Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Verweisungstätigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, darf im Rahmen der Prüfung seiner Erwerbsunfähigkeit nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Praktisch verschlossen ist ihm der Arbeitsmarkt, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75:100 (vgl BSG 1969-12-11 GS 2/68 = SozR Nr 20 zu RVO § 1247).
Normenkette
RKG § 47 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.06.1967) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 27.07.1966) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juni 1967 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im November 1910 geborene Kläger war zuletzt als Hauer tätig und bezieht Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit. Seinen Antrag auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13. April 1965 ab. Widerspruch, Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger sei nicht erwerbsunfähig, weil er noch in der Lage sei, halbschichtig leichte Arbeiten - überwiegend im Sitzen - zu verrichten und einen normalen Arbeitsweg von etwa einer halben Stunde zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Vom Gesetzgeber sei eine gewisse Verweisung auf Teilzeitarbeiten gewollt und in Kauf genommen worden. Insoweit bedürfe es keiner Beweiserhebungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen. Bei der Verweisung müßten aber zwei wesentliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Einmal die Tatsache, daß die Zahl von Teilzeitarbeitsplätzen für Männer, im ganzen gesehen, jedenfalls nicht sehr groß sei. Zum anderen könne nach allgemeiner Erfahrung davon ausgegangen werden, daß die Aussichten einen Teilzeitarbeitsplatz zu erhalten, immer geringer würden, je stärker die gesundheitlichen Einschränkungen seien. Berücksichtige man dies, so sei jemand, der noch etwa halbschichtig - wenn auch nur in geschlossenen Räumen - arbeiten könne, im allgemeinen nicht als erwerbsunfähig anzusehen. Diese Ansicht sei vom Bundessozialgericht (BSG) (Urteil vom 13. April 1967 - 5 RKn 108/66 - = SozR Nr. 14 zu § 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) im Ergebnis bestätigt worden. Da feststehe, daß der Kläger noch derartige leichte Arbeit halbschichtig verrichten könne, sei er nicht erwerbsunfähig.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger vor, sein Leistungsvermögen sei in so hohem Grade eingeschränkt, daß eine reale Möglichkeit, einen dementsprechenden Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten, nicht mehr bestehe. Auch das BSG habe, in der vom LSG angeführten Entscheidung (SozR Nr. 14 zu § 1247 RVO) festgestellt, eine Verweisung sei nur auf solche Arbeitsplätze möglich, die es in mehr als nur bedeutungslosem Umfang gebe. Eine Verweisung auf Tätigkeiten für die es ein dem freien Wettbewerb zugängliches Arbeitsfeld nicht gebe, habe schon das Reichsversicherungsamt (RVA) nicht für zulässig gehalten. Das LSG gehe davon aus, daß es für den Kläger noch Tätigkeiten in nennenswerter Zahl gebe, ohne darüber Feststellungen getroffen zu haben. Die Erfahrungen der Tatsachengerichte reichten zu dieser Annahme jedenfalls nicht aus, zumal entsprechende Nachfragen und Erhebungen der LSGe Celle und Nordrhein-Westfalen negativ gewesen seien. Solche Nachforschungen seien auch hier - allerdings auf den dem Kläger räumlich zugänglichen Bereich beschränkt - erforderlich gewesen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidung des LSG vom 15. Juni 1967 - L 2 Kn 135/66 - und unter Aufhebung der Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 27. Juli 1966 - S 3 Kn 114/65 -, sowie der entgegenstehenden Bescheide der Beklagten, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Entscheidend ist, ob der Kläger auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für die Tätigkeiten, die er noch verrichten kann, Arbeitsplätze gibt. Diese Rechtsfrage hat der Große Senat durch Beschluß vom 11. Dezember 1969 in Sachen B ./. Landesversicherungsanstalt (LVA) R - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 RVO erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind, und daß der Versicherte auf solche Tätigkeiten nur verwiesen werden kann, wenn ihm das Arbeitsfeld praktisch nicht verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger ist als 75 zu 100. Die in diesem Beschluß entwickelten Rechtsgrundsätze sind zwar zu § 1247 Abs. 2 RVO in bezug auf die Arbeiterrentenversicherung ergangen, sie gelten jedoch entsprechend auch für § 47 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG), da der Wortlaut beider Vorschriften übereinstimmt und in beiden Versicherungszweigen der Begriff der Erwerbsunfähigkeit ein einheitlicher ist. Da der Kläger als Arbeiter beschäftigt war, braucht auf gewisse Unterschiede in den tatsächlichen Gegebenheiten bei Angestellten nicht eingegangen zu werden (vgl. dazu BSG vom 18. März 1970 - 1 RA 55/66).
Der Große Senat hat im Abschnitt C V 1 des o. a. Beschlusses in Verbindung mit Abschnitt C V 2 des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M ./. LVA B - GS 4/69 - Grundsätze dafür entwickelt, wann in diesem Sinne das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Um dies hier entscheiden zu können, bedarf es weiterer Tatsachenfeststellungen, die der erkennende Senat als Revisionsgericht nicht treffen kann. Das LSG hat lediglich festgestellt, daß der Kläger noch halbschichtig leichte Arbeiten - überwiegend im Sitzen - verrichten kann. Damit steht fest, daß er nicht auf das gesamte allgemeine Arbeitsfeld für halbschichtige bis unter vollschichtige Tätigkeit im Sinne des o. a. Beschlusses (C V 2), d. h. auf alle leichten bis mittelschweren Arbeiten im Sitzen, im Stehen und im Umhergehen in geschlossenen Räumen und im Freien verwiesen werden kann, sondern nur auf einen eingeschränkten Teil desselben. Entscheidend ist nun, ob es sich hierbei um starke Einschränkungen im Sinne des Abschnitts C V 1 in Verbindung mit Abschnitt C V 2 b bb) der o. a. Beschlüsse handelt. Ist diese Frage zu bejahen, so kann der Kläger auf dieses Arbeitsfeld nicht verwiesen werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Arbeitsamt oder die Beklagte dem Versicherten einen entsprechenden Arbeitsplatz nachweist, gleichgültig ob er von diesem Angebot Gebrauch macht, oder wenn er einen solchen Arbeitsplatz anderweitig nicht nur vergönnungsweise erhalten hat (vgl. dazu Abschn. C V 1 a aa) des Beschlusses M ./. LVA B vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 -).
Die Entscheidung darüber, ob die Beschränkung auf leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen den uneingeschränkten allgemeinen Arbeitsmarkt stark zu Ungunsten des Klägers einengt, kann nicht ohne Kenntnis der zahlenmäßigen Größe dieser Gruppe von Teilzeitarbeitsplätzen getroffen werden. Da der Kläger noch halbschichtig arbeiten kann, ist er nicht nur auf einen täglich erreichbaren Arbeitsplatz, sondern auf das Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik Deutschland verweisbar, so daß allein eine Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg als geeignetes Beweismittel in Betracht kommt. Wenn diese z. Zt. noch nicht in der Lage sein sollte, die Größe von Teilgebieten des allgemeinen Arbeitsmarktes ungefähr anzugeben, könnte der Kläger nach den Grundsätzen des oben angeführten Beschlusses nicht auf dieses Teilzeitarbeitsfeld verwiesen werden. Denn auch in einem solchen Falle muß nach dem o. a. Beschluß angenommen werden, daß ihm das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist. Wenn die für die Beobachtung des Arbeitsmarktes und die Arbeitsvermittlung zuständige Arbeitsverwaltung nicht in der Lage ist, die zahlenmäßige Größe eines Teilzeitarbeitsmarktes ungefähr anzugeben, muß davon ausgegangen werden, daß ihr auch nicht bekannt ist, wo und in welchem Umfang solche Stellen vorhanden sind. Daher muß man annehmen, daß es sich insoweit um einen nicht funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt handelt, der auch dem Versicherten nicht zugänglich und ihm deshalb praktisch verschlossen ist. Zwar ist auch der Kläger verpflichtet, von sich aus einen solchen Arbeitsplatz zu suchen. Doch kann nicht angenommen werden, daß er eine bessere Übersicht über diesen Arbeitsmarkt hat als die Bundesanstalt in N selbst.
Da der Senat als Revisionsgericht die dazu erforderlichen Tatsachen nicht feststellen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Fundstellen