Leitsatz (amtlich)
Für die Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse die Rentenentziehung rechtfertigt, ist weder von den Verhältnissen beim Eintritt des Versicherungsfalls, noch denen bei Rentenbeginn, sondern von den Verhältnissen zur Zeit der (späteren) Rentenbewilligung jedenfalls dann auszugehen, wenn der Versicherungsträger die Rente unbegrenzt für die Zukunft bewilligt hatte.
Leitsatz (redaktionell)
Die Problematik der Berentung Krebskranker.
Normenkette
AVG § 63 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-23; AnVNG Art. 2 § 43 S. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 44 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 7. Juni 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen Rentenentziehung. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte die Klägerin - geboren 1921, früher kaufmännische Angestellte - im August 1953 die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) beantragt. Die Beklagte hatte nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens zwar anerkannt, daß die Klägerin wegen der Folgen einer Krebsoperation seit Mai 1953 berufsunfähig (bu) war, jedoch den Rentenantrag abgelehnt, weil die Anwartschaft nicht erhalten war. Der Bescheid hierüber vom 2. Oktober 1954 war bindend geworden.
Im Dezember 1958 beantragte die Klägerin die Überprüfung ihres früheren Rentenantrages nach Art. 2 § 43 Satz 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG). Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin - ohne neue ärztliche Begutachtung - vom 1. Januar 1957 an die Rente (Bescheid vom 24. Juli 1959).
Die von der Beklagten im September 1959 und im September 1960 veranlaßten Nachuntersuchungen der Klägerin ergaben, daß eine postoperative Krebsheilung vorliege und daß die Klägerin wieder ohne Einschränkung als kaufmännische Angestellte erwerbstätig sein könne. Daraufhin entzog die Beklagte die Rente nach § 63 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zum 30. November 1960 mit der Begründung, daß die Krebserkrankung als ausgeheilt anzusehen sei (Bescheid vom 27. Oktober 1960).
Im Klageverfahren zog das Sozialgericht (SG) Hamburg mehrere ärztliche Befundberichte bei und hörte die Ärzte Dr. M und Dr. A als Gutachter. Es hob den Entziehungsbescheid auf und verurteilte die Beklagte zur Weitergewährung der Rente über den 30. November 1960 hinaus. Das SG war der Auffassung, nach den ärztlichen Gutachten liege zwar eine Änderung der Verhältnisse gegenüber den Befunden in den Jahren 1953/1954, aber nicht gegenüber denen in den Jahren 1957 bis 1959 vor. Die Rente sei der Klägerin zu Unrecht zugesprochen worden und könne deshalb nicht nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG entzogen werden (Urteil vom 21. November 1961).
Das LSG Hamburg holte weitere ärztliche Befundberichte ein und hörte die Ärzte Dr. G und Dr. M als Gutachter. Es wies die Berufung der Beklagten als unbegründet zurück und ließ die Revision zu: Für die Rentenentziehung nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG genüge es nicht, daß zur Zeit der Rentenentziehung keine BU vorliegt, vielmehr sei nach dem Gesetzeswortlaut ("nicht mehr bu") zu verlangen, daß eine früher bestehende BU durch die Änderung beseitigt worden sei. Für den Vergleich komme es auf den Zeitpunkt an, von dem an die Rente gezahlt wird, hier also auf den Gesundheitszustand der Klägerin am 1. Januar 1957, und nicht auf denjenigen der Jahre 1953/1954. Die Beklagte hätte vor der Bewilligung der Rente alle Voraussetzungen des Rentenanspruchs neu prüfen müssen. Am 1. Januar 1957 habe bei der Klägerin nach den ärztlichen Bekundungen keine BU bestanden. Sie habe sich nach der Krebsoperation nur bis zum Jahre 1956 der ambulanten Kontrolle unterziehen müssen. Das Carcinom sei, wie Dr. B nach dreijähriger Behandlungszeit festgestellt habe, im Jahre 1956 klinisch ausgeheilt gewesen. Auch später sei keine BU eingetreten. Wenn aber die Klägerin weder am 1. Januar 1957 noch zu einem späteren vor der Rentenentziehung liegenden Zeitpunkt berufsunfähig im Sinne von § 23 Abs. 2 AVG gewesen sei, so habe eine zur Entziehung berechtigende Änderung der Verhältnisse der Klägerin nicht vorgelegen. Der Entziehungsbescheid sei rechtswidrig und vom SG mit Recht aufgehoben worden (Urteil vom 7. Juni 1963).
Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügte, das LSG habe § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG unzutreffend angewandt. Für den Vergleich der Verhältnisse komme es nicht auf den Gesundheitszustand am 1. Januar 1957 an, sondern auf den durch ein ärztliches Gutachten eindeutig und zutreffend festgestellten Eintritt der BU der Klägerin im Jahre 1953. Von den damals festgestellten ärztlichen Befunden sei - was die Klägerin gewußt habe - bei der Rentengewährung ausgegangen worden. Dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspreche es in Fällen der vorliegenden Art, d. h. wenn der Eintritt des Versicherungsfalles und die Rentengewährung auseinanderfallen, auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalles abzustellen. Der Rechtsstreit sei ähnlich zu beurteilen wie der vom Bundessozialgericht (BSG) bereits entschiedene Fall der "Verdachtsdiagnose" (BSG 17, 295), weil die Annahme der BU der Klägerin im wesentlichen auf den Verdacht des Weiterbestehens des Krebsleidens gestützt worden sei. Dann aber sei § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG anzuwenden. Anderenfalls wäre zu prüfen, ob die Entziehung der Rente nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gerechtfertigt sei. Wenn die Klägerin sich gegen die Rentenentziehung wehre, obwohl sie die Hintergründe der Rentenbewilligung kenne, so bedeute ihr Verhalten eine unzulässige Rechtsausübung.
Die Klägerin war im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Es besteht keine rechtliche Handhabe, der Klägerin die Rente zu entziehen. Die Revisionsangriffe der Beklagten können daran nichts ändern.
Nach den Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht angegriffen sind und deshalb den Senat binden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), ist die Klägerin jedenfalls in der Zeit seit dem 1. Januar 1957 nicht mehr außerstande gewesen, ihren früheren Beruf als kaufmännische Angestellte auszuüben. Sie ist seither nicht mehr berufsunfähig, die gegenteilige Meinung der Klägerin hat das LSG als durch die im Klage- und Berufungsverfahren eingeholten ärztlichen Gutachten widerlegt angesehen. Für die Frage, ob die von der Beklagten ohne zeitliche Begrenzung für die Zukunft gewährte Rente nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG zu entziehen ist, kommt es daher darauf an, ob in den Verhältnissen der Klägerin eine objektive, die Entziehung rechtfertigende Änderung eingetreten ist. Die Entscheidung hierüber kann, wie das BSG in ähnlich liegenden Fällen schon wiederholt entschieden hat, nur auf Grund eines Vergleichs mit den Verhältnissen zur Zeit der Rentengewährung getroffen werden (BSG 7, 215, 295 und SozR Aa 6 Nr. 15 zu § 1293 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF). Danach kommt es also auf den Gesundheitszustand der Klägerin zur Zeit des Rentenbescheids an, in dem die Beklagte die Voraussetzungen der Rentenbewilligung letztmals geprüft hat. Wenn demgegenüber das LSG in Fällen, in denen - wie hier - die Entscheidung des Versicherungsträgers über die Bewilligung der (unbegrenzten) Rente (1959) und den Beginn der Rentenzahlung (1. Januar 1957) auseinanderfallen, auf die Verhältnisse im letzteren Zeitpunkt abstellen will, so kann der Senat dieser Auffassung nicht beitreten. § 63 AVG ist eine Vorschrift, die dazu dient, die Bindungswirkung des Rentenbescheides (§ 77 SGG) zu durchbrechen, wenn die für seinen Erlaß maßgeblichen Verhältnisse sich nachträglich geändert haben. Hieraus ergibt sich die Bezogenheit der Vorschrift zu dem vorausgegangenen Rentenbescheid und die Notwendigkeit, den Zeitpunkt seines Erlasses zum Ausgangspunkt für die Prüfung nach § 63 AVG zu machen. Jedoch ist die abweichende Meinung des LSG hier ohne Bedeutung. Nach seinen Feststellungen war die Klägerin weder im Zeitpunkt des Rentenbescheides noch im Zeitpunkt des Rentenbeginns berufsunfähig; der nach der Meinung des LSG anzustellende Vergleich führt deshalb zu keinem anderen Ergebnis. Aus den angeführten Gründen kann der Senat aber erst recht nicht der Auffassung der Revision folgen, es komme im Falle der Klägerin nicht auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Rentengewährung (1959), sondern auf die Verhältnisse zur Zeit des Versicherungsfalles (1953) an. Diese Auffassung ist auch bei der Anwendung von Art. 2 § 43 Satz 2 AnVNG nicht gerechtfertigt. Zwar ist nach dieser Vorschrift für den Fall, daß vor dem 1. Januar 1957 ein Rentenantrag bindend abgelehnt worden war, auf fristgerecht gestellten Antrag hin zu prüfen, ob die Vorschriften des neuen Rechts günstiger sind. Wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, bedeutet dies aber nicht, daß die neue Prüfung sich auf die Vergünstigungen des neuen Rechts (hier: Wegfall der Vorschriften über die Erhaltung der Anwartschaft) beschränkt und im übrigen das Ergebnis der früheren Prüfung (hier: Feststellung der BU in den Jahren 1953/1954) unverändert beibehalten wird. Vielmehr war die Beklagte, als sie den Antrag der Klägerin nach Art. 2 § 43 Satz 2 AnVNG bearbeitete, befugt und gehalten, die Voraussetzungen für die Rentengewährung in vollem Umfang zu überprüfen. Sie kann, um die Rechtmäßigkeit der Rentenbewilligung im Jahre 1959 darzulegen, sich nicht mehr auf die Verhältnisse bei Eintritt des Versicherungsfalls im Jahre 1953 berufen, weil diese Verhältnisse zur Zeit der Rentenbewilligung nicht mehr vorlagen. Zwar ergibt sich aus den Umständen, insbesondere daraus, daß im Überprüfungsverfahren kein neues Gutachten über den Gesundheitszustand der Klägerin eingeholt wurde, als Grund für die Rentengewährung mit hinreichender Deutlichkeit die Annahme der Beklagten, daß das 1953/1954 festgestellte Leiden bei der Klägerin fortbestehe. Für die Prüfung der wesentlichen Änderung der Verhältnisse kommt es aber nicht darauf an, welche Verhältnisse die Beklagte als vorliegend angesehen hat, was also subjektiv für sie beim Erlaß des Rentenbescheides maßgebend gewesen ist, sondern wie die Verhältnisse in Wirklichkeit (objektiv) vorgelegen haben (vgl. BSG 7, 8, 12; 10, 72). Tatsächlich war aber das Krebsleiden der Klägerin, wie das LSG unangefochten festgestellt hat, schon im Jahre 1956 ausgeheilt und der Grund für die frühere Annahme von BU bei ihr weggefallen. Gegenüber dem bei der Rentenbewilligung bestehenden Zustand war daher zur Zeit der beabsichtigten Rentenentziehung keine Änderung eingetreten. Die Rechtslage ist deshalb nicht anders zu beurteilen als in den vom BSG früher entschiedenen Fällen der unrichtigen Diagnose (BSG 6, 25; 8, 241). Hier wie dort ist bei der Rentenbewilligung ein in Wahrheit nicht bestehendes Leiden und die daraus vermeintlich folgende Minderung der Erwerbsfähigkeit zugrunde gelegt und damit ein schon zur Zeit seines Erlasses fehlerhafter Verwaltungsakt erlassen worden. Der Hinweis der Revisionsbegründung auf die Entscheidung in BSG 17, 295 geht insofern fehl, als es sich dort um einen besonders gelagerten Einzelfall gehandelt hat, nämlich um eine Rente wegen vorübergehender Invalidität nach früherem Recht als einer vorsorglichen Maßnahme und um den Wegfall wenigstens auch einer Reihe von Gesundheitsschäden (Strahlenschäden), die für die Rentenbewilligung bedeutsam gewesen waren. Für solche Fälle bietet das neue Recht andere Möglichkeiten, z. B. Rente auf Zeit nach § 53 AVG oder aber Maßnahmen nach §§ 13 ff AVG (z. B. ärztliche Nachbehandlung mit ärztlich kontrollierter Schonung und Übergangsgeld).
Die Rentenentziehung kann auch nicht auf die Grundsätze gestützt werden, welche die allgemeinen Verwaltungsgerichte für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte entwickelt haben. Für deren Heranziehung ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Recht der Rentenversicherung kein Raum (BSG 2, 188, 190; 7, 275, 278; 11, 226, 229; vgl. auch BSG 18, 84, 89), weil die Rücknahme von Anfang an fehlerhafter Bescheide in den Rentenversicherungsgesetzen erschöpfend und abschließend geregelt ist. Von dieser Auffassung sind auch in ihrer Mehrzahl die Teilnehmer an der Tagung der sozial-rechtlichen Arbeitsgemeinschaft beim 45. Deutschen Juristentag in Karlsruhe (22. bis 25. September 1964) ausgegangen, wie sich aus der dort gefaßten Entschließung ergibt, in der dem Gesetzgeber empfohlen wurde, die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte in der Sozialversicherung neu zu regeln und dabei eine möglichst weitgehende Übereinstimmung mit dem Allgemeinen Verwaltungsrecht herbeizuführen (vgl. u. a. BArbBL 1966 S. 79 ff; DVBl 1964 S. 989; DÖV 1964 S. 846; BB 1964 S. 1142). Das AVG kennt auch keine dem § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der KOV oder dem § 185 AVAVG entsprechende Vorschrift, wonach auf den Gebieten der KOV und der Arbeitslosenversicherung auch begünstigende Bescheide zurückgenommen werden können, wenn sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Die früher - vorübergehend - gegebene Möglichkeit, Rentenbescheide auch ohne Nachweis einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse des Empfängers aufzuheben, wenn keine BU besteht (§ 1293 Abs. 2 RVO idF der Verordnung vom 17. Mai 1934 - BGBl I 419 und der SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 - ArbBl für die britische Zone 1947 S. 12 -), ist bei der Neuregelung der Rentenversicherung im Jahre 1957 nicht übernommen worden.
Soweit die Beklagte die Entziehung der Rente darauf stützen will, die Klägerin habe bei Bewilligung der Rente gewußt, daß dieser ihr Gesundheitszustand im Jahre 1953 und nicht der aus dem Jahre des neuen Rentenantrags zugrunde gelegt worden sei, die Klägerin sei sich auch darüber im klaren gewesen, die Rente werde früher oder später entzogen werden, übersieht sie, daß das LSG hierüber keinerlei tatsächliche Feststellungen getroffen hat und daß sie selbst insoweit gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht hat (§ 163 SGG). Es fehlt daher auch an tatsächlichen Feststellungen, aus denen sich ergeben könnte, daß das Begehren der Klägerin auf Fortzahlung der Rente etwa einen Rechtsmißbrauch darstelle.
Es kann darum offen bleiben, ob und auf Grund welcher Normen die Beklagte befugt sein könnte, wegen dieser - von ihr selbst nur unterstellten - Umstände, die einmal bewilligte Rente wieder zu entziehen oder deren Auszahlung zu verweigern.
Aus allen diesen Gründen erweist sich die Revision der Beklagten als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen