Leitsatz (amtlich)
1. Waisenrente nach RVO § 1267 Abs 1 S 2 ist grundsätzlich auch dann zu gewähren, wenn die Waise nach abgeschlossener Berufsausbildung für einen weiteren Beruf ausgebildet wird.
2. Bei Prüfung der Voraussetzungen des RVO § 1267 Abs 1 S 2 sind nicht auch die Voraussetzungen des BGB § 1610 Abs 2, dh Unterhaltsbedürftigkeit und Unterhaltsfähigkeit, mit zu prüfen, da diese dem gesamten Unterhaltsrecht eigentümlichen Voraussetzungen dem Waisenrentenrecht fehlen.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; BGB § 1610 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Februar 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Waisenrente für Berufsausbildung nach vollendetem 18. Lebensjahr zusteht.
Die am 6. März 1940 geborene Klägerin machte vom 1. Oktober 1955 bis 30. September 1958 eine kaufmännische Lehre im Elektroeinzelhandel durch, die sie mit der Gehilfenprüfung beendete. Am 9. September 1958 schloß sie mit der Kreis- und Stadtsparkasse N. einen "Vertrag für Dienstanfänger", wonach sie vom 1. Oktober 1958 bis 30. September 1959 dort zur Bürogehilfin ausgebildet werden sollte. Die Klägerin verpflichtete sich in dem Vertrag, die ihr übertragenen Aufgaben gewissenhaft zu erledigen und alles zu tun, um das Ausbildungsziel zu erreichen. Bei Beendigung der Ausbildung hatte die Klägerin ihre Kenntnisse in Kurzschrift (100 Silben in der Minute) und Schreibmaschinenschreiben (140 Anschläge) nachzuweisen. Die Sparkasse bezahlte der Klägerin "eine monatliche Entschädigung von 150,- DM". - Die Beklagte gewährte der Klägerin Waisenrente bis zum 30. September 1958, verweigerte sie aber für die Zeit bis 30. September 1959 (Bescheid vom 4. Februar 1959), da die Berufsausbildung beendet sei. Die weitere Tätigkeit sei nur eine Fortbildung im erlernten Beruf.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Waisenrente vom 1. Oktober 1958 bis 30. September 1959 zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 21. Februar 1962 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Dem Wortlaut des Vertrages entnimmt es, daß die Ausbildung als Bürogehilfin im Vordergrund der Tätigkeit stehen sollte. Wenn es auch auf den Wortlaut des Vertrages nicht ankomme, vielmehr auf die tatsächliche Gestaltung der Tätigkeit, so könne doch bei einer Kreis- und Stadtsparkasse nicht angenommen werden, daß die tatsächliche Gestaltung nicht dem Vertrag entsprochen habe. Die Anlernzeit sei wegen der zuvor erworbenen Kenntnisse der Klägerin auf ein Jahr verkürzt worden. Die monatliche Entschädigung sei Ausbildungsbeihilfe, nicht Arbeitsentgelt, gewesen. Der Gewährung der Waisenrente stehe nicht entgegen, daß die Klägerin schon eine abgeschlossene Berufsausbildung zurückgelegt habe.
Gegen das der Beklagten am 26. März 1962 zugestellte Urteil hat diese am 5. April 1962 Revision eingelegt und innerhalb der bis zum 26. Juni 1962 verlängerten Frist begründet. Sie rügt Verletzung materiellen und formellen Rechts. Die Klägerin sei bei der Sparkasse nicht ausgebildet worden. Eine Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nur anzunehmen, wenn der vorgesehene Ausbildungsgang wenigstens in großen Zügen eingehalten und die geforderte Abschlußprüfung abgelegt werde. Auch könne der Rentenversicherungsträger nach dem Sinngehalt der Vorschrift zur Finanzierung einer zweiten Berufsausbildung grundsätzlich ebensowenig verpflichtet sein, wie dies nach § 1610 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der unterhaltspflichtige Vater sei. Das LSG hätte weitere Ermittlungen anstellen müssen. Diese hätten ergeben, daß die Klägerin bei der Sparkasse nicht ausgebildet, sondern lediglich eingearbeitet worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II. Die Revision ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil mußte aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden, da die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen für eine Entscheidung in der Sache nicht ausreichen.
Nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO wird Waisenrente nach dem Tode des Versicherten für ein unverheiratetes Kind, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet, längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. Eine Berufsausbildung i. S. dieser Vorschrift bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Reichsversicherungsamts (RVA): Die Ausbildung dient einem zukünftigen, gegen Entgelt auszuübenden Beruf und beansprucht die Zeit und Arbeitskraft ausschließlich oder wenigstens überwiegend (vgl. BSG 14, 285, 287; 18, 115, 116; BSG SozR RVO § 1267 Nr. 12, 13 und 14; RVA, GE Nr. 3126, AN 1928, 109 ff; EuM 23, 380).
Hierzu zählen nicht nur Ausbildungsverhältnisse mit einem üblichen Ausbildungsgang und einer Abschlußprüfung (vgl. BSG 14, 285, 287; RVA, GE Nr. 3277, AN 1928, 337 f), sondern auch davon abweichend gestaltete Ausbildungsverhältnisse mit verkürzter Ausbildungszeit und ohne Prüfungsabschluß. Auch das Anlernen im Betrieb kann Berufsausbildung sein, wenn hierdurch die Zeit und Arbeitskraft der Waise ganz oder überwiegend in Anspruch genommen sind. Eine Einarbeitung oder Einweisung am Arbeitsplatz dürfte regelmäßig keine Berufsausbildung sein, insbesondere, wenn dabei das volle oder annähernd das volle Entgelt gewährt wird; in derartigen Fällen vermeidet es schon der allgemeine Sprachgebrauch, von "Berufsausbildung" zu sprechen.
Ob eine berufliche Fortbildung ebenfalls unter Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO fallen kann, brauchte der Senat nicht zu entscheiden. Die Klägerin hat sich nicht beruflich fortgebildet. Die Klägerin hätte dann im seitherigen Beruf des Einzelhandelskaufmanns bleiben und sich darin weiterbilden bzw. vervollkommnen müssen (vgl. BSG SozR § 1267 Nr. 14). Das Berufungsgericht hat jedoch zutreffend festgestellt, daß der Übergang von der Tätigkeit eines Einzelhandelskaufmanns zu derjenigen einer Sparkassenangestellten ein Berufswechsel ist.
Waisenrente ist grundsätzlich auch dann zu zahlen, wenn das Kind nach abgeschlossener Ausbildung für einen weiteren Beruf, ggf. auch in einem abweichend vom Üblichen gestalteten Ausbildungsverhältnis mit verkürzter Ausbildungszeit und ohne Prüfungsabschluß ausgebildet wird. Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO ist zu entnehmen, daß Waisenrente nach vollendetem 18. Lebensjahr nur für das erste Ausbildungsverhältnis zu gewähren ist (BSG SozR § 1267 RVO Nr. 14; RVA, EuM 29, 138, 140 und 435 f).
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Regelung der Unterhaltspflicht im bürgerlichen Recht bei der Vorbildung zu einem Beruf nach § 1610 Abs. 2 BGB nicht einschlußweise in § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO enthalten und daher bei der Auslegung dieser Vorschrift unmaßgeblich. Die Waisenrente für eine Berufsausbildung hängt im Unterschied zu dem bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch des § 1610 Abs. 2 BGB nicht davon ab, ob Unterhaltsbedürftigkeit auf der einen und Unterhaltsfähigkeit auf der anderen Seite bestehen. Diese dem gesamten Unterhaltsrecht eigentümlichen Voraussetzungen fehlen dem Waisenrentenrecht. Dieses Hinterbliebenenrentenrecht wie übrigens auch das der Witwenrente als eines anderen und wichtigen Teils des Hinterbliebenenrentenrechts (§ 1264 RVO) hat sich durch den Verzicht auf die genannten Unterhaltsvoraussetzungen vom bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsrecht gelöst. Wo im Hinterbliebenenrentenrecht bürgerlich-rechtliche Unterhaltsvoraussetzungen maßgeblich sein sollen, ist dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt (vgl. §§ 1265, 1266 RVO).
Um einen Mißbrauch bei der Inanspruchnahme von Waisenrente auszuschließen, muß allerdings, wenn Waisenrente für eine weitere Berufsausbildung nach abgeschlossener Ausbildung begehrt wird, im Einzelfall sorgfältig geprüft werden, ob die Waise sich tatsächlich einer Berufsausbildung unterzieht und nicht eine solche nur vortäuscht, um so die Weiterzahlung der Waisenrente zu erreichen (Scheinausbildung; vgl. RVA, EuM 29, 140 und 436). Eine solche Scheinausbildung wird insbesondere anzunehmen sein, wenn ein Beruf nicht ernstlich angestrebt wird oder wenn nicht die Ausbildung, sondern die Verwertung der Arbeitskraft der Waise im Vordergrund der Tätigkeit steht.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob sich die Klägerin während der in Frage stehenden Zeit in Berufsausbildung befunden hat. Der Hinweis des Berufungsgerichts auf den zwischen der Klägerin und der Sparkasse abgeschlossenen "Vertrag für Dienstanfänger" genügt nicht. Denn der Vertrag enthält nichts darüber, wie die Tätigkeit im einzelnen gestaltet war, ob die Klägerin z. B. verschiedene Geschäftsgänge und Arbeitsplätze innerhalb des Betriebes kennenlernen sollte, sowie ob und in welcher Weise eine Unterrichtung der Klägerin geplant war. Derartige tatsächliche Feststellungen sind aber erforderlich, um beurteilen zu können, ob die Zeit und Arbeitskraft der Klägerin überwiegend durch Ausbildung beansprucht worden ist. Die Annahme des LSG, die tatsächliche Gestaltung der Tätigkeit habe dem geschlossenen Vertrag entsprochen, reicht nicht aus, auch wenn in dem Vertrag mehrfach von "Ausbildung" die Rede ist. Es wird vielmehr Aufgabe des Berufungsgerichts sein, zu ermitteln - etwa durch Anhörung der Klägerin, durch Vernehmung der Vorgesetzten und der Mitarbeiter der Klägerin sowie ggf. durch Vernehmung eines berufskundigen Sachverständigen oder durch Einholung von Auskünften -, ob die Klägerin in der fraglichen Zeit tatsächlich eine ernstlich gewollte weitere Berufsausbildung genossen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1982440 |
BSGE, 166 |