Leitsatz (amtlich)

1. Einen bestimmten Antrag iS des SGG § 164 Abs 2 S 1 enthält die Revision jedenfalls dann, wenn in ihr ausdrücklich erklärt ist, daß das Vorderurteil "in vollem Umfange" angefochten werde.

2. Die Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes und seiner Novellen, die auf Grund von Berliner Übernahmegesetzen in Westberlin inhaltsgleich Anwendung finden, sind nachprüfbares Recht iS des SGG § 162 Abs 2.

3. Die durch Angehörige, Beschäftigte oder Verkehrsmittel der sowjetischen Besatzungsmacht in Westberlin verursachten Personenschäden gelten auch dann als nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge gemäß BVG § 5 Abs 2 Buchst a, wenn die Schäden nach dem 1945-07-31 eingetreten sind.

 

Normenkette

SGG § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; BVG § 5 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 25. Juni 1954 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger wurde am 26. November 1945 in Berlin in der Straße Unter den Linden von einem Lastkraftwagen der sowjetischen Besatzungsmacht angefahren und verletzt. Er wurde sogleich in die Universitätsklinik Berlin eingeliefert und dort wegen seiner Verletzungen am rechten Bein bis zum April 1946 behandelt. Im Juni 1947 wurde er wegen Gefühlsveränderungen in den Unterarmen in das St. Franziskus-Krankenhaus aufgenommen. Dort trat nach etwa 10 - 14 Tagen eine Erblindung des linken Auges ein. Wegen dieser und anderer Leiden, die im Laufe der Krankenhausbehandlung noch auftraten, wurde er im Anschluß an den Aufenthalt im St. Franziskus-Krankenhaus in der Nervenklinik der C., der II. Medizinischen Universitätsklinik der Charité und zuletzt im Waldkrankenhaus N. behandelt, von wo er am 24. September 1948 entlassen wurde. Seine Versuche, die durch den Unfall erlittenen Schäden von der Versicherungsanstalt ... erstattet zu erhalten, blieben erfolglos.

Im August 1950 stellte der Kläger einen Antrag auf Versorgung wegen Versteifung und Schwäche des rechten Beins, Lähmung der Hände und Füße sowie Erblindung des linken Auges beim Versorgungsamt .... Das Versorgungsamt erkannte mit Bescheid vom 18. August 1951 als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstgeschädigten sowie ihrer Hinterbliebenen vom 24.7.1950 (VOBl. für Groß-Berlin, Teil I S. 318) - Berliner KVG und des § 1 des Gesetzes über die Opfer des Krieges vom 20.12.1950 (BGBl. I 1950, S. 791) - BVG - in Verbindung mit dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges vom 12.4.1951 (GVOBl. für Berlin S. 317) - BVG Berliner Übernahmegesetz - "Teilversteifung des rechten Kniegelenks und chronische Kniegelenkentzündung rechts" an und gewährte dem Kläger vom 1. Oktober 1950 ab eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. Auf Grund der eingeholten Krankenhausgeschichten und Gutachten wurde dagegen abgelehnt, die Erblindung des linken Auges und die Lähmung in den Armen als Schädigungsfolgen anzuerkennen.

Die vom Kläger geltend gemachte Lähmung in den Füßen wurde in dem Ablehnungsbescheid nicht erwähnt.

Mit seinem Einspruch gegen diesen Bescheid begehrte der Kläger neben der Höherbewertung der MdE für die bereits anerkannten Schädigungen auf 40 % die Anerkennung der anderen, bisher erfolglos geltend gemachten Leiden sowie außerdem die Anerkennung eines Herzleidens (Herz- und Kreislaufschwäche). Der Einspruch wurde, nachdem ein weiteres Gutachten des versorgungsärztlichen Dienstes eingeholt worden war, durch Entscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 28. Januar 1953 zurückgewiesen. Die Klage gegen diese Entscheidung wurde ohne weitere Beweiserhebung durch Urteil des Versorgungsgerichts ... vom 30. September 1953 abgewiesen, da das Herzleiden auf degenerativen Gefäßveränderungen beruhe und diese Veränderungen sowie die Erblindung des linken Auges und die Lähmung in den beiden Armen nicht auf den Unfall als Ursache zurückgeführt werden könnten. Im übrigen sei die Bewertung der MdE für die anerkannten Versorgungsleiden richtig erfolgt.

Die vom Kläger gegen dieses Urteil beim Oberversorgungsgericht ... eingelegte Berufung ging nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes vom 3.9.1953 (SGG) gemäß § 218 Abs. 6 dieses Gesetzes in Verbindung mit dem Berliner Gesetz zur Übernahme des Sozialgerichtsgesetzes vom 20.11.1953 (GVOBl. für Berlin, S. 1419) - SGG Berliner Übernahmegesetz - auf das Landessozialgericht Berlin über. In der Berufungsverhandlung vom 25. Juni 1954 beschloß das Landessozialgericht, zunächst darüber zu erkennen, ob dem Kläger überhaupt dem Grunde nach ein Anspruch auf Versorgung nach dem BVG zustehe, und verkündete dann das Urteil, wonach die Berufung des Klägers zurückgewiesen wurde. Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Landessozialgericht aus, daß die durch die Besatzungsmächte Geschädigten nach § 5 Abs. 2 Ziff. a BVG nur dann versorgt werden sollen, wenn die Schädigung vor dem 1. August 1945 oder wenigstens vor Ablauf des Sommers 1945 erfolgt sei. Geschädigte, deren Schädigung nach diesem Zeitpunkt eingetreten sei, würden nach besonderen Vorschriften der Besatzungsmächte entschädigt. Zwar hätte die sowjetische Besatzungsmacht keine Vorschriften bezüglich der durch ihre Besatzungsangehörigen geschädigten Personen erlassen, jedoch habe das Bundesversorgungsgesetz, das für den Bereich der Bundesrepublik ergangen sei, nur die Verhältnisse in der Bundesrepublik berücksichtigen können. Da in der Bundesrepublik aber nur eine Versorgung der bis zum 1. August oder bis zum Ablauf des Sommers 1945 Besatzungsgeschädigten notwendig gewesen sei, habe der Gesetzgeber auch nur eine Regelung für diejenigen Geschädigten treffen wollen, die bis zu diesem Zeitpunkt geschädigt worden seien. Wenn später die Anwendbarkeit des BVG für Berlin durch das BVG Berliner Übernahmegesetz erklärt worden sei, so hätte durch dieses Gesetz das BVG seinem Inhalt nach nicht geändert werden können. Der Kläger habe daher dem Grunde nach keinen Anspruch nach dem BVG, jedenfalls nicht über die bereits anerkannten Ansprüche hinaus; seine Berufung müsse daher zurückgewiesen werden. Die Revision wurde zugelassen.

Gegen dieses Urteil, welches dem Kläger am 21. Juli 1954 zugestellt worden war, hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 19. August 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht am 21. August 1954, Revision eingelegt. In dieser Revisionsschrift hat der Kläger zwar keinen ausdrücklichen Antrag gestellt, jedoch erklärt, daß er das Urteil des Landessozialgerichts in vollem Umfange anfechte. In seiner am 20. September 1954 eingegangenen Begründungsschrift führt der Kläger aus, daß ein Besatzungsschaden auch dann nach dem BVG zu entschädigen sei, wenn der Schaden nach dem 31. Juli 1945 entstanden sei und dem Geschädigten Leistungen nach anderen Vorschriften der Besatzungsmächte nicht gewährt würden. Da ihm aber Leistungen weder nach dem Gesetz Nr. 47 der Alliierten Hohen Kommission für Deutschland noch nach anderen Vorschriften der sowjetischen Besatzungsmacht gewährt würden, so erfülle er die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Ziff. a BVG und müsse für seinen Unfall nach dem BVG versorgt werden. Seine Ansprüche seien daher dem Grunde nach gerechtfertigt. Er stellt den Antrag:

unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts vom 25. Juni 1954 den Rechtsstreit zur anderweitigen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt:

1)   

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

evtl.2)

die Revision als unbegründet zurückzuweisen

oder 3)

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Er ist der Ansicht, daß die Revisionsschrift des Klägers vom 19. August 1954 nicht einen bestimmten Antrag im Sinne des § 164 Abs. 2 SGG enthalte und die Revision aus diesem Grund zu verwerfen sei. Zur Begründung seiner Eventualanträge zu 2 und 3 weist er darauf hin, daß nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit vom 19. Dezember 1951 für Besatzungspersonenschäden, die in der sowjetischen Besatzungszone und im Ostsektor von Berlin entstanden seien, die Vorschrift des § 5 Abs. 2 Ziff. a BVG anzuwenden sei. Insofern gehe das angefochtene Urteil von unrichtigen Voraussetzungen aus. Die vom Kläger erhobenen Ansprüche könnten aber, soweit sie über die durch Bescheid vom 18. August 1951 anerkannten Ansprüche hinausgingen, deshalb keinen Erfolg haben, weil nach den in dieser Sache erstatteten medizinischen Gutachten die geltend gemachten Schädigungen nicht auf den Unfall zurückgeführt werden könnten.

Im übrigen wird zur Darstellung des Tatbestandes auf den Inhalt des Bescheides des Versorgungsamts ... vom 18. August 1951, der Einspruchsentscheidung des Landesversorgungsamts ... vom 28. Januar 1953, des Urteils des Versorgungsgerichts ... vom 30. September 1953, des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Juni 1954, der Schriftsätze des Klägers vom 19. August und 19. September 1954 und der Schriftsätze des Beklagten vom 3. Februar und 4. Juli 1955 Bezug genommen.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt worden.

Der Ansicht des Beklagten, welcher die Revision des Klägers wegen Fehlens eines bestimmten Antrages in der Revisionsschrift vom 19. August 1954 für unwirksam hält und deshalb in erster Linie die Verwerfung der Revision beantragt, kann nicht gefolgt werden. Nach § 164 Abs. 2 SGG muß die Revisionsschrift neben der Bezeichnung des angefochtenen Urteils einen bestimmten Antrag enthalten. Daß mit dem Wort "Revision" in diesem Zusammenhang nur die Revisionsschrift gemeint sein und daß die Stellung eines bestimmten Antrages nicht allein aus der Tatsache der Revisionseinlegung geschlossen werden kann, haben bereits verschiedene Senate des Bundessozialgerichts entschieden, deren Ansicht der erkennende Senat sich anschließt (Beschluß vom 23.5.1955 - 2 RU 28/54, Urteil vom 24.5.1955 - 9 RV 308/54, Urteil vom 8.6.1955 - 7 RAr 26/54, Urteil vom 27.6.1955 - 4 RJ 33/54). Es ist daher vom Senat nur noch die Frage zu entscheiden, ob der Kläger, der in der Revisionsschrift erklärt, er fechte das vorgenannte Urteil "in vollem Umfange an", damit einen Antrag, und zwar einen Antrag mit einem genügend bestimmten Inhalt gestellt hat. Sicher ist, daß der Kläger nicht etwa das Wort "Antrag" oder "beantragen" in der Revisionsschrift gebrauchen muß. Es genügt, daß seine in der Prozeßhandlung, hier dem Antrag, zum Ausdruck kommende Willenserklärung dem Gericht gegenüber genügend verständlich abgegeben wird. Dabei unterliegt die Willenserklärung als Prozeßhandlung ebenso der Auslegung wie eine Willenserklärung des bürgerlichen Rechts (RGZ. 86 S. 377 (380); 110 S. 1 (15); 134 S. 130 (132); 141 S. 347 (350)). Bei Willenserklärungen, die der Schriftform bedürfen, wie hier die Antragstellung, sind zur Auslegung auch Umstände heranzuziehen, die außerhalb der schriftlichen Erklärung selbst liegen, wenn nur die wesentlichen formbedürftigen Erklärungen im Antrag selbst enthalten sind. Das hat bereits der 4. Senat in seiner erwähnten Entscheidung vom 27. Juni 1955 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des früheren Reichsgerichts über die Auslegung formbedürftiger Willenserklärungen eingehend dargelegt. Wenn daher die Revisionsschrift des Klägers aus sich heraus auch noch nicht erkennen läßt, wie der Kläger seine Anträge im einzelnen in der mündlichen Verhandlung zu formulieren gedenkt, so geht doch aus den näheren Umständen, insbesondere dem angefochtenen Urteil, das zur Auslegung seines Antrages mit heranzuziehen ist, das Ziel seiner Revision genügend klar hervor. Er erstrebt danach die Aufhebung des angefochtenen Urteils und eine Entscheidung des Revisionsgerichts, die ihm das zuspricht, was ihm das angefochtene Urteil versagt hat. Er wiederholt gleichsam die im Berufungsverfahren gestellten Anträge in der für das Revisionsverfahren noch abzuwandelnden Form. Eine derartige Erklärung muß aber regelmäßig genügen, um von einem bestimmten Antrag im Sinne des § 164 Abs. 2 SGG sprechen zu können (BAG 1 S. 36 (38). Die rechtsförmliche Gestaltung des Revisionsverfahrens nach dem Sozialgerichtsgesetz verlangt zwar die Einhaltung von Formvorschriften, jedoch dürfen für die Einhaltung dieser Formvorschriften keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Verfahrensvorschriften sind Zweckmäßigkeitsvorschriften und einer freien Auslegung zu unterziehen (RGZ. 102 S. 276 (278); 141 S. 347 (350)). Der Zweck der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 SGG, den Revisionskläger vor Einlegung der Revision zur Überlegung zu zwingen, wieweit er das Urteil des Berufungsgerichts anfechten will, und ihn weiterhin zu veranlassen, diesen Willen dem Revisionsgericht schriftlich und unmißverständlich mitzuteilen, ist jedenfalls dann erreicht, wenn der Kläger erklärt, das Berufungsurteil in vollem Umfange anfechten zu wollen. Ist aber dieser Zweck des Gesetzes in Form einer derartigen Erklärung erfüllt, so besteht kein Anlaß, noch strengere Anforderungen an die Form zu stellen.

Die Revision ist statthaft, weil das Berufungsgericht über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden und deshalb mit Recht die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Ziff. 1 zugelassen hat.

Die Revision ist auch begründet.

Soweit die Ansprüche des Klägers für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 abgelehnt worden sind, ist die Revision schon deshalb begründet, weil das Berufungsgericht die Ansprüche des Klägers auch für diese Zeit in Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes abgelehnt hat. Daß der Kläger in diesem Rechtsstreit auch Ansprüche für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 geltend macht, geht daraus hervor, daß er den Bescheid des Versorgungsamts ... vom 18. August 1951, der ausdrücklich über seine Ansprüche vom 1. Juli 1950 an entschied ohne zeitliche Begrenzung mit der Klage, der Berufung, und nunmehr mit der Revision angefochten hat. Die Ansprüche des Klägers für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 konnten aber nur nach dem Berliner KVG begründet sein, das auch in dem Bescheid des Versorgungsamtes, soweit er die Ansprüche vom 1. Juli 1950 bis 1. Oktober 1950 betrifft, als Rechtsgrundlage angezogen ist. Das Bundesversorgungsgesetz trat in Berlin gemäß Artikel 4 des BVG Berliner Übernahmegesetzes erst mit dem 1. Oktober 1950 in Kraft. Die Ablehnung der Ansprüche des Klägers für die Zeit vor dem 1. Oktober 1950 beruht also, jedenfalls nach den allein maßgeblichen Gründen des angefochtenen Urteils, welche das Berliner KVG gar nicht erwähnen, auf dem BVG in Verbindung mit dem BVG Berliner Übernahmegesetz. Diese Gesetze sind demnach vom Berufungsgericht für die Ansprüche des Klägers vor dem 1. Oktober 1950 unrichtig angewendet worden. Die Revision ist daher gemäß § 162 Abs. 2 SGG begründet, und das angefochtene Urteil mußte insoweit schon aus diesem Grunde aufgehoben werden.

Die Revision ist aber auch insoweit begründet, als die Ansprüche des Klägers für die Zeit nach dem 1. Oktober 1950 abgelehnt worden sind. Die Ablehnung dieser Ansprüche wird vom Berufungsgericht damit begründet, daß die maßgebliche Vorschrift des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG, die nach Artikel 1 des BVG Berliner Übernahmegesetzes in West-Berlin anwendbar ist, für Schäden, die nach dem 31. Juli 1945 oder nach Ablauf des Sommers 1945 verursacht worden seien, keine Anwendung finde.

Zunächst könnte dabei zweifelhaft sein, ob die Anwendung oder Nichtanwendung dieser Vorschriften überhaupt der Nachprüfung des Revisionsgerichts unterliegt. Nach § 162 Abs. 2 SGG kann das Revisionsgericht nur die Anwendung von Vorschriften des Bundesrechts oder solchen Rechts nachprüfen, das sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Die Vorschriften des BVG werden in Berlin aber nicht als Bundesrecht angewendet, selbst wenn sie nach Maßgabe des § 91 BVG in Verbindung mit Artikel 87 Abs. 2 der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950 (VOBl. für Groß-Berlin, Teil I S. 733) und Artikel 1 des BVG Berliner Übernahmegesetzes in West-Berlin anzuwenden sind. Die Geltung der Vorschriften des BVG in Berlin beruht nicht auf einem Akt des Bundesgesetzgebers, sondern auf einem selbständigen Akt des Berliner Gesetzgebers, nämlich dem BVG Berliner Übernahmegesetz. Das BVG wird in Berlin also nicht als Bundesrecht, sondern als Berliner Recht angewendet. Der Geltungsbereich dieses Rechts erstreckt sich nur auf den Bezirk des Berufungsgerichts, der nach § 1 des Berliner Ausführungsgesetzes zum Sozialgerichtsgesetz vom 22. Dezember 1953 (GVOBl. für Berlin S. 1521) auf das Gebiet von West-Berlin beschränkt ist. Jedoch gilt das Recht des BVG, wenn auch in Berlin nur als Berliner Gesetz, inhaltsgleich im ganzen Bundesgebiet, also über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Es ist somit nachprüfbares Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG. Dabei ist es unerheblich, daß dieses Recht auf Grund verschiedener gesetzgeberischer Akte im Bundesgebiet und in Berlin inhaltsgleich Geltung erlangt hat. Wenn § 162 Abs. 2 SGG verlangt, daß der Geltungsbereich des nachprüfbaren Rechts sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstrecken muß, so ist diese Voraussetzung nicht nur dann erfüllt, wenn der Geltungsbereich durch einen einzigen Gesetzgebungsakt entstanden ist, sondern auch dann, wenn er durch mehrere selbständige, auch zeitlich auseinanderliegende Gesetzgebungsakte entstanden ist. Bereits das frühere Reichsgericht hat bei der Prüfung der Frage, ob es sich um überbezirkliches Recht handelt, den Umstand als unwesentlich angesehen, daß das überbezirkliche Recht durch verschiedene Gesetzgebungsakte Geltung erlangt hat (RGZ. 55 S. 316 (318); 59 S. 25, (27); 82 S. 47 (49). Wesentlich ist nur, daß es sich bei dem überbezirklichen Recht um inhaltsgleiches Recht handelt (RGZ. 89 S. 360 (362); 117 S. 274 (275); 154 S. 133 (137)). In Anlehnung an die frühere Rechtsprechung des Reichsgerichts hat auch der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung zu § 549 ZPO, der dem § 162 Abs. 2 SGG insoweit entspricht, stets solches Recht als nachprüfbares Recht angesehen, das inhaltsgleich und bewußt und gewollt in mehreren Ländern, insbesondere in Berlin und in Ländern der Bundesrepublik, gilt (BGHZ. - 4 S. 219(224); 6 S. 47 (49); 6 S. 373 (375); 7 S. 300). Ebenso hat das Bundesverwaltungsgericht inhaltsgleiches Berliner Recht stets als nachprüfbares Bundesrecht im Sinne des § 56 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht, der die dem § 162 Abs. 2 SGG entsprechende Vorschrift für das verwaltungsgerichtliche Revisionsverfahren darstellt, angesehen, und zwar selbst dann, wenn die Übereinstimmung des Berliner Rechts mit dem Bundesrecht oder dem Recht sonstiger Länder der Bundesrepublik nicht bewußt und gewollt war (Urteil vom 5.11.1954, - NJW. - 1955 S. 438). Ob die bewußte und gewollte Übereinstimmung, wie sie der Bundesgerichtshof im Gegensatz zum Bundesverwaltungsgericht fordert, auch für das sozialgerichtliche Revisionsverfahren gemäß § 162 Abs. 2 SGG zu fordern ist, kann dahingestellt bleiben, da hier die Übereinstimmung, wie aus § 91 BVG in Verbindung mit Artikel 1 des BVG Berliner Übernahmegesetz hervorgeht, bewußt und gewollt war. Es kann daher die Anwendung oder Nichtanwendung von Bestimmungen des BVG in West-Berlin gemäß § 162 Abs. 2 SGG nachgeprüft werden.

Das Berufungsgericht hat den § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG nicht richtig angewendet. Nach § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG hat derjenige einen Anspruch auf Versorgung, der durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Als unmittelbare Kriegseinwirkung in diesem Sinne gilt gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG auch eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hat, und als nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge in diesem Sinne gilt wiederum gemäß § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG ein Schaden, der in Verbindung mit dem zweiten Weltkrieg durch Angehörige oder sonstige Beschäftigte der Besatzungsmächte oder durch Verkehrsmittel der Besatzungsmächte verursacht worden ist (Besatzungspersonenschaden). Das Berufungsgericht nahm mit Recht an, daß der Kläger, der von einem Fahrzeug der sowjetischen Besatzungsmacht angefahren und verletzt worden ist, insoweit die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG erfüllt. Weitere Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift ist jedoch, daß der Schaden "vor dem Tage verursacht worden ist, von dem ab Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden". Dieser Tag, von dem ab Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden, ist für alle durch die westlichen Besatzungsmächte verursachten Personenschäden der 1. August 1945. Von diesem Tag an werden die durch Angehörige, Beschäftigte oder Verkehrsmittel der westlichen Besatzungsmächte verursachten Schäden für den Bereich der Bundesrepublik nach dem Gesetz Nr. 47 vom 8. Februar 1951 (Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission S. 767) und für den Bereich der Westsektoren Berlins nach der Verordnung Nr. 508 der Kommandanten des amerikanischen, britischen und französischen Sektors vom 21. Mai 1951 (GVOBl. für Berlin 1951, S. 403) entschädigt. Für Besatzungspersonenschäden, die durch Angehörige oder Fahrzeuge der sowjetischen Besatzungsmacht verursacht worden sind, bestehen jedoch keine Vorschriften, nach denen für derartige Schäden Leistungen gewährt werden. Es gibt somit für alle durch die sowjetische Besatzungsmacht verursachten Personenschäden zur Zeit noch keinen Anspruch auf "Leistungen nach anderen Vorschriften", gleichgültig wann diese Schäden verursacht worden sind. Der § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG enthält aber auch keine kalendermäßige Beschränkung hinsichtlich des Eintritts des Besatzungspersonenschadens, sondern lediglich die zeitlich unbestimmte Einschränkung, daß der Schaden vor dem Zeitpunkt eingetreten sein muß, von dem an Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden. Da dieser Zeitpunkt demnach für die durch die sowjetische Besatzungsmacht verursachten Personenschäden noch nicht eingetreten ist, gilt für derartige Schäden der § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG auch weiterhin ohne zeitliche Beschränkung. In diesem Sinne hat auch der Bundesminister für Arbeit in einem Rundschreiben vom 19. Dezember 1951 (BVBl. 1952 S. 2) Stellung genommen (Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz 1953 zu § 5; Schieckel, Bundesversorgungsgesetz, 2. Aufl., Anm. 12 zu § 5). Die vom Berufungsgericht vertretene Ansicht, daß die Verwendung des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG allgemein auf die vor dem 1. August 1945 oder wenigstens bis zum Ablauf des Sommers verursachten Besatzungspersonenschäden beschränkt sei, trifft somit nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht zu.

Es trifft aber auch nicht zu, daß, wie das Berufungsgericht ausführt, nach dem Willen des Gesetzgebers der § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG in jedem Falle auf die bis zu jenem Zeitpunkt verursachten Besatzungspersonenschäden zu beschränken sei. Bei den Beratungen des BVG im Jahre 1950 war das Gesetz Nr. 47 vom 8. Februar 1951 noch nicht erlassen. Es stand also zu jener Zeit überhaupt noch nicht fest, von welchem Zeitpunkt ab Besatzungspersonenschäden nach Besatzungsrecht oder gar nach deutschem Recht entschädigt werden würden. Nach dem damaligen Rechtszustand war der Zeitpunkt, von dem ab Besatzungspersonenschäden in den einzelnen Besatzungszonen entschädigt wurden, noch verschieden. Während in der amerikanischen und britischen Zone Besatzungspersonenschäden nach dem Zirkular Nr. 57 vom 25. Februar 1949 (Rentrop, Requisitionen, Besatzungsschäden und ihre Bezahlung, Verlag Schäffer & Co., Stuttgart, 1950 S. 389) und der Finanztechnischen Anweisung Nr. 99 vom 8. Mai 1947 (VOBl. für die britische Zone 1947, S. 112) nur entschädigt wurden, wenn der Schaden nach dem 31. Juli 1945 verursacht worden war, wurden Besatzungspersonenschäden in der französischen Zone und den Westsektoren Berlins nach der Verordnung Nr. 134 vom 20. November 1947 (Journal Officiel 1947, S. 1245) und der Verordnung der Alliierten Kommandantur Berlin vom 18. März 1949 (VOBl. für Groß-Berlin 1949, S. 111) nur dann entschädigt, wenn der Schaden in der Zeit vom 20. September 1945 an herbeigeführt worden war. Es stand also bei den Beratungen zum BVG durchaus nicht fest, ob das in Aussicht stehende Besatzungspersonenschädengesetz Nr. 47 und die entsprechende Verordnung Nr. 508 für West-Berlin als Stichtag für die Gewährung von Entschädigungen den 1. August 1945, den 20. September 1945 oder gar einen anderen Termin festsetzen würden. Deshalb konnte der Gesetzgeber bei Abfassung des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG einen kalendermäßigen Stichtag, bis zu dem derartige Besatzungsschäden nach dem BVG entschädigt werden sollten, gar nicht bestimmen. Er mußte sich vielmehr notgedrungen mit der allgemeinen Bestimmung, wie sie die derzeitige Fassung des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG enthält, begnügen. Andererseits war er aber auch willens, bis zur Regelung durch andere Vorschriften alle Besatzungspersonenschäden nach dem BVG zu entschädigen, gleichgültig ob und von welchem Stichtag an derartige Schäden entschädigt werden würden. Der § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG ist erst mit der zweiten Lesung des BVG in dieses Gesetz hineingekommen (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, Bd. 5, S. 3442). Der zweiten Lesung waren die Beratungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz vorausgegangen. Wie aus den Verhandlungen dieses Ausschusses hervorgeht (Die Verhandlungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz, S. 10 D, S. 11 BC, S. 122 C), hat man absichtlich nicht einen bestimmten Stichtag in das Gesetz aufgenommen. Zwar dachte man damals in erster Linie wohl nur an die durch die westlichen Besatzungsmächte verursachten Personenschäden und rechnete damit, daß dieser Stichtag voraussichtlich der 1. August 1945 werden würde. Jedoch fügte man absichtlich keinen bestimmten Stichtag in das Gesetz ein, um "zu verhindern, daß Personen durch die unterschiedliche Festsetzung des Stichtages leer ausgehen". Der Gesetzgeber hat also bewußt keinen bestimmten Stichtag in das Gesetz aufgenommen, um alle Besatzungspersonenschäden entschädigen zu können, die bis zu dem Zeitpunkt verursacht worden sind, von dem ab für derartige Schäden Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden. Da daher für die durch die sowjetische Besatzungsmacht verursachten Personenschäden noch keine Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden, so sollen nicht nur nach dem Wortlaut, sondern auch nach dem Willen des Gesetzgebers derartig geschädigte Personen nach dem BVG versorgt werden, gleichgültig wann dieser Schaden verursacht worden ist.

Dieser Wille des Gesetzgebers im BVG ist, wie das Berufungsgericht dazu richtig ausführt, durch die Übernahme des BVG als Berliner Recht nicht geändert worden. Der Kläger ist daher durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit §§ 5 Abs. 1 Buchst. e, 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG geschädigt worden und hat daher gemäß § 1 Abs. 1 BVG in Verbindung mit Artikel 1 BVG Berliner Übernahmegesetz einen Anspruch auf Versorgung. Das Urteil des Berufungsgerichts, das diesen Anspruch dem Grunde nach ablehnt, mußte infolgedessen aufgehoben werden.

Das Revisionsgericht konnte selbst keine Entscheidung darüber treffen, für welche Schädigungen und in welchem Umfange dem Kläger Versorgungsansprüche über die bereits durch Bescheid des Versorgungsamts II Berlin vom 18. August 1951 anerkannten Schädigungen und bewilligten Leistungen hinaus zustehen, da das Berufungsgericht die dafür erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Die Sache mußte daher gemäß § 170 Abs. 2 SGG in Verbindung mit dem Art. 1 des Gesetzes zur Übernahme des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom 20.11.1953 (GVOBl. für Berlin 1953 S. 1429) an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324658

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