Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Pflegezulage kann gemäß BVG § 62 nur dann neu festgestellt werden, wenn sich die Schädigungsfolgen wesentlich ändern und eine Änderung der Hilflosigkeit herbeiführen (Fortführung BSG 1960-08-25 11 RV 1368-59 = BSGE 13, 40-43 und SozR Nr 9 zu § 35 BVG).

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-07-01, § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird die angefochtene Entscheidung insoweit aufgehoben, als der Beklagte vom 1. September 1960 an zur Gewährung einer höheren Pflegezulage als nach Stufe I verurteilt worden ist. Auch insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Mai 1965 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des gesamten gerichtlichen Verfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger bezieht die Rente eines Erwerbsunfähigen und Pflegezulage Stufe I sowie Kostenersatz für außergewöhnlichen Kleider- und Wäscheverschleiß wegen Weichteilnarben am linken Oberschenkel, Teilverlust des rechten Oberschenkels, Teilverlust des linken Unterarmes und geringgradiger Schwerhörigkeit beiderseits. Die letztgenannte Schädigungsfolge war auf einen, zunächst von der Verwaltung abgelehnten Antrag auf Rentenerhöhung vom April 1954, welcher die Anerkennung nicht nur des Ohrenleidens, sondern auch von Senkfuß und Krampfadern, Kreislaufstörungen, Beschwerden nach Schädelbruch und Milzschwellung betraf, durch das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 30. September 1958 unter Abweisung der Klage im übrigen anerkannt worden. Die Berufung war erfolglos geblieben (Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 17. Januar 1964).

Im Laufe des damaligen Berufungsverfahrens verletzte der Kläger im Juli 1959 an der Bandsäge den rechten Daumen und unternahm einen Selbstmordversuch am 30. August 1960, durch welchen er das linke Bein verlor. Beide Schäden erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) nicht als Schädigungsfolgen an (Bescheide vom 15. August 1960 und 30. Dezember 1960). Durch den Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 1961 wurde die Anerkennung des Verlustes des ersten Gliedes am rechten Daumen, des Verlustes des linken Beines und die Gewährung einer höheren Pflegezulage sowie eines höheren Pauschbetrages für Mehrverschleiß an Kleidern und Wäsche abgelehnt.

Die Klage hat das SG durch Urteil vom 12. Mai 1965 abgewiesen; die Verstümmelung des rechten Daumens sei auf grobe Nachlässigkeit des Klägers zurückzuführen und der Verlust des linken Beines hänge nicht mit den Schädigungsfolgen zusammen, so daß weder die Anerkennung als Schädigungsfolge noch eine Erhöhung der Pflegezulage wegen an sich erhöhter Hilflosigkeit in Betracht komme.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG durch Urteil vom 5. Oktober 1967 das Urteil des SG dahin abgeändert, daß als weitere - indirekte - Schädigungsfolge ein Teilverlust des rechten Daumens festgestellt und der Beklagte verurteilt wurde, eine höhere Pflegezulage als nach Stufe I zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision hinsichtlich des Anspruchs auf erhöhte Pflegezulage zugelassen. Der Verlust des linken Beines infolge des Selbstmordversuchs hänge mit Schädigungsfolgen weder direkt noch indirekt zusammen und könne deshalb nicht als weitere Schädigungsfolge anerkannt werden. Jedoch sei, als eine Änderung der für die Festsetzung der Pflegezulage maßgebenden Verhältnisse, die Hilflosigkeit des Klägers durch diesen weiteren Gliedverlust wesentlich erhöht worden. Sie beruhe auf der Schädigung, denn der schädigungsbedingten Amputation des rechten Oberschenkels und des linken Unterarmes komme für die besondere Hilflosigkeit keine geringere Bedeutung zu als dem schädigungsunabhängigen Verlust des linken Oberschenkels.

Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 5. Oktober 1967 insoweit aufzuheben, als der Beklagte verurteilt worden ist, eine höhere Pflegezulage als nach Stufe I zu gewähren, und insoweit die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Karlsruhe vom 12. Mai 1965 als unbegründet zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil in diesem Umfange aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 35 und 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und wendet sich nur gegen die Verurteilung zur Zahlung einer höheren Pflegezulage. Seines Erachtens sind die Voraussetzungen des § 62 BVG nicht gegeben, weil die erhöhte Pflegebedürftigkeit nicht auf Schädigungsfolgen beruhe.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil, soweit die Gewährung einer höheren Pflegezulage streitig ist, für zutreffend.

Der Beklagte hat die durch Zulassung statthafte Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sein Rechtsmittel ist zulässig und mußte auch Erfolg haben.

In der Revisionsinstanz ist nur noch die Gewährung der erhöhten Pflegezulage streitig. Denn der Beklagte hat sich gegen die Beschwer durch die Verurteilung zur Anerkennung der Verstümmelung des rechten Daumens nicht gewandt. Der Kläger hat seinerseits das angefochtene Urteil weder mit einer selbständigen noch mit einer Anschlußrevision hinsichtlich der Nichtanerkennung des Verlustes des linken Beines als Schädigungsfolge angegriffen. Gegen die Zulassung der Revision nur wegen der erhöhten Pflegezulage bestehen keine Bedenken.

Der in der Revisionsinstanz allein noch streitige Anspruch auf erhöhte Pflegezulage ist auch nicht etwa Gegenstand eines früheren Verfahrens gewesen, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat. Denn in dem vorhergehenden Berufungsverfahren ging der Streit um die Erhöhung der Pflegezulage wegen Kopfbeschwerden und Ausfällen in der Funktion des Gehirns des Klägers, nicht aber wegen des Verlustes des linken Beines und dessen Folgen. Infolgedessen stand das frühere Verfahren dem jetzt angefochtenen Urteil nicht entgegen.

In der Sache geht der Streit um die Gewährung der erhöhten Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG.

Der Kläger bezog auf Grund eines bindend gewordenen Bescheides die einfache Pflegezulage nach Satz 1 aaO. Eine Neufeststellung dieses Anspruchs auf Versorgung wäre also nur möglich, wenn der frühere Bescheid entweder von vornherein unrichtig gewesen wäre (durch Berichtigung nach § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz -VerwVG) oder später unrichtig und damit rechtswidrig geworden wäre. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung sind nicht gegeben, wie auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Es bleibt also nur die zweite Möglichkeit, daß der Bescheid über die Pflegezulage nachträglich, durch neue Ereignisse unrichtig und damit rechtswidrig geworden wäre, so daß eine Neufeststellung gemäß § 62 BVG möglich gewesen wäre.

Absatz 1 dieser Vorschrift lautet:

Tritt in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung (§ 9) maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung ein, ist der Anspruch entsprechend neu festzustellen.

Das Berufungsgericht hat angenommen, daß die für die Feststellung des Anspruchs auf Pflegezulage maßgebenden Verhältnisse sich durch den Verlust des linken Beines wesentlich geändert haben und hat hierdurch die Voraussetzungen für eine Neufeststellung als erfüllt erachtet; es komme nicht darauf an, daß der Verlust des linken Beines und damit die erhöhte Hilflosigkeit ursächlich nicht auf die Schädigungsfolgen zurückgeführt werden könnten. Dies ist nicht frei von Rechtsirrtum.

Es trifft zwar zu, daß nicht sämtliche für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebenden Verhältnisse mit den Schädigungsfolgen ursächlich zusammenhängen. Dies gilt z. B. für die wirtschaftlichen Verhältnisse, welche die Feststellung der Ausgleichs- und Elternrente beeinflussen, sowie für Tatsachen, welche die Versorgungsleistungen mindern- oder wegfallen lassen, wie Überschreitung der Altersgrenze (beim Berufsschadensausgleich) und Beendigung der Berufsausbildung bei Kindern und Waisen. Eine Änderung in diesen beispielhaft aufgeführten Umständen und Tatsachen führt zu einer Neufeststellung nach § 62 BVG, obwohl die Schädigungsfolgen sich nicht geändert haben. Ob die Hilflosigkeit ebenfalls zu dieser Gruppe von Tatbestandsmerkmalen zählt, ist aus § 62 BVG nicht abzulesen. Vielmehr muß insoweit auf § 35 BVG zurückgegangen werden.

Das Berufungsgericht hat zutreffend dargelegt, unter welchen Voraussetzungen Pflegezulage gewährt werden kann; es befindet sich insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Nach ihr kommt es für die Gewährung von Pflegezulage darauf an, ob nach der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm Schädigungsfolgen die alleinige oder eine mitwirkende Ursache für die Hilflosigkeit sind (BSG 13, 40 ff). Das LSG hat aber für die Anwendung des § 62 BVG nicht genügend berücksichtigt, daß die Pflegezulage durch ihre ursächliche Verknüpfung mit den Schädigungsfolgen ihr Gepräge erhält. Zwar ist die Kausalkette von der Schädigung zur Versorgungsleistung gegenüber der Gewährung von Rente um ein Glied verlängert worden, nämlich die Hilflosigkeit (BSG 17, 119). Damit aber ist die Hilflosigkeit keine unabhängige Anspruchsvoraussetzung geworden, sondern bleibt kausal auf die Schädigung und ihre Folgen bezogen. Dementsprechend wird die einmal bindend gewordene Feststellung der Pflegezulage nur dann unrichtig, wenn sich die schädigungsbedingten Tatbestandmerkmale ändern, welche für die Beurteilung der Kausalität maßgebend gewesen sind, und hierdurch der bindend gewordene Verfügungssatz unrichtig und rechtswidrig geworden ist. Es müssen sich also die Schädigungsfolgen geändert und dadurch die Hilflosigkeit verändert haben, um die Pflegezulage neu feststellen zu können. Für die Anwendung des § 62 BVG ist es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht ausreichend, daß sich bei unveränderten Schädigungsfolgen die von der Schädigung unabhängigen Leiden wesentlich verschlimmert oder vermehrt haben und bei einer Erstfeststellung der Pflegezulage ein höherer Satz als der bisher festgestellte angemessen wäre. Eine solche Betrachtung verkennt die Tragweite der bindenden Wirkung des Bescheides über die Feststellung der Pflegezulage und die engen Grenzen, welche auch § 62 BVG der Durchbrechung dieser der Rechtskraft eines Urteils vergleichbaren Bindung gezogen hat. Sie würde es allein auf die Hilflosigkeit als kausal von der Schädigung unabhängige Voraussetzung für die Neufeststellung dieser Versorgungsleistung abstellen, was deren Wesen widerspricht. Vielmehr kommt es für die Neufeststellung der Leistung nach § 62 BVG auf die gesamte Kausalkette an, wie bereits dargelegt worden ist. Dementsprechend kann der Anspruch auf Pflegezulage gemäß dieser Vorschrift nur dann neu festgestellt werden, wenn sich die Schädigungsfolgen wesentlich ändern und eine Änderung der Hilflosigkeit herbeiführen.

Dieses Ergebnis entspricht auch der Rechtssicherheit. Denn eine wesentliche Änderung der Hilflosigkeit durch eine Änderung der Schädigungsfolgen kann stets zu einer Neufeststellung der Pflegezulage führen, ganz gleich, ob die erhöhte Hilflosigkeit durch die anerkannte Schädigung allein oder durch deren Zusammenwirken mehr wehrdienstunabhängigen Umständen überwiegend oder wesentlich mitverursachend herbeigeführt ist. Bleiben aber die Schädigungsfolgen unverändert, so kann eine Änderung der Hilflosigkeit - sei es eine Vermehrung oder Verminderung - durch wehrdienstunabhängige Umstände nicht zu einer Neufeststellung führen. Vielmehr bleibt es bei der einmal festgestellten Pflegezulage. Denn es ändert sich nichts, an der Tatsache, daß der Beschädigte früher "infolge" der Schädigung hilflos geworden ist. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn nach der Kausalitätsnorm der Kriegsopferversorgung Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängige Leiden zusammen die Hilflosigkeit herbeigeführt haben und sich später die schädigungsunabhängigen Leiden wesentlich bessern. In derartigen Fällen würde die Pflegezulage nicht nach § 62 BVG neu festgestellt werden können, weil die Schädigungsfolgen unverändert geblieben sind.

Dies ist in dem bereits erwähnten in BSG 13, 40 ff abgedruckten Urteil ausgeführt (Seite 42 a. E., 43). Allerdings hat es nicht hierauf beruht; denn damals war die erstmalige Feststellung der Pflegezulage streitig gewesen. Vielmehr sind die Darlegungen nebenbei gemacht worden und haben dazu gedient, die Auslegung des § 35 BVG, welche Gegenstand der damaligen Entscheidung war, zu untermauern. Der erkennende Senat hält diese Ausführungen für zutreffend und macht sie sich für die hier zu treffende Entscheidung einer Neufeststellung der Pflegezulage nach § 62 BVG zu eigen.

Infolgedessen hat die Revision zu Recht eine Verletzung des § 62 BVG durch das LSG gerügt. Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Gesetzesverletzung und kann nicht aufrechterhalten bleiben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil die maßgebenden tatsächlichen Feststellungen nicht angegriffen sind. Die Schädigungsfolgen, welche zur Gewährung der einfachen Pflegezulage geführt haben, nämlich der Verlust des rechten Beines und linken Unterarms, haben sich nicht geändert. Der Verlust des linken Beines hängt mit der Schädigung nicht zusammen. Infolgedessen haben sich die maßgebenden Verhältnisse nicht geändert. Das SG hat demnach zutreffend den Anspruch des Klägers auf erhöhte Pflegezulage verneint. Infolgedessen mußte seine Entscheidung - wie geschehen - durch die Zurückweisung der Berufung des Klägers insoweit wiederhergestellt werden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2014559

BSGE, 45

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