Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Verweisungstätigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, darf im Rahmen der Prüfung seiner Erwerbsunfähigkeit nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Praktisch verschlossen, ist ihm der Arbeitsmarkt, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75:100 (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu RVO § 1247).
Normenkette
RKG § 47 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.03.1969) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1969 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit statt der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der im Jahre 1904 geborene Kläger war bis zum 31. Januar 1964 als Schachtaufseher und danach bis zum 1. Oktober 1964 als Platzarbeiter tätig. Seit Januar 1964 erhält er von der Beklagten die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit. Die von ihm im August 1966 beantragte Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Januar 1967 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 1968 zurückgewiesen.
Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg die Beklagte verurteilt, an den Kläger ab 1. August 1966 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. Gegen das Urteil legte die Beklagte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 20. März 1969 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten bis zu vier Stunden täglich - also praktisch halbschichtig - zu verrichten. Gegen einen Fußweg von fünfzehn Minuten zu und von der Arbeitsstelle und gegen die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel beständen keine Bedenken. Die Frage des Vorhandenseins von für den Kläger geeigneten Arbeitsplätzen hat das LSG nicht geprüft, weil nach seiner Auffassung grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, daß jemand, der noch etwa halbschichtig - wenn auch nur in geschlossenen Räumen - arbeiten kann, im allgemeinen nicht als erwerbsunfähig anzusehen ist.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom LSG dagegen zugelassene Revision eingelegt. Das LSG habe nicht von einer halbschichtigen Tätigkeit ausgehen können, denn wenn ein medizinischer Sachverständiger angegeben habe, der Kläger könne noch drei bis vier Stunden täglich leichte Arbeiten verrichten, so bringe der Sachverständige damit zum Ausdruck, daß der Kläger zeitweise drei und zeitweise vier Stunden täglich diese Arbeiten verrichten könne. Das bedeute, daß der Kläger fortgesetzt und regelmäßig nur durchschnittlich dreieinhalb Stunden täglich, also weniger als halbschichtig, arbeiten könne. Damit könne er aber nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1969 nicht mehr auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes, sondern nur noch auf Arbeitsplätze an seinem Wohnort oder in dessen täglich erreichbaren Umgebung verwiesen werden. Ob es im Wohngebiet des Klägers diese Arbeiten in einem nennenswerten Umfang gebe, bedürfe einer weiteren Klärung.
Der Kläger und die Beklagte beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1969 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, das LSG müsse als Tatsacheninstanz noch die erforderliche, aber unterlassene Prüfung vornehmen, ob im Bundesgebiet Teilzeitarbeitsplätze, die der Kläger mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, in genügender Zahl vorhanden sind.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Die im vorliegenden Fall entscheidende Frage, ob ein Versicherter auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für die Tätigkeiten, die er noch verrichten kann, Arbeitsplätze gibt, hat der Große Senat des BSG durch Beschluß vom 10. Dezember 1969 - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung ... erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausüben kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind. Auf solche Arbeitsplätze kann der Versicherte nur verwiesen werden, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger als 75:100 ist. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Sie gilt auch für § 47 Reichsknappschaftsgesetz, denn der Begriff der Erwerbsunfähigkeit ist in der knappschaftlichen Rentenversicherung der gleiche wie in der Rentenversicherung der Arbeiter. Der Auffassung des LSG, es könne grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß jemand, der noch etwa halbschichtig - wenn auch nur in geschlossenen Räumen - arbeiten kann, nicht als erwerbsunfähig anzusehen sei, kann dagegen in dieser Verallgemeinerung nicht zugestimmt werden.
Der Große Senat des BSG hat im Abschnitt C V des genannten Beschlusses vom 10. Dezember 1969 in Verbindung mit Abschnitt C V des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M gegen LVA B - GS 4/69 - Anhaltspunkte dafür gegeben, wann das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Das LSG hat, was im Hinblick auf diese Grundsätze von Bedeutung ist, festgestellt, daß der Kläger - außer der zeitlichen Einschränkung - nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen verrichten kann. Damit kann er nicht auf das gesamte Teilzeitarbeitsfeld, d. h. nicht auf alle leichten bis mittelschweren Arbeiten im Sitzen, im Stehen und im Umhergehen in geschlossenen Räumen und im Freien, verwiesen werden. Bei Annahme der Möglichkeit einer halbschichtigen Tätigkeit wird das LSG zu prüfen haben, ob es sich bei den von ihm festgestellten Einschränkungen um starke Einschränkungen im Sinne von Abschnitt C V 1 des o. a. Beschlusses i. V. m. Abschn. C V 2 b aa und bb des Beschlusses des Großen Senats in Sachen Maaß gegen LVA Berlin - GS 4/69 - handelt. Handelt es sich um starke Einschränkungen in diesem Sinne, so kann der Kläger nicht auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden, es sei denn, daß das Arbeitsamt oder die Beklagte ihm einen entsprechenden Arbeitsplatz nachweisen würden - gleichgültig, ob er dann von diesem Angebot Gebrauch macht oder nicht - oder wenn er anderweitig einen solchen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise erhalten hätte. Handelt es sich dagegen nicht um starke Einschränkungen in diesem Sinne, kann der Kläger auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden. Diese Entscheidung kann nicht ohne Kenntnis der zahlenmäßigen Größe der Gruppe von für den Kläger geeigneten Teilzeitarbeitsplätzen getroffen werden, da nur bei Kenntnis dieser Zahl entschieden werden kann, ob es sich gegenüber dem uneingeschränkten Arbeitsmarkt um eine starke Einschränkung handelt.
Da der Kläger grundsätzlich auf das Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik Deutschland verwiesen werden kann, kommt zur Klärung dieser Frage praktisch allein die Einholung einer Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit in N in Betracht, weil nur diese ihrem gesetzlichen Auftrag nach und wegen der ihr zur Verfügung stehenden Unterlagen und wegen ihrer Möglichkeiten zur Beschaffung und Auswertung der erforderlichen Daten einen ausreichenden Überblick über die Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes der gesamten Bundesrepublik Deutschland oder eines Teilbereichs dieses Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutschland haben kann. Andere zentrale Stellen können, wenn überhaupt, allenfalls Kenntnisse über die Verhältnisse der von ihnen betreuten oder erfaßten einzelnen Berufe oder Berufsgruppen, nicht aber ausreichende Kenntnisse über den allgemeinen Arbeitsmarkt oder über Teilbereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes haben. Andererseits kommen örtlich oder bezirklich zuständige Arbeitsbehörden und sonstige Stellen in diesen Fällen als Auskunftsstellen nicht in Betracht, weil sie allenfalls ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen über die Verhältnisse ihres Bereichs haben können, allein entscheidend aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik Deutschland, nicht aber die in bezirklichen oder örtlichen Bereichen ist. Wenn aber selbst die Bundesanstalt für Arbeit zur Zeit nicht in der Lage sein sollte, die ungefähre Größe der für den Kläger in Betracht kommenden Teilgebiete des allgemeinen Arbeitsmarktes anzugeben, könnte der Kläger nach den Grundsätzen des o. a. Beschlusses nicht auf dieses Teilzeitarbeitsfeld verwiesen werden; denn auch in einem solchen Falle muß nach dem o. a. Beschluß angenommen werden, daß ihm das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist. Wenn die für die Beobachtung des Arbeitsmarktes und die Arbeitsvermittlung zuständige Arbeitsverwaltung nicht in der Lage ist, die ungefähre zahlenmäßige Größe eines Teilzeitarbeitsmarktes anzugeben, muß nämlich davon ausgegangen werden, daß ihr auch nicht bekannt ist, wo und in welchem Umfang sich solche Stellen befinden. Daher muß man annehmen, daß es sich insoweit um einen nicht funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt handelt, der dem Versicherten praktisch verschlossen ist. Zwar ist auch der Kläger verpflichtet, von sich aus einen solchen Arbeitsplatz zu suchen. Doch kann nicht angenommen werden, daß er eine bessere Übersicht über diesen Arbeitsmarkt hat als die Bundesanstalt für Arbeit in N selbst.
Vorher wird das LSG aber seine Feststellung überprüfen müssen, daß der Kläger noch halbschichtig arbeiten kann. Diese Feststellung wird von der Revision angegriffen, weil der Sachverständige, auf den sich das LSG stützt, der Ansicht sei, der Kläger könne nur noch täglich drei bis vier Stunden arbeiten; hieraus kann nach Ansicht der Revision nicht auf die Möglichkeit einer halbschichtigen Tätigkeit geschlossen werden.
Da der erkennende Senat im Revisionsverfahren die erforderlichen Tatsachen zur Prüfung der Frage, ob dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen ist und er daher zu seiner Rente wegen Berufsunfähigkeit keine mehr als nur geringfügigen Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann, nicht selbst feststellen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Dem LSG bleibt auch die Kostenentscheidung hinsichtlich des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen