeitsentgelt gleichstehe (Bescheid vom 31. Januar 1973).
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Zahlung von Waisenrente ab 1. August 1972. Das Landessozialgericht (LSG) hob dieses Urteil auf und wies die Klage ab. Die Berufsausbildung, in der sich der Kläger befinde, könne keinen Anspruch auf Waisenrente auslösen. Die - verlängerte - Waisenrente solle nur Fälle erfassen, in denen das Kind auch nach dem 18. Lebensjahr noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen, d. h. hier: infolge der Ausbildung "gehindert" sei, die Mittel zum vollen Lebensunterhalt zu erwerben. Der Lebensunterhalt des Klägers werde aber durch das Unterhaltsgeld voll sichergestellt, zumal die Arbeitsverwaltung nach § 45 AFG außerdem ganz oder teilweise die notwendigen Kosten der Fortbildungsmaßnahme trage. Ohne Belang sei, daß der Kläger die Einkünfte nicht unmittelbar aus einer Erwerbstätigkeit erziele; das Unterhaltsgeld ersetze während der Förderungsmaßnahme entgangenen Lohn; der aus öffentlichen Mitteln voll unterhaltene Kläger könne nicht besser als ein voll verdienender Berufstätiger gestellt werden.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt eine Verletzung des § 44 AVG.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im wesentlichen begründet; er hat gemäß § 44 Satz 2 und 3 AVG Anspruch auf Wiedergewährung von Waisenrente, allerdings erst ab 1. September 1972.
Streitig ist allein, ob die Zahlung des Unterhaltsgeldes nach § 44 AFG den Anspruch auf Waisenrente ausschließt. Das haben bereits der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 13. März 1975 (12 RJ 204/74) und, ihm folgend, der 1. Senat des BSG im Urteil vom 14. März 1975 (1 RA 221/74) für gleichgelagerte Fälle - Umschulung eines ungelernten Arbeiters zum Starkstromelektriker, 4 semestriger Besuch einer Wirtschaftsfachschule durch einen kaufmännischen Angestellten, jeweils mit Förderung gemäß § 44 AFG - im Gegensatz zur Meinung des LSG verneint. Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsauffassung des 12. und 1. Senats im Ergebnis an.
Schon vor den genannten Urteilen hat sich die Rechtsprechung des BSG in zahlreichen Entscheidungen (BSG 9, 196; SozR Nr. 7, 12, 14, 15, 17, 25, 31, 44, 52 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; SozR 2200 § 1267 RVO Nr. 2, 5) mit der Bedeutung von Einkünften der Waise für den Anspruch auf verlängerte Waisenrente wegen Schul- oder Berufsausbildung nach § 1267 RVO (§ 44 AVG) befaßt. Diese Bedeutung wurde unter zwei Gesichtspunkten erörtert. Einmal sollte der Art und Höhe der Einkünfte allenfalls Indizwirkung dafür zukommen, ob überhaupt ein Ausbildungsverhältnis und nicht statt dessen ein Beschäftigungsverhältnis bestand; zum anderen wurde bei Zahlung eines vollen Arbeitsentgeltes (Lohn bzw. Gehalt) trotz Ausbildung im Hinblick auf Sinn und Zweck der verlängerten Waisenrente die Rente versagt.
Hält man - mit dem 12. und wohl auch dem 1. Senat - allein den ersten Gesichtspunkt für rechtserheblich, dann bedarf es keiner eingehenden Darlegung, daß dem Kläger die verlängerte Waisenrente zusteht; denn im vorliegenden Fall kann Unterhaltsgeld kein Indiz gegen die Annahme eines Ausbildungsverhältnisses sein; dessen Bestehen ergibt sich allein daraus, daß die Berufsausbildung durch Besuch einer Technikerschule erfolgt.
Der Senat erachtet jedoch auch den zweiten Gesichtspunkt für erheblich, obgleich er im Gesetzeswortlaut ("Kind, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet") nicht zum Ausdruck kommt. Auch wenn Unterhaltsbedürftigkeit im Einzelfall nicht vorausgesetzt wird, soll die verlängerte Waisenrente typischerweise doch nur Waisen zukommen, die - hier: wegen der Ausbildung - über das 18. Lebensjahr noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen gewesen wären. Das ist - typischerweise - nicht der Fall, wenn ihnen im Rahmen des Verhältnisses, in dem sich die Ausbildung vollzieht, - aus welchen Gründen auch immer - ein volles Arbeitsentgelt gezahlt wird. Dabei mögen sich im Einzelfalle Abgrenzungsschwierigkeiten zu bloßen Unterhaltshilfen (-zuschüssen usw.) ergeben.
Bisher hatte die Rechtsprechung insoweit allerdings nur Fälle zu entscheiden, in denen der Arbeitgeber oder Dienstherr selbst der auszubildenden Waise die Einkünfte gewährte (vgl. auch § 33 b Abs. 4 Buchst. a des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - und Verwaltungsvorschrift Nr. 14). Im vorliegenden Falle wird dagegen das Unterhaltsgeld von dritter Seite gezahlt. In seinem Urteil vom 14. März 1975 hat der 1. Senat es indessen als unschädlich bezeichnet, wenn der (dortige) Kläger (Halbwaise) die Wirtschaftsfachschule z. B. auf Kosten seiner Mutter besucht oder wenn er eine Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) vom 26. August 1971 erhalten hätte. Auch nach Ansicht des erkennenden Senats müssen Einkünfte dieser Art unerheblich sein, zumal bei öffentlichen Mitteln der Gesetzgeber durch Anrechnungsvorschriften eine ungerechtfertigte Doppelzahlung verhindern kann.
Nach der Auffassung des LSG und der Beklagten soll gleichwohl für das Unterhaltsgeld anderes gelten, weil es Lohnersatzfunktion habe und einem während der Ausbildung gewährten vollen Arbeitsentgelt gleichstehe. Der Senat kann offen lassen, ob dem Unterhaltsgeld eine Lohnersatzfunktion zukommt. Jedenfalls kann das Unterhaltsgeld, wie schon der 12. und 1. Senat zutreffend ausgeführt haben, nicht wie volles Arbeitsentgelt behandelt werden, so daß schon deshalb die dargelegte Ansicht nicht geteilt werden kann. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist das Unterhaltsgeld je Woche mehr als 100,- DM niedriger gewesen als das frühere Arbeitseinkommen des Klägers. Das zeigt, daß entgegen der Auffassung des LSG das Unterhaltsgeld nicht der vollen Sicherung des Lebensunterhalts dient, sondern eher einem Unterhaltszuschuß oder einer entsprechenden Beihilfe entspricht, also den Zweck hat, die wirtschaftliche Lage des Auszubildenden zu erleichtern, d. h. ihm eine wirtschaftliche Hilfe zum Bestreiten seines Lebensunterhalts zu gewähren. Dabei ist unbeachtlich, ob das Arbeitsamt nach § 45 AFG außerdem Ausbildungs-(Fortbildungs-)kosten getragen hat.
Stand dem Kläger die - verlängerte - Waisenrente somit zu, so konnte er sie entgegen der Auffassung des SG allerdings nicht schon ab 1. August 1972, sondern erst vom 1. September 1972 an verlangen. Nach § 67 Abs. 1 Satz 1 AVG in seiner seit 1. Januar 1968 geltenden Fassung sind Renten - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - erst vom Ablauf des Monats an zu gewähren, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Diese waren im vorliegenden Fall erst mit dem Beginn der Ausbildung, also vom 7. August 1972 an erfüllt. Die Waisenrente ist deshalb erst nach Ablauf des Monats August 1972, d. h. ab 1. September 1972 zu gewähren. § 67 Abs. 3 Satz 1 AVG, wonach die Wiedergewährung der Rente nur vom Beginn des Antragsmonats an verlangt werden kann, steht dem nicht entgegen; diese Vorschrift betrifft nur Fälle, in denen der Antrag erst nach Ablauf des Monats der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen gestellt wird (vgl. Urteil vom heutigen Tage in der Sache 11 RA 182/73).
Das angefochtene Urteil des LSG ist somit aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß dem Kläger Waisenrente erst vom 1. September 1972 an zu gewähren ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1649502 |
BSGE, 8 |