Entscheidungsstichwort (Thema)
Besondere Erfahrungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Ansicht, daß Angestellte erst über 45 Jahre über "besondere Erfahrung" verfügen, verkennt nicht, daß die freie Wirtschaft leitende Stellungen auch mit jüngeren Angestellten besetzt. Dies besagt jedoch nicht, daß diese Angestellten schon über die für die Leistungsgruppe B 2 geforderten "besonderen Erfahrungen" verfügen.
2. Für die Einstufung in die Leistungsgruppe B 2 sind "besondere Erfahrungen" zwingend erforderlich und nicht durch andere Beschäftigungsmerkmale auszugleichen. Diese "besonderen Erfahrungen" können nur durch Ausübung der Berufstätigkeit gesammelt werden; selbst von Angestellten, deren Berufstätigkeit eine besonders qualifizierte Ausbildung (zB abgeschlossene Hochschulausbildung) erfordert, werden sie regelmäßig nicht vor Vollendung des 30. Lebensjahres erworben.
Normenkette
FRG § 22 Anl 1 Buchst. B Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.01.1976; Aktenzeichen L 13 An 98/74) |
SG Bayreuth (Entscheidung vom 18.04.1974; Aktenzeichen S 5/13 An 103/73) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 18. April 1974 aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des Altersruhegeldes.
Der im Juli 1907 geborene Kläger hat bis Juni 1923 nacheinander die Volks-, Bürger- und die Textilfachschule besucht. Danach war er bei mehreren in der Tschechoslowakei ansässigen Firmen tätig; zunächst bis April 1924 als Musterweber, dann bis Juni 1928 als "Stütze des Direktors", bis April 1929 als (technischer) Betriebsleiter, von Juni 1929 bis Ende 1931 in einer anderen Weberei gleichfalls als Betriebsleiter und zuletzt ab Januar 1932 bis April 1933 in der mechanischen Weberei G als Betriebsleiter und Dessinateur. In den Bescheiden über die Gewährung von Altersruhegeld vom 20. Februar und 5. Dezember 1973 ordnete die Beklagte die Beitragszeiten des Klägers zur tschechoslowakischen Pensions-Versicherung vom 1. Juni 1929 bis zum 30. April 1933 der Leistungsgruppe B 3 der Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) zu; der Kläger begehrte die Zuordnung dieser Zeiten in die Leistungsgruppe B 2.
Das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) haben seiner Klage für die Zeit ab 1. Januar 1932 stattgegeben (Urteile vom 18. April 1974 und 28. Januar 1976). Das LSG hat ausgeführt: Vor Ende 1931 habe der Kläger zwar noch nicht über die von der Leistungsgruppe B 2 verlangten besonderen beruflichen Erfahrungen verfügt; er sei damals erst 22 Jahre alt gewesen und habe den technischen Betrieb einer Weberei nur knapp ein Jahr geleitet gehabt. Umfangreicher seien seine besonderen Erfahrungen als Betriebsleiter jedoch ab Einstellung in die Weberei G (1. Januar 1932) gewesen; von da an habe er auch die übrigen Tätigkeitsmerkmale der allgemeinen Definition der Leistungsgruppe B 2 (einschließlich der eingeschränkten Dispositionsbefugnis) erfüllt. Nach Meinung des Bundessozialgerichts (BSG) seien diese Merkmale zwar regelmäßig erst im Alter von über 45 Jahren anzunehmen; indessen habe das BSG Ausnahmen zugelassen. Das Alterserfordernis könne in der Tat nicht uneingeschränkt gelten; es verkenne, daß leitende Stellungen in der freien Wirtschaft schon immer auch durch jüngere Angestellte besetzt würden. Da der Kläger bis 1932 bereits über drei Jahre lang technischer Leiter von Webereien gewesen sei, habe er die besonderen Erfahrungen für diese Tätigkeit besessen.
Mit der auf die Beschwerde der Beklagten vom BSG zugelassenen Revision beantragt sie,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Bayreuth vom 18. April 1974 aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, und die Klage insgesamt abzuweisen.
Zur Begründung rügt sie eine Verletzung des § 22 FRG. Das LSG habe das Merkmal der "besonderen Erfahrungen" für die Leistungsgruppe B 2 verkannt. Seine Argumentation, leitende Stellungen in der freien Wirtschaft würden schon immer auch mit Angestellten unter 45 Jahren besetzt, beweise keine besonderen Erfahrungen bei diesen Angestellten. Solche Berufserfahrungen ließen sich nur durch stetige Ausübung der betreffenden Berufstätigkeit sammeln; sie lägen in der Regel nicht vor dem 45. Lebensjahr vor. Ausnahmen könnten nur für Berufe mit besonders qualifizierter Ausbildung, insbesondere Hochschulausbildung, in Betracht kommen.
Hierüber verfüge der Kläger indessen nicht.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist von Erfolg.
Das LSG hat die streitige Zeit vom 1. Januar 1932 bis zum 30. April 1933 zu Unrecht der Leistungsgruppe B 2 der Anlage 1 zu § 22 FRG zugeordnet. Nach Satz 1 der maßgebenden Definition umfaßt diese Leistungsgruppe Angestellte mit besonderen Erfahrungen und selbständigen Leistungen in verantwortlicher Tätigkeit mit eingeschränkter Dispositionsbefugnis, die Angestellte anderer Tätigkeitsgruppen einzusetzen und verantwortlich zu unterweisen haben. Von diesen kumulativen Merkmalen hat der Kläger schon das erste nicht erfüllt; er besaß noch keine "besonderen Erfahrungen" im Beruf des technischen Betriebsleiters (und des Dessinateurs).
Wie der Begriff "besondere Erfahrungen" in der Definition der Leistungsgruppe B 2 auszulegen ist, hat das BSG mehrfach dargelegt (SozR Nr 4 zu § 22 FRG; SozR 5050 § 22 Nr 1; Urteil vom 24. Oktober 1974 - 11 RA 156/73). Dabei ist es davon ausgegangen, daß die in den Berufskatalogen (der Anlage 1) angeführten Tätigkeiten nach der Vorstellung des Gesetzgebers in der Regel die Merkmale der vorangestellten Definition erfüllen. Fordert der Berufskatalog der Leistungsgruppe B 2 überwiegend ein Lebensalter über 45 Jahre, so kann also angenommen werden, daß die Angestellten dieser Leistungsgruppe regelmäßig erst in diesem Alter die geforderten besonderen Erfahrungen haben (SozR Nr 4 zu § 22 FRG mit weiteren Nachweisen). Mit einer solchen - von der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zudem bestätigten - Schlußfolgerung hat das BSG keinesfalls verkannt, daß leitende Stellungen in der freien Wirtschaft "schon immer auch durch jüngere Angestellte besetzt werden". Aus dieser vom LSG hervorgehobenen Tatsache ergibt sich, worauf die Beklagte zutreffend hinweist, indessen nicht zwingend, daß die jüngeren Angestellten die besonderen Erfahrungen im Sinne der Merkmale der Leistungsgruppe B 2 haben; sie besagt nur, daß in der freien Wirtschaft auch Angestellte unter 45 Jahren bereits leitende Funktionen erhalten können. Mehr ist aus der Argumentation des LSG nicht zu entnehmen. Davon abgesehen hat die Rechtsprechung des BSG immer Ausnahmen von der Altersgrenze von 45 Jahren zugelassen; sie ist davon insbesondere abgegangen, wenn es sich um Angestellte handelt, deren Berufstätigkeit eine besonders qualifizierte Ausbildung (zB abgeschlossene Hochschulausbildung) erfordert, weil sie Erfahrungen regelmäßig schon in kürzerer Zeit zu erwerben vermögen (SozR 5050 § 22 Nr 1; BSG, Urteile vom 20. September 1973 - 11 RA 20/73 - und vom 24. Oktober 1974 - 11 RA 156/73); allerdings können auch sie die geforderten besonderen Erfahrungen nur durch Ausübung der Berufstätigkeit sammeln und darum bei normalem Beschäftigungsverlauf in aller Regel nicht vor Vollendung des 30. Lebensjahres erworben haben (SozR 5050 aaO).
Von diesen Auslegungskriterien abzugehen bietet der Fall des Klägers keinen Anlaß. Mit seinen 24/25 Jahren war er während der streitigen Zeit selbst von dieser niedrigeren Altersgrenze noch weit entfernt, abgesehen davon, daß er mit dem zweijährigen Besuch einer Textilfachschule keine besonders qualifizierte Berufsausbildung für sich in Anspruch nehmen kann. Die besonderen Erfahrungen für die Leistungsgruppe B 2 haben ihm überdies auch deshalb gefehlt, weil er vor 1932 erst drei Jahre lang - in anderen Webereien - als Betriebsleiter gearbeitet hatte, dh eine Zeitspanne, die für diese Tätigkeit allenfalls eine "mehrjährige Berufserfahrung" im Sinne der (mit der Leistungsgruppe B 2 in einem angemessenen Stufenverhältnis stehenden (siehe hierzu SozR Nr 4 zu § 22 FRG)) Leistungsgruppe B 3 vermitteln konnte.
Waren nach alledem die besonderen Erfahrungen nicht vorhanden, so sind die übrigen Beschäftigungsmerkmale der Leistungsgruppe B 2 nicht mehr zu erörtern; sie können den Mangel dieses für die Einstufung zwingend erforderlichen Tatbestandsmerkmals nicht ausgleichen (SozR Nr 4 aaO; BSG, Urteil vom 20. September 1973 - 11 RA 20/73). Deshalb kann letzten Endes offenbleiben, ob den Ausführungen des LSG zur Frage der eingeschränkten Dispositionsbefugnis des Klägers während der streitigen Zeit ausreichende tatsächliche Feststellungen zugrunde liegen und wie es sich mit dem weiteren Erfordernis der Einsetzung und verantwortlichen Unterweisung von Angestellten anderer Tätigkeitsgruppen verhält.
Hiernach mußte die Klage auch insoweit abgewiesen werden, als sie in den Vorinstanzen Erfolg hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen