Leitsatz (amtlich)
1. Übt der Versicherte eine Berufstätigkeit aus, für die bislang keine Berufsausbildung vorgeschrieben war, so kann er mit seinem bisherigen Beruf (RVO § 1246 Abs 2 S 2) in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters regelmäßig nur eingestuft werden, wenn seine berufliche Praxis zumindest die Zeitspanne umfaßt, die jetzt für die Ausbildung zu diesem Beruf vorgeschrieben ist.
2. Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Kraftfahrer vor 1974-01-01 - Inkrafttreten der Berufskraftfahrer-AusbildungsVO - mit seinem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters eingestuft werden kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; KraftfAusbV Fassung: 1973-10-26
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.10.1981; Aktenzeichen L 16 Ar 133/80) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 29.02.1980; Aktenzeichen S 6 Ar 563/77) |
Tatbestand
Streitig ist eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1934 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Nach Beschäftigungen als Hilfsarbeiter war er nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ab 1962 "als Berufskraftfahrer" erwerbstätig. Im September 1971 erlitt er einen schweren Arbeitsunfall ua mit multipler Schädelfraktur; er erhält von der Berufsgenossenschaft Rente von 50 vH der Vollrente. Er ist nach Auffassung des Technischen Überwachungsvereins nicht mehr geeignet, einen Lastkraftwagen (Lkw) zu führen.
Der Kläger hat von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis 31. Juli 1976 erhalten. Seinen Antrag vom Mai 1976 auf Weitergewährung dieser Rente lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 14. September 1977 ab.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in 2. Instanz Erfolg. Im angefochtenen Urteil vom 13. Oktober 1981 hat das LSG das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 29. Februar 1980 sowie die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verpflichtet, dem Kläger ab 1. August 1976 Versichertenrente wegen BU zu gewähren. In der Begründung heißt es, mit seinem "bisherigen Beruf" im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Berufskraftfahrer sei der Kläger der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen. Daran ändere nichts, daß erst zum 1. Januar 1974 die Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 in Kraft getreten sei (Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-). Die Merkmale des vom Kläger ausgeübten Berufs stimmten mit denen überein, die in der Ausbildungsverordnung zugrunde gelegt seien, zumal der Kläger einen Rechtsanspruch auf Zulassung zur Prüfung als Berufskraftfahrer gehabt habe. Schließlich habe der Kläger die zur Ausübung des Berufs erforderlichen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten besessen, die seinerzeit von seiner Berufsgruppe erwartet wurden; entsprechend sei sein Tariflohn gewesen. Als Facharbeiter sei der Kläger unter Berücksichtigung seiner Gesundheitsstörungen unfähig, mehr als leichte bis mittelschwere Arbeiten zu verrichten und könne nicht mehr zumutbar auf einen anderen Beruf verwiesen werden. Er sei berufsunfähig.
Mit der zugelassenen Revision tritt die Beklagte diesem Urteil entgegen und führt aus: Dem Kläger komme der Status eines Facharbeiters nicht zu; das LSG habe nicht ermittelt, ob und welche Kenntnisse er in der "Fachrichtung Güterverkehr" habe. Den vom LSG von den Arbeitgebern beigezogenen summarischen Auskünften könne über die Kenntnisse des Klägers nichts entnommen werden; entscheidend sei, welche Tätigkeiten der Kläger im einzelnen verrichtet habe. Im übrigen könne Berufsschutz als Kraftfahrer nur bestehen, wenn eine entsprechende Tätigkeit beim Inkrafttreten der Ausbildungsverordnung ausgeführt worden sei.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Oktober 1981 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 29. Februar 1980 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Oktober 1981 zurückzuweisen sowie der Beklagten auch die ihm für das Revisionsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Er ist der Auffassung, entscheidend sei, ob er - Kläger - im Sinne der Rechtsprechung des BSG über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fähigkeiten eines ausgebildeten Berufskraftfahrers verfügt habe. Dies müsse bei ihm unter Anwendung billigen Ermessens bejaht werden. Seine hinreichende Qualifizierung folge im übrigen aus den Ergebnissen der Beweisaufnahme durch das LSG. Er habe sogar ein Tankfahrzeug gefahren.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Das LSG ist unter Zitierung der einschlägigen Rechtsprechung des BSG zutreffend davon ausgegangen, daß sich die Breite der nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zulässigen, BU abwendenden Verweisung des Versicherten nach der Qualität des bisherigen, vor Eintritt des angeblichen Versicherungsfalls zuletzt vollwertig ausgeübten Berufs richtet. Nach dieser Vorschrift kommt es bei der Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist und die dem Versicherten unter Verneinung von BU noch zugemutet werden können, entscheidend auf den bisherigen Beruf (= bisherige Berufstätigkeit) sowie auf dessen besondere Anforderungen, dh auf seine positiv zu bewertenden Merkmale, insgesamt also auf den qualitativen Wert des bisherigen Berufs an. Von geringerem Gewicht dagegen ist die aaO weiter genannte Berufsausbildung; sie kennzeichnet allein den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden Kenntnisse und Fähigkeiten (Satz 1 aaO) regelmäßig erworben werden. Deshalb ist dann, wenn ein Versicherter die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat, dieser doch sein "bisheriger Beruf", wenn er ihn zuletzt und nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat (vgl zu alledem mit weiteren Nachweisen BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nrn 29, 55, 62 und in ständiger Rechtsprechung). Im übrigen kann ein Beruf, für den überhaupt keine Regelausbildung vorgesehen ist, von hoher Qualität sein; auch ein solcher Beruf kann zB der Gruppe mit dem Leitberuf eines Facharbeiters zugeordnet werden.
Das LSG hat in diesem Sinne als bisherigen Beruf des Klägers den des "Berufskraftfahrers" bzw des "Kraftfahrers und Fernkraftfahrers" angenommen. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Entscheidung des Berufungsgerichts zu tragen. Im angefochtenen Urteil bleibt offen, welche konkreten Tätigkeiten unter den genannten Bezeichnungen zu verstehen sind, welche berufliche Qualität sie hatten und ob sie zuletzt und nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeführt wurden:
Eine berufsrechtliche Bezeichnung "Berufskraftfahrer" mit Zuordnung eines bestimmten Berufsbildes erscheint erstmals in der Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer (Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung) vom 26. Oktober 1973 (BGBl I, 1518). Nach § 1 Abs 2 dieser am 1. Januar 1974 in Kraft getretenen Verordnung (§ 12 aaO) gilt als Berufskraftfahrer, wer die Fahrerlaubnis der Klasse 2 erworben und Kenntnisse und Fertigkeiten des Ausbildungsberufsbildes (§ 3 aaO) in einer Abschlußprüfung (§ 9 aaO) nachgewiesen hat. Da der Kläger den nach seiner Ansicht BU bedingenden schweren Arbeitsunfall schon 1971 erlitten hat, kann der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung von 1973 die Kennzeichnung seines tatsächlich vor dem Unfall ausgeübten "bisherigen Berufs" nicht entnommen werden. Damit scheint auch das LSG übereinzustimmen; für die Kennzeichnung des bisherigen Berufs des Klägers verwendet es den Begriff des "Berufskraftfahrers" offensichtlich nicht im Sinne der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung, sondern in einer sehr viel weiteren Bedeutung. Das LSG erwähnt, daß der Kläger zwischen 1969 und 1971 als "Kraftfahrer und Fernkraftfahrer" beschäftigt gewesen sei und daß diese Tätigkeiten "den Höhepunkt und Abschluß seines beruflichen Werdeganges" ausgemacht hätten; an anderer Stelle deutet das Urteil eine Tätigkeit des Klägers als "Verkaufsfahrer" an. Was den letzteren - Verkaufsfahrer - betrifft, so ist er von den Tarifpartnern zu keiner Zeit als "Berufskraftfahrer" im Güternahverkehr im Sinne der heutigen Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung (§ 4 Abs 2 Nr 1 Buchst a) angesehen worden. Wer zB in Bayern für Brauereien alkoholische und/oder alkoholfreie Getränke ausfährt und dabei nur den Führerschein der Klasse 3 benötigt, fällt nicht unter den Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer des Speditions-, Transport- und Fuhrgewerbes in Bayern vom 18. Oktober 1961 in der jeweils fortgeschriebenen Fassung, sondern unter den Lohn- und Gehaltstarifvertrag vom 26. September 1969 für das Brauereigewerbe in Bayern. Tatsächlich hat ein Verkaufsfahrer, der nur den Führerschein der Klasse 3 benötigt, eine gemischte, zum Teil kaufmännische Tätigkeit zu leisten, die sich mit der Bezeichnung "Berufskraftfahrer" nicht treffend erfassen ließe. Was die vom LSG weiter angeführte Tätigkeit des Klägers als "Kraftfahrer und Fernkraftfahrer" in der kurzen Spanne von 1969 bis 1971 betrifft, so ist allenfalls der Begriff des Fernfahrers hinreichend deutlich. Es spricht vieles dafür, daß es sich hierbei um Arbeitnehmer handelt, die unter den Lohntarifvertrag vom 25. Februar 1971 für die gewerblichen Arbeitnehmer des Speditions- und des Transportgewerbes und des Güter- und des Möbelfernverkehrs in Bayern fällt; dabei kommt für den Kläger § 3 Nr 3 infrage (Kraftfahrer, der weder Garagenmeister oä ist - Nr 1 - noch neben dem Führerschein der Klassen 2 und 3 über eine abgeschlossene Ausbildung als Automechaniker oder Autoschlosser verfügt - Nr 2 -).
Im übrigen erhellt aus dem soeben Dargestellten, daß die Erwähnung im angefochtenen Urteil, der Kläger sei 1969 bis 1971 neben seiner Tätigkeit als Fernkraftfahrer auch "Kraftfahrer" gewesen, noch keine im einzelnen verwertbare berufliche Kennzeichnung insbesondere im Hinblick auf die Qualität der Tätigkeit enthält. Da - wie ausgeführt - "bisheriger Beruf" im Sinne des Gesetzes grundsätzlich nur derjenige ist, der "zuletzt und nicht nur vorübergehend" ausgeübt worden ist, ist bei einer Aufeinanderfolge von Tätigkeiten als Kraftfahrer verschiedener Art und verschiedener Qualität auch die genaue Festlegung des Zeitraums von Gewicht; hierüber enthält das angefochtene Urteil nichts Näheres.
Fehlen nach alledem die für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen, so hatte der Senat die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen; das LSG kann damit diese Feststellungen nachholen.
Hierbei wird das Berufungsgericht folgendes zu beachten haben:
Die Frage, wann ein Kraftfahrer unter Zugrundelegung des von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Mehrstufenschemas der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen ist - und deshalb nicht zumutbar im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO auf die Tätigkeit eines Hilfsarbeiters verwiesen werden kann -(vgl zB mit weiteren Nachweisen BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 41; BSGE 49, 54, 56 = SozR 2200 § 1246 Nr 51 und BSG aaO Nr 55), ist für Fälle der vorliegenden Art differenziert zu beantworten. Liegt der von dem Versicherten behauptete Versicherungsfall der BU vor dem Inkrafttreten der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung am 1. Januar 1974, so kann sich naturgemäß die Qualität seiner Tätigkeit als Kraftfahrer nicht nach ihr bestimmen; von dem Versicherten kann in beruflicher Hinsicht nicht verlangt werden, was zur Zeit der Ausübung der Tätigkeit noch gar nicht vorgeschrieben war. Deshalb wird zunächst der Tarifvertrag festzustellen sein, der auf die fragliche Beschäftigung tatsächlich angewendet worden ist; nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nehmen die Tarifpartner, dh die unmittelbar am Arbeitsleben beteiligten Bevölkerungskreise durch die Tarifverträge eine relativ zuverlässige Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas entspricht (vgl etwa BSGE 41, 129, 133 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; SozR 2200 § 1246 Nr 29). Nun kann freilich ein Tarifvertrag, in dem Kraftfahrer vor dem 1. Januar 1974, dh mit einem Nicht-Ausbildungsberuf erfaßt waren, unter Umständen die Frage nicht hinreichend sicher beantworten, ob die dort vorgenommene tarifliche Einordnung die Zuweisung zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters rechtfertigt. Läßt sich in einem solchen Falle feststellen, daß die Qualität der in Frage stehenden Tätigkeit schon und auch derjenigen des heutigen Ausbildungsberufs "Berufskraftfahrer" entspricht oder ihr nahe kommt, wird sie unbedenklich in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters eingestuft werden können. Läßt sich dies nach der tatsächlichen Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses nicht annehmen, so werden zur Ermittlung des beruflich-qualitativen Standorts des Klägers zum Vergleich auch andere Tarifverträge vergleichbarer Struktur herangezogen werden können, die die Gruppe der Facharbeiter ausdrücklich ausweisen (zur Heranziehung vergleichbarer und strukturähnlicher Tarifverträge bei der Prüfung der zulässigen Verweisbarkeit vgl zB BSGE 44, 288, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 23).
Im übrigen kann die Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 für die Beurteilung eines Falles der vorliegenden Art insoweit nicht außer Betracht bleiben, soweit in ihr allein das ausdrücklich geregelt worden ist, was nach seinem sachlichen Gehalt offensichtlich bereits früher schon das Berufsbild des berufsmäßigen Kraftfahrers ausmachte. Kraftfahrer in der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters wird daher nur sein können, wer zB die Fahrerlaubnis der Klasse 2 erworben hat (vgl § 1 Abs 2 aaO) und entweder im "Güterverkehr" oder im "Personenverkehr" (§ 3 Abs 1 aaO) tätig war (vgl auch §§ 3, 8 ff; §§ 80 ff des Güterkraftverkehrsgesetzes -GüKG- vom 17. Oktober 1952 - BGBl I, 697). Güterverkehr ist dabei der Güternahverkehr, der Güterfernverkehr und der Werkverkehr (§ 4 Abs 2 Nr 1 aaO). Auch wird davon auszugehen sein, daß als Facharbeiter in der Regel nicht eingestuft werden kann, wer in dem soeben dargestellten Sinne vor dem 1. Januar 1974 zuletzt als Berufskraftfahrer nur weniger als 2 Jahre tätig war; diese Zeitspanne beansprucht nach § 2 aaO allein schon die Ausbildung zum Berufskraftfahrer; in kürzerer Zeit wird ein Versicherter vor dem 1. Januar 1974 bei Fehlen einer geregelten Ausbildung durch berufliche Praxis allein nicht vollwertig die Kenntnisse und Erfahrungen haben erwerben können, die er für die von ihm behauptete, einem Facharbeiter nicht nachstehende hohe Qualität seiner als Kraftfahrer tatsächlich ausgeübten Tätigkeit in Anspruch nimmt. Auch hierzu werden gegebenenfalls tatsächliche Feststellungen zu treffen sein.
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der das Verfahren abschliessenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen