Leitsatz (amtlich)

1. Ein Streit über die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des SGG § 148 Nr 4 liegt nicht vor, wenn das Urteil des Sozialgerichts die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts nach BVG § 32 Abs 1 betrifft.

2. Lebensunterhalt im Sinne des BVG § 32 Abs 1 ist der notwendige Lebensunterhalt. Zu diesem gehören insbesondere die Aufwendungen für Nahrung, Wohnung, Bekleidung, Beschaffung von Gebrauchsgegenständen, ärztliche Behandlung, besondere Aufwendungen infolge der Schädigung sowie sonstige notwendige Ausgaben des täglichen Lebens nach Lage des Einzelfalles.

3. Die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts einer schwerbeschädigten Ehefrau, die kein Erwerbseinkommen und kein Vermögen hat und nur auf die Unterhaltsgewährung durch ihren Ehemann angewiesen ist, ist unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse des Einzelfalles zu entscheiden.

4. Wird einer schwerbeschädigten Ehefrau Ausgleichsrente gewährt, so erhöht sich diese nach Maßgabe des BVG § 32 Abs 3 S 1 unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß sie von ihrem Ehemann unterhalten wird.

5. Ist der Lebensunterhalt einer schwerbeschädigten Ehefrau, die kein Erwerbseinkommen und kein Vermögen hat und nur auf die Unterhaltsgewährung durch ihren Ehemann angewiesen ist, nicht nach BVG § 32 Abs 1 sichergestellt, so ist ihre Ausgleichsrente nach den gesamten Verhältnissen zu bemessen (BVG § 33 Abs 3). Diese Vorschrift findet auch auf die Festsetzung der Ausgleichsrente für die Zeit vor dem 1955-01-01 Anwendung.

 

Normenkette

BVG § 33 Abs. 3 Fassung: 1955-01-19, § 32 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1953-08-07; SGG § 148 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. November 1954 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin, die mit ihrem Ehemann und dem am 3. März 1938 geborenen Sohn Stefan im gemeinsamen Haushalt lebt, bezieht nach dem Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA.) München II vom 19. Dezember 1951 wegen "Herzmuskelschadens auf Grund einer Herzmuskelentzündung, hochgradiger Minderung des Allgemein- und Kräftezustandes" als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 1. Oktober 1950 ab eine Grundrente nach einer MdE. um 70 v.H.. Die Ausgleichsrente wurde versagt, weil der Lebensunterhalt der Klägerin sichergestellt sei. Ihr Ehemann hatte nach den Feststellungen der Vorinstanz seit dem Jahre 1950 als Hilfsarbeiter im Jahresdurchschnitt einen monatlichen Bruttoverdienst von etwa 250,- DM. Die Klägerin kann wegen der Schädigungsfolgen ihre hausfraulichen Pflichten nicht voll erfüllen; sie wird bei der Arbeit durch ihre Schwägerin unterstützt.

Das Oberversicherungsamt (OVA.) München hat die Berufung gegen den Bescheid des VersorgA. am 19. Juni 1952 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, daß der Lebensunterhalt der Klägerin durch das Einkommen ihres Ehemannes sichergestellt sei.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) hat am 2. November 1954 das Urteil des OVA. aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 ab eine Ausgleichsrente von 50,- DM und vom 1. August 1953 ab von 60,- DM monatlich zu zahlen. Es hat die Revision zugelassen und ausgeführt: Die Berufung sei zulässig, weil es sich um einen Streit über die Ausgleichsrente selbst und nicht nur um deren Höhe handele. Der Lebensunterhalt der Klägerin sei nicht sichergestellt. Da sie weder Vermögen noch Lohneinkommen habe, komme nur eine Sicherstellung durch Unterhaltsleistungen ihres Ehemannes in Betracht. Aus dem Gesetz sei nicht ersichtlich, bei welchem Lohneinkommen des Ehemannes der Lebensunterhalt der Ehefrau gesichert sei. Wenn nach Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften (VerwV) zu § 33 BVG vom Bruttoentgelt der Ehefrau, die ihren schwerbeschädigten Ehemann unterhält, mindestens 200,- DM, vom 1. April 1953 ab mindestens 250,- DM monatlich abzusetzen seien, müsse das auch dann gelten, wenn eine schwerbeschädigte Ehefrau von ihrem Ehemann unterhalten werde. Das ergebe sich aus Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesrepublik Deutschland. Dieser Artikel sei zwar erst seit 1. April 1953 in Kraft (Art. 117 Abs. 1 GG), § 32 Abs. 3 BVG zeige aber, daß der Gesetzgeber diesen Gleichberechtigungsgrundsatz im BVG bereits berücksichtigt habe. Die Mindestfreibeträge seien im vorliegenden Falle mit Rücksicht auf das zu unterhaltende Kind um 20,- DM monatlich zu erhöhen. Die Klägerin habe Anspruch auf die volle Ausgleichsrente, da der als sonstiges Einkommen anzurechnende Unterhaltsbetrag monatlich 30,- DM betrage. Allerdings könne sie den in § 32 Abs. 3 Satz 1 BVG festgesetzten Zuschlag zur Ausgleichsrente nicht erhalten, da der Lebensunterhalt ihres Ehemannes und des Sohnes Stefan sichergestellt sei.

Das Landesversorgungsamt Bayern hat gegen dieses am 17. November 1954 zugestellte Urteil mit einem am 13. Dezember 1954 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

Es hat die Revision mit einem beim BSG. am 12. Januar 1955 eingegangenen Schriftsatz wie folgt begründet: Das Berufungsgericht habe die §§ 32 und 33 BVG verletzt. Die VerwV Nr. 8 zu § 33 BVG sei nicht anzuwenden, wenn bei der Entscheidung über die Ausgleichsrente einer schwerbeschädigten Ehefrau zu prüfen sei, in welcher Höhe das Einkommen des Ehemannes berücksichtigt werden müsse. Wenn beabsichtigt gewesen wäre, auch dem Ehemann die dort genannten Freibeträge zu gewähren, dann wäre in der VerwV bestimmt worden, daß von dem Bruttoentgelt des Ehegatten ein gewisser Betrag monatlich als sonstiges Einkommen nicht berücksichtigt werde.

Die Klägerin hat beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Nach der VerwV Nr. 3 Abs. 3 zu § 32 BVG seien die infolge der anerkannten Gesundheitsstörungen notwendigen Mehraufwendungen für die Führung des Haushalts angemessen zu berücksichtigen.

Es müsse nicht im einzelnen belegt werden, daß die Mehraufwendungen auch tatsächlich erwachsen. Das angefochtene Urteil entspreche der Rechtslage; es sei auch sozial gerechtfertigt. Wenn man der Klägerin die Ausgleichsrente versage, so bedeute das eine ungerechtfertigte Abwälzung der Versorgungslast des Staates auf den Ehemann. Schließlich verkenne die Versorgungsbehörde, daß eine Hausfrau einen vollwertigen Beruf ausübe. Die Klägerin könne ihre Berufspflichten nur unter weiterer Aufopferung ihrer Gesundheit erfüllen. Es entspreche dem Wesen der Ausgleichsrente, hierfür den notwendigen Ausgleich zu schaffen.

Die Revision ist statthaft, da das LSG. sie mit Recht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Denn die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Lebensunterhalt einer schwerbeschädigten Ehefrau sichergestellt ist, ist eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Die Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Die Revision ist daher zulässig.

Die Revision ist auch begründet.

Das LSG. hat mit Recht in der Sache entschieden. Die Zulässigkeit der Berufung ist eine Prozeßvoraussetzung, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung, also auch das Verfahren der Revisionsinstanz, in seiner Rechtswirksamkeit abhängt. Sie ist deshalb vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, da andernfalls das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehrt (BGHZ. 6, 369; RGZ. 159, 83; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., Anm. IV 2 a zu § 559; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 6. Aufl., § 143 II 2 (S. 673); Urteil des 10. Senats des BSG. vom 29. Februar 1956, Aktenzeichen 10 RV 75/55). Nach § 148 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie die Höhe der Ausgleichsrente betreffen. Dabei ist es, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 16. Juni 1955 (BSG. 1, 62 (66)) entschieden hat, ohne Bedeutung, ob von den Parteien über die tatsächliche Höhe einer zahlbaren Ausgleichsrente gestritten wird, oder ob mit Rücksicht auf ein vorhandenes sonstiges Einkommen Streit darüber besteht, daß eine Ausgleichsrente überhaupt gezahlt oder daß eine solche nicht gezahlt wird. Wenn das Gesetz von der Höhe der Ausgleichsrente spricht, so kann nur an ihre Berechnung gedacht sein. Dagegen ist die Berufung nicht ausgeschlossen, wenn das Urteil des Sozialgerichts (SG.) den Grund der Ausgleichsrente betrifft, z.B. die Frage, ob der Lebensunterhalt auf andere Weise sichergestellt ist. Die §§ 144 bis 149 SGG schließen nur bestimmte Streitfragen von der Nachprüfung durch das Berufungsgericht aus. Sie sind als Ausnahmevorschriften eng auszulegen. Daraus folgt, daß die Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte in allen übrigen Fällen statthaft ist. Auch die Reichsversicherungsordnung (RVO) hat in ähnlichen Fällen (§§ 1695 Nr. 1, 1696 Nr. 1) zwischen Grund und Höhe des Anspruchs unterschieden (vgl. AN. 1912 S. 1183 Nr. 1649; 1916 S. 752 Nr. 2274; 1923 S. 150 Nr. 2735).

Nach § 32 Abs. 1 BVG erhalten Schwerbeschädigte eine Ausgleichsrente, wenn sie infolge ihres Gesundheitszustandes oder hohen Alters oder aus einem von ihnen nicht zu vertretenden sonstigen Grunde eine ihnen zumutbare Erwerbstätigkeit nicht oder nur in beschränktem Umfange ausüben können und ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist. Diese Vorschrift betrifft männliche und weibliche Schwerbeschädigte in gleicher Weise. Die Ausgleichsrente hat den Zweck, dem wirtschaftlich schwachen Schwerbeschädigten den Lebensunterhalt zu beschaffen, und zwar über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus, die durch die Grundrente gewährt werden. Das Gesetz sagt nichts darüber aus, wann diese Sicherstellung angenommen werden kann. Aus § 32 Abs. 1 BVG ist auch nicht ersichtlich, ob hier der notdürftige, der notwendige oder der standesmäßige Lebensunterhalt gemeint ist (vgl. Schieckel, Bundesversorgungsgesetz, 2. Aufl., Anm. 2 b zu § 32 und 1 zu § 41; Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz, Anm. 2 zu § 32 und Anm. 1 zu § 41). In der Begründung zum Entwurf des BVG ist im Zusammenhang mit der Ausgleichsrente einmal vom notwendigen, an anderer Stelle vom angemessenen Lebensunterhalt die Rede (vgl. Begründung Besonderer Teil zu §§ 29 bis 34 und Allgemeiner Teil, III, Schieckel-Aichberger, Bundesversorgungsgesetz S. 271, 260).

Nach Ansicht des Senats kann nicht der notdürftige Unterhalt gemeint sein. Denn zu diesem gehört nur das zum Unterhalt unbedingt Notwendige, wobei vergleichsweise die Wohlfahrtsunterstützungssätze herangezogen werden können (RG. JW. 1907 S. 711 Nr. 21; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 15. Aufl., Anm. 1 zu § 1611; h.M.). Hätte der Gesetzgeber einen Anspruch auf Ausgleichsrente nach dem BVG erst bei Bedürftigkeit des Schwerbeschädigten anerkennen wollen, dann hätte es nahegelegen, die Gewährung der Ausgleichsrente nicht von der fehlenden Sicherstellung des Lebensunterhalts, sondern von der Bedürftigkeit abhängig zu machen, wie dies in § 50 BVG bei der Elternrente und in § 43 BVG bei der Witwerrente geschehen ist. Anderseits handelt es sich auch nicht um den standesmäßigen Lebensunterhalt, der sich nach der Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten richtet (§ 1610 Abs. 1 BGB). Eine solche Auslegung des Begriffs "Lebensunterhalt" in § 32 Abs. 1 BVG kommt schon deshalb nicht in Frage, weil dann die Ausgleichsrente der Schwerbeschädigten bei gleichem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit je nach der Lebensstellung verschieden hoch sein könnte. Lebensunterhalt im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG ist vielmehr der notwendige Lebensunterhalt. Zu diesem gehören insbesondere die Aufwendungen für Nahrung, Wohnung, Bekleidung, Beschaffung von Gebrauchsgegenständen, ärztliche Behandlung, besondere Aufwendungen infolge der Schädigung sowie sonstige notwendige Ausgaben des täglichen Lebens nach Lage des Einzelfalles.

Die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts einer schwerbeschädigten Ehefrau, die kein Erwerbseinkommen und kein Vermögen hat und nur auf die Unterhaltsgewährung durch ihren Ehemann angewiesen ist, muß unter Berücksichtigung der Gesamtverhältnisse des Einzelfalles entschieden werden. Bei der Entscheidung kommt es auf die Höhe des Einkommens des Ehemannes, der Miete, der Kosten für die Fahrt zur Arbeitsstätte, der für die schwerbeschädigte Ehefrau infolge der anerkannten Gesundheitsstörungen erforderlichen Aufwendungen (z.B. Aufwendungen für die im Haushalt helfende Schwägerin), der sonstigen finanziellen Verpflichtungen, auf die Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder und gegebenenfalls auf deren Einkommen an. Der Senat hat wegen der allgemeinen Fassung des Gesetzes und der sich daraus ergebenden Folgerungen keine zahlenmäßigen Richtsätze für die Bemessung des notwendigen Lebensunterhalts einer schwerbeschädigten Ehefrau aufstellen können, wenngleich dadurch die Anwendung des § 32 Abs. 1 BVG wesentlich erleichtert würde. Dies muß gegebenenfalls dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Nach Ansicht des Senats können auch nicht Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) und des Vollstreckungsrechts, in denen der Begriff "notwendiger Unterhalt" von Bedeutung ist (§§ 114 Abs. 1, 850 d ZPO), zum Vergleich herangezogen werden. Das Vorliegen des notwendigen Unterhalts im Sinne des § 114 Abs. 1 ZPO wird angenommen, wenn der Antragsteller über Einkünfte verfügt, die nach den Lohnpfändungsvorschriften der ZPO dem Zugriff der Gläubiger unterliegen (Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., Anm. II 1 a zu § 114 ZPO; Beschluß des Kammergerichts Berlin (West) vom 2.9.1950, Juristische Rundschau (JR.) 1951 S. 184). Eine schematische Berechnung, bei der der pfändungsfreie Betrag des Schuldners nach § 850 c ZPO die Höhe des notwendigen Unterhalts ergibt, könnte aber bei der Prüfung der Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts der schwerbeschädigten Ehefrau im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG - hier kommt es nicht nur auf das Einkommen des Ehemannes an - nicht den gesamten Verhältnissen des Einzelfalles gerecht werden. Auch die von der Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 850 d ZPO entwickelten Richtsätze für das Maß des notwendigen Unterhalts des Unterhaltsschuldners können entgegen der Ansicht des Bayer. LSG. (vgl. Urteil vom 28.9.1954, Breith. 1955 S. 188) hier nicht verwertet werden. Nach dieser Vorschrift ist der Schuldner des Unterhalts bis zur äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit heranzuziehen. Für die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts der schwerbeschädigten Ehefrau ist dagegen das Einkommen des Ehemannes zwar zu berücksichtigen, er hat aber nicht bis zur äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit für ihren Unterhalt aufzukommen, bevor die Ehefrau Ausgleichsrente erhält. Denn der Gesetzgeber wollte nicht auf diesem Wege die Versorgungslast in weitestem Maße auf den unterhaltspflichtigen Ehemann abwälzen.

Das angefochtene Urteil geht zunächst mit Recht davon aus, daß die Klägerin nur dann einen Anspruch auf Ausgleichsrente hätte, wenn ihr Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt wäre. Die Urteilsgründe lassen aber eine Feststellung darüber vermissen, um welches Maß des Lebensunterhaltes es sich in § 32 Abs. 1 BVG handelt, was zum Lebensunterhalt gehört und ob dieser im vorliegenden Fall sichergestellt ist oder nicht. Nur aus dem Ergebnis des Urteils der Vorinstanz läßt sich entnehmen, daß eine Sicherstellung verneint worden ist, weil der Ehemann der Klägerin im Jahresdurchschnitt lediglich einen Bruttoverdienst von 250,- DM gehabt habe. Dieses Ergebnis wurde aber nicht aus dem Gesetz selbst, sondern aus den Verwaltungsvorschriften, welche die Rechtsgrundlage des Ausgleichsrentenanspruchs nicht verändern können, gewonnen. Das LSG. hat es versäumt, die Verhältnisse des zu entscheidenden Falles im einzelnen zu ermitteln. Genaue Feststellungen hätten sich nur erübrigt, wenn man ganz allgemein sagen könnte, daß ein monatlicher Bruttoverdienst von 250,- DM den notwendigen Lebensunterhalt einer Familie mit einem minderjährigen Kind in jedem Fall sicherstellt oder nicht sicherstellt. Das ist jedoch nach Ansicht des Senats nicht möglich, wie schon ein Vergleich mit den nach § 33 BVG einem Erwerbsunfähigen zugebilligten Freibeträgen zeigt. Somit ergibt sich aus den Entscheidungsgründen des LSG., daß § 32 Abs. 1 BVG verletzt ist. Der Senat brauchte sich nicht mit der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 100 des Bayer. Landesversicherungsamtes (LVAmt) vom 10. September 1953 (Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1954 B S. 1) auseinanderzusetzen, die bei Vorliegen von Erwerbseinkommen für die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts eines schwerbeschädigten Angestellten die Einkommensgrenzen des § 33 Abs. 1 BVG herangezogen hat. Hier handelt es sich jedoch um eine schwerbeschädigte Ehefrau, die nur auf die Unterhaltsgewährung durch ihren Ehemann angewiesen ist.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf dieser Gesetzesverletzung (§ 162 Abs. 2 SGG); es ist daher aufzuheben (§ 170 Abs. 2 SGG). Zugleich mußte die Sache an das LSG. zurückverwiesen werden. Eine Entscheidung durch das BSG. war nicht möglich, da die von der Vorinstanz getroffenen tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht ausreichen. Das LSG. wird nun unter Beachtung der vom Senat angeführten Gesichtspunkte zu prüfen haben, ob der Lebensunterhalt der Klägerin sichergestellt ist. Kommt es dabei zu dem Ergebnis, daß der Lebensunterhalt der Klägerin nicht sichergestellt ist, dann wird es bei der Feststellung der Höhe der Ausgleichsrente den durch Art. I Nr. 7 c des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 19. Januar 1955 (Bundesgesetzblatt I S. 25) mit Wirkung vom 1. Januar 1955 ab in das Gesetz eingefügten neuen Abs. 3 des § 33 BVG zu berücksichtigen haben. Danach ist die Ausgleichsrente abweichend von § 33 Abs. 1 BVG nach den Gesamtverhältnissen zu bemessen, wenn das sonstige Einkommen zahlenmäßig nicht feststellbar ist, der Lebensunterhalt im Sinne des § 32 Abs. 1 BVG aber nicht auf andere Weise sichergestellt erscheint. Mit diesem neuen Abs. 3 soll den Schwierigkeiten begegnet werden, die sich unter anderem bei der Entscheidung über den Ausgleichsrentenanspruch schwerbeschädigter Ehefrauen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, ergeben. In diesen Fällen konnte bisher der Wert des Unterhalts nicht zahlenmäßig festgestellt, also errechnet werden; er mußte vielmehr frei festgestellt, d.h. geschätzt werden, um eine Berechnung der Ausgleichsrente nach den in § 33 Abs. 1 BVG aufgestellten Einkommensgrenzen zu ermöglichen. Ist in einem solchen Fall der Lebensunterhalt nach § 32 Abs. 1 BVG nicht sichergestellt, eine der Grundvoraussetzungen für die Gewährung der Ausgleichsrente also erfüllt, dann soll nach der neuen Vorschrift eine Schätzung des Wertes des gewährten Unterhalts unterbleiben und die Ausgleichsrente nach den Gesamtverhältnissen bemessen werden (ebenso Wilke, Die Kriegsopferversorgung 1955 S. 1 (2); Rundschreiben des Bundesarbeitsministers vom 22.12.1954, BVBl. 1955 S. 5 Nr. 4; Nr. 9 der VerwV zu § 33 in der Fassung vom 1.6.1955 - Bundesanzeiger Nr. 106 vom 4.6.1955 -). § 33 Abs. 1 in der Fassung vom 19. Januar 1955 ist auch auf die Festsetzung der Ausgleichsrente für die Zeit vor dem 1. Januar 1955 anzuwenden. Die Rückwirkung einer Norm kann dann angenommen werden, auch wenn ein ausdrücklicher Ausspruch nicht vorliegt, wenn ein solcher Wille des Gesetzgebers deutlich erkennbar ist (Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 14. Aufl. § 61 I, II). Hat ein Gesetz sich nicht rückwirkende Kraft beigelegt, so hängt die Frage, ob es sich auf bereits vor seinem Inkrafttreten bestehende Verhältnisse bezieht, von seinem Inhalt ab; es handelt sich somit um eine Auslegungsfrage (Enneccerus-Nipperdey a.a.O. § 61 III). Nun hat sich das Dritte Änderungsgesetz weder insgesamt noch hinsichtlich einzelner Vorschriften ausdrücklich rückwirkende Kraft beigelegt. Nach dem Zweck des neuen Absatzes 3 des § 33 BVG sollen jedoch in den genannten Fällen schwierige Schätzungen des sonstigen Einkommens vermieden werden. Dieses Bedürfnis besteht nicht erst vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Dritten Änderungsgesetzes ab, es bestand auch in den Jahren vorher. Der Gesetzgeber kann daher nur gewollt haben, daß alle schwebenden Fälle nach der neuen Vorschrift behandelt werden.

Die Klägerin hat, falls ihr Lebensunterhalt nicht sichergestellt sein sollte, auch Anspruch auf den Zuschlag zur Ausgleichsrente für den Ehemann nach § 32 Abs. 3 Satz 1 BVG. Nach dieser Vorschrift in der Fassung vom 20. Dezember 1950 erhöht sich die Ausgleichsrente für den Ehemann um 15,- DM, vom 1. August 1953 ab um 20,- DM (§ 32 Abs. 3 Satz 1 BVG in der Fassung vom 7.8.1953). Die Ausgleichsrente einer schwerbeschädigten Ehefrau erhöht sich nach Maßgabe dieser Vorschrift unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaße sie von ihrem Ehemann unterhalten wird (ebenso Schieckel, a.a.O. Anm. 5 zu § 32; Schönleiter a.a.O., Erl. 8 zu § 32; Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Erl. zu § 32). Durch den Zuschlag zur Ausgleichsrente wird dem Familienstand Rechnung getragen (vgl. Begr. zum Entwurf des BVG, a.a.O. S. 271), ohne Rücksicht darauf, ob die häusliche Gemeinschaft besteht oder ob nur ein Teil des notwendigen Unterhalts gewährt wird. Weder der Wortlaut noch der Sinn und Zweck der Vorschrift rechtfertigen die Ansicht der Vorinstanz, daß die schwerbeschädigte Ehefrau einen Anspruch auf Ausgleichsrente nur in derselben Höhe wie ein lediger Schwerbeschädigter habe.

Hiernach war das Urteil des LSG. mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2297068

NJW 1957, 846

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