Entscheidungsstichwort (Thema)
BU. EU
Orientierungssatz
Begriff des allgemeinen Arbeitsfeldes - praktisch verschlossener Teilzeitarbeitsmarkt.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 20.12.1973; Aktenzeichen L 5 A 74/73) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 22.08.1973; Aktenzeichen S 7 A 120/72) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Dezember 1973 insoweit aufgehoben, als durch dieses Urteil der Klage stattgegeben worden ist.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist die 1917 geborene Klägerin überwiegend als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin und zuletzt als Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und nach ihrem Leistungsvermögen nur noch zur halb- bis vollschichtigen Verrichtung einfacher bis mittelschwerer körperlicher und geistiger Arbeiten in der Lage.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) oder Erwerbsunfähigkeit (EU) vom Januar 1971 lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß die Klägerin noch berufsfähig sei. Die dagegen erhobene Klage hatte im ersten Rechtszuge keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin wurde die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen EU ab 1. Oktober 1972 verurteilt. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, daß der Klägerin der Arbeitsmarkt für ihr nach ihrem Leistungsvermögen noch mögliche Beschäftigungen seit dem 4. Vierteljahr 1972 verschlossen sei. Die Klägerin sei als ungelernte Hilfskraft einzustufen und könne daher auf alle Berufstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes, insbesondere auch auf eine Tätigkeit als Verkäuferin, verwiesen werden. In der für die Klägerin zunächst in Betracht kommenden Berufsgruppe der ungelernten Hilfskräfte habe es seit dem Rentenantrag niemals einen offenen Arbeitsmarkt gegeben; nach den Quartalsstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) habe nämlich in dieser Zeit die Zahl der Arbeitsuchenden die der angebotenen Arbeitsplätze nicht unwesentlich überstiegen. In der Berufsgruppe der Warenkaufleute sei freilich zumindest bis zum 3. Vierteljahr 1972 die Zahl der Arbeitsplatzsuchenden geringer gewesen als das Angebot entsprechender Teilzeitarbeitsplätze; im 4. Quartal 1972 habe jedoch das maßgebende Verhältnis 68,5 : 100 betragen; damit sei auch in diesem Bereich seit 1. Oktober 1972 der Klägerin der Arbeitsmarkt verschlossen.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt:
Nach dem Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. März 1972 (SozR Nr. 99 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) sei weiblichen Teilzeitarbeitskräften, die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen und noch halbschichtig bis vollschichtig leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten könnten, der Arbeitsmarkt offen. Im übrigen habe das LSG nicht beach tet, daß bei der Prüfung, ob der Arbeitsmarkt "offen" ist, nur die Quartalsstatistik des Kalendervierteljahres herangezogen werden könne, das frei von jahreszeitlich bedingten Besonderheiten sei; dies sei das jeweils zweite Vierteljahr. Danach aber sei der Klägerin der Arbeitsmarkt in der Berufsgruppe der Warenkaufleute niemals verschlossen gewesen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 22. August 1973 zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das LSG der Klage stattgegeben hat, und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Nach § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Das LSG hat die Voraussetzungen der ersten Alternative für erfüllt erachtet. Es hat zwar festgestellt, daß die Klägerin aus medizinischer Sicht noch zu einer halbschichtigen Tätigkeit in der Lage ist, dieses Leistungsvermögen jedoch für unbeachtlich gehalten, weil es an in Betracht kommenden Arbeitsplätzen in einem rechtserheblichen Umfange fehle und damit der Klägerin der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Diese Ansicht findet in den bisher getroffenen Feststellungen keine ausreichende Stütze.
Das LSG hat lediglich geprüft, in welchem Umfange im Rahmen der Berufsgruppen der ungelernten Hilfskräfte und der Warenkaufleute Arbeitsplätze vorhanden sind. Bei Anwendung von § 24 Abs. 2 AVG muß sich der Versicherte jedoch auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen lassen. Es umfaßt alle "leichten bis mittelschweren Tätigkeiten im Sitzen, Gehen und Stehen in geschlossenen Räumen und im Freien" (BSG 30, 188). Das ist auch bei der Prüfung des offenen oder verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes zu beachten (BSG 30, 192 (206); 167 (188 f); diese Prüfung darf nicht von vornherein auf einzelne Berufsgruppen, etwa die der ungelernten Hilfskräfte oder solche, die dem erlernten und ausgeübten Beruf des Versicherten entsprechen, beschränkt werden. Das LSG wird daher noch festzustellen haben, ob das so verstandene allgemeine Arbeitsfeld der Klägerin insgesamt praktisch verschlossen ist. Eine solche Feststellung ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht schon deshalb entbehrlich, weil der 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23. März 1972 (vgl. auch BSG 30, 189) zu dem Ergebnis gelangt ist, der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt sei auch für solche Frauen offen, die nur noch vorwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen leichte Tätigkeiten auszuüben vermögen (SozR Nr. 99 zu § 1246 RVO). Die dort gezogene Folgerung gilt nicht ohne weiteres auch für spätere hier in Betracht kommende Zeiträume; davon abgesehen gründet sie sich auf tatsächliche Feststellungen, die keine Bindungswirkung entfalten.
Sollte sich allerdings ergeben, daß das allgemeine Arbeitsfeld der Klägerin praktisch verschlossen ist, so kann es noch der weiteren Prüfung bedürfen, ob wenigstens Teilbereiche dieses Arbeitsfeldes, die dem Leistungsvermögen der Klägerin entsprechen, als offen anzusehen wären. Das LSG hat geglaubt, hierüber Feststellungen mit Hilfe der Quartalsstatistiken der BA treffen zu können. Dabei hat es einen Weg eingeschlagen, der ebenfalls zu rechtlichen Bedenken Anlaß gibt.
Nach den Beschlüssen des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 (184); 192 (204) ist dem Versicherten der Arbeitsmarkt dann praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis zwischen der Zahl der für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze und der Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100. Das LSG hat dem folgen wollen; es hat dabei aber nicht hinreichend berücksichtigt, daß bei der Gegenüberstellung auf beiden Seiten die Zahl der besetzten Plätze und damit auch der Inhaber dieser Plätze einzubeziehen ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29. Januar 1975 - 11 RA 90/73 -). Über diese Zahl geben die vom LSG herangezogenen Quartalsstatistiken der BA jedenfalls unmittelbar keinen Aufschluß. Die Zahl der besetzten Plätze deckt sich insbesondere nicht, wie das LSG anzunehmen scheint, mit der Zahl der Vermittlungen im Berichtszeitraum; sie geht, schon weil die meisten in Betracht kommenden Arbeitsverhältnisse geraume Zeit vorher eingegangen worden sein werden, vermutlich weit darüber hinaus. Kommt mithin eine einfache Gleichsetzung, wie sie das LSG vorgenommen hat, nicht in Betracht, so erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, daß vielleicht unter Zuhilfenahme von Erfahrungssätzen oder anderen Erkenntnisquellen aus der - bekannten - Zahl der Vermittlungen auf die - unbekannte - Zahl der besetzten Stellen geschlossen werden kann. Ein solches Vorgehen würde indessen einer näheren Begründung bedürfen.
Die Feststellungen des LSG gestatten auch nicht den Schluß, daß die Klägerin erwerbsunfähig sein müsse, weil ihr der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt in besonders starkem Maße erschwert sei (vgl. BSG 30, 167 (189 f); 30, 192 (206)). Das LSG ist zu der Überzeugung gelangt, daß die Klägerin allein nach ihrem Leistungsvermögen nicht einmal als berufsunfähig angesehen werden könne. Dafür, daß die Klägerin im Rahmen einer Teilzeitarbeit aus gesundheitlichen Gründen nur qualitäts- und quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungen erbringen oder ihren Arbeitsplatz nur unter von den betriebsüblichen erheblich abweichenden Bedingungen ausfüllen könne, fehlt es an jedem Anhalt; die Notwendigkeit, Anmarschwege von mehr als einer halben Stunde zu vermeiden, stellt für sich allein keine solche besondere Erschwerung dar.
Da es mithin an für eine abschließende Entscheidung ausreichenden Feststellungen fehlt, war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Im weiteren Verfahren wird sich das LSG um Klarheit darüber bemühen müssen, ob - unter Berücksichtigung der Zahl der besetzten Arbeitsplätze - der Arbeitsmarkt für die Klägerin praktisch verschlossen ist oder nicht; hierfür kommt in erster Linie eine Anfrage bei der BA in Betracht. Dabei wird nach den vorstehenden Ausführungen in erster Linie auf das allgemeine Arbeitsfeld, in zweiter möglicherweise noch auf Teilbereiche abzuheben sein. Sollte die genaue Zahl der besetzten Arbeitsplätze nicht festzustellen sein, so kann sich das LSG auch mit der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO) begnügen, daß sich diese Zahl in einer Größenordnung bewegt, die - worauf es letztlich ankommt - einen Schluß auf die Wahrung oder Nichtwahrung des vom Großen Senat geforderten Verhältnisses zuläßt.
Während des Revisionsverfahrens hat der 4. Senat des BSG den Großen Senat angerufen mit der Frage, ob weiterhin an der in den Beschlüssen des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 192) vertretenen Auffassung festgehalten werden soll (Beschluß vom 18. März 1975 - 4 RJ 319/74 -).
Ob es für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits auf den Inhalt der vom Großen Senat zu treffenden Entscheidung ankommen wird, läßt sich jedoch beim gegenwärtigen Sach- und Streitstand noch nicht übersehen, zumal hier noch keine Hindernisse festgestellt sind, die eine Ermittlung des Verhältnisses zwischen der Zahl der Interessenten und der Zahl der Arbeitsplätze ausschließen könnten. Der erkennende Senat sieht sich daher weder veranlaßt, seine Entscheidung über die Revision bis zur Entscheidung des Großen Senats über die Vorlage des 4. Senats zurückzustellen noch seinerseits den Großen Senat anzurufen.
Bei der neuen Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen