Leitsatz (redaktionell)
AVG § 28 Abs 4 - Arbeit der Frau als Mutter und Hausfrau:
1. Diese Vorschrift ist seit dem 1953-04-01 ohne die erschwerenden Anspruchsvoraussetzungen der EU und Bedürftigkeit des Witwers anzuwenden.
2. Unter Berücksichtigung des GG Art 3 Abs 2 ist die Arbeit der Frau als Mutter und Hausfrau mit ihrem tatsächlichen Wert als Unterhaltsleistung mit zu berücksichtigen.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1257 Fassung: 1934-05-17; GG Art. 3 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. November 1955 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger begehrt eine Witwerrente aus der Angestelltenversicherung (AV) seiner Ehefrau; diese bezog seit 1951 ein Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit von zuletzt 107,50 DM; sie starb am 7. April 1953. Der Kläger erhielt seit 1950 ein Altersruhegeld aus der AV von zuletzt 132,90 DM sowie eine monatliche Zuwendung (Gratial) von der Stadt Stuttgart in Höhe von 138,20 DM. Die Landesversicherungsanstalt Württemberg, an deren Stelle die Beklagte in das Verfahren eintrat, lehnte den im Juli 1953 gestellten Rentenantrag ab, weil die Ehefrau des Antragstellers den Lebensunterhalt der Familie nicht überwiegend bestritten habe (§ 28 Abs. 4 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG - aF); auch nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung könne der Kläger eine Witwerrente nicht beanspruchen (Bescheid vom 5. August 1953).
Der Kläger vertrat demgegenüber die Ansicht, daß entgegen der Vorschrift des § 28 Abs. 4 AVG aF Anspruch auf Witwerrente auch dann bestehe, wenn - wie in seinem Falle - der Ehemann weder bedürftig noch überwiegend von seiner Frau unterhalten worden sei. Dies ergebe sich daraus, daß eine Witwe Rente ohne solche Einschränkungen erhalte (§ 28 Abs. 3 AVG aF) und der Witwer wegen der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht schlechter gestellt werden dürfe (Art. 3 Abs. 2 und 117 Abs. 1 Grundgesetz - GG -). Das Sozialgericht (SG) wies seine Klage ab. In gleichem Sinne entschied das Landessozialgericht (LSG), das die Berufung des Klägers zurückwies: Die Vorschrift des § 28 Abs. 4 AVG aF widerspreche nicht der Gleichberechtigung von Mann und Frau, weil sie lediglich dem biologischen und funktionalen Unterschied der Geschlechter Rechnung trage. Während auch heute noch die Frau in der Regel mit der Gründung einer Familie aus dem Erwerbsleben ausscheide und daher nach dem Tode ihres Mannes auf eine Versorgung aus seinem früheren Arbeitsverdienst angewiesen sei, stehe der Mann im Berufsleben, so daß seine Existenz auch nach dem Tode seiner Frau gesichert sei. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 22. November 1955).
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung der Witwerrente zu verurteilen. Hilfsweise beantragte er, den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er machte geltend, daß § 28 Abs. 4 AVG aF vom 1. April 1953 an auf Grund der Gleichberechtigung von Mann und Frau außer Kraft getreten sei. Im modernen Wirtschaftsleben sei die mitarbeitende Ehefrau keine Ausnahme mehr, so daß eine unterschiedliche Regelung der Hinterbliebenenrente von Mann und Frau nicht mehr gerechtfertigt sei. Dem Mann stehe daher unter den gleichen Voraussetzungen wie der Frau Hinterbliebenenrente zu.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet, soweit der Kläger hilfsweise beantragt hat, den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Rentenansprüche sind, wenn nicht besondere Vorschriften etwas anderes besagen, nach dem Recht zu beurteilen, das beim Eintritt des Versicherungsfalls gilt. Der Versicherungsfall, der den Anspruch auf Witwerrente auslöst, ist der Tod der versicherten Ehefrau; er ist im April 1953 eingetreten. Die Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers bildet somit § 28 Abs. 4 AVG aF. Daran wird auch durch die neue Fassung dieser Vorschrift im Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) nichts geändert (§ 43 AVG nF; Art. 2 § 6 AnVNG); denn für § 28 Abs. 4 AVG aF ist keine von den Grundsätzen des Art. 2 § 6 AnVNG abweichende Sonderregelung getroffen worden.
Nach § 28 Abs. 4 AVG aF erhält Witwerrente der erwerbsunfähige bedürftige Ehemann nach dem Tod seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Diese Gesetzesvorschrift ist jedoch mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 2 und 117 GG), also seit dem 1. April 1953, ohne die erschwerenden Anspruchsvoraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Witwers anzuwenden. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinem Urteil vom 7. März 1957 (BSG 5, 17) zu der gleichlautenden Vorschrift des § 1257 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF mit eingehender Begründung dargelegt, weshalb diese allein für die Witwerrente bestimmten erschwerenden Anspruchsvoraussetzungen (Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Witwers) dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG widersprechen. Nach seiner Ansicht ist deshalb § 1257 RVO aF mit Ablauf des 31. März 1953 außer Kraft getreten; statt dessen gilt seit 1. April 1953 die Regelung, die der Gesetzgeber inzwischen unter der Herrschaft des GG in § 1266 Abs. 1 RVO nF (= § 43 AVG nF) getroffen hat, d. h. der Ehemann erhält nach dem Tod seiner versicherten Ehefrau Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung für die Vorschrift des § 28 Abs. 4 AVG aF nach eigener Prüfung der Rechtslage an. Inzwischen hat auch das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 24. Juli 1963 - 1 BvL 11/61 - 1 BvL 30/57) entschieden, daß die erschwerende Voraussetzung der Witwerrente gegenüber der Witwenrente in § 43 AVG nF (überwiegendes Bestreiten des Unterhalts der Familie durch die verstorbene Ehefrau) mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG vereinbar ist.
Weil im vorliegenden Rechtsstreit der Versicherungsfall (Tod der versicherten Ehefrau) nach dem 1. April 1953 eingetreten ist, kommt es daher für die Entscheidung allein darauf an, ob die verstorbene Ehefrau des Klägers vor ihrem Tod den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Das LSG sah diese Voraussetzung nicht als erfüllt an, weil das Gesamteinkommen des Klägers das Ruhegeld seiner Ehefrau um mehr als das 1 1/2-fache überstiegen habe. Diese Feststellungen reichen aber nicht aus, um den Anspruch des Klägers auf Witwerrente zu versagen, weil das LSG nur die Barleistungen der Ehegatten, nicht aber den Wert der Arbeit der Frau als Hausfrau berücksichtigt hat. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht zwar in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung mehrerer Senate des BSG (BSG 14, 129). Diese Rechtsprechung ist jedoch inzwischen durch das zu § 43 Abs. 1 AVG nF ergangene - schon oben erwähnte - Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 1963 überholt. Danach ist unter Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 2 GG die Arbeit der Frau als Mutter und Hausfrau mit ihrem tatsächlichen Wert als Unterhaltsleistung mit zu berücksichtigen.
Da das LSG somit nicht alle Tatsachen ermittelt und gewürdigt hat, die für die Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf Witwerrente erheblich sind, hat es die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG möglicherweise zu Unrecht zurückgewiesen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14. Februar 1964 - 1 RA 203/60). Auf die Revision des Klägers war daher das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Berufungsgericht wird nunmehr zu prüfen haben, ob die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie im Sinne der heutigen Rechtsauffassung bis zu ihrem Tode überwiegend bestritten hat. Sollte wegen der Erkrankung der Versicherten auch der Kläger im Haushalt mit tätig gewesen sein, so müßte der Wert dieser Leistungen seinen Barleistungen ebenfalls zugerechnet werden.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen