Beteiligte
Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Mai 1999 und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 13. Oktober 1998 sowie der Bescheid des Beklagten vom 24. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1996 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des am 18. Juli 1995 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob der Beklagte den Kläger wegen der Folgen seines Unfalls vom 18. Juli 1995 zu entschädigen hat.
Der am 4. April 1978 geborene Kläger nahm als Schüler der 11. Klasse eines K. Gymnasiums an einer vom 16. bis 20. Juli 1995 stattfindenden Klassenfahrt nach B. teil. Als die Schüler am 18. Juli 1995 nach Beendigung eines Besichtigungsprogramms ihre im dritten Stock gelegenen Zimmer einer Pension vor ihren Lehrern erreicht hatten, besuchten der Kläger und sein Mitschüler Felix K. mit dem er ein Zimmer teilte, drei im Nebenzimmer untergebrachte Mitschülerinnen. Als die Mädchen die beiden aufforderten, das Zimmer zu verlassen, weil sie sich umziehen wollten, weigerte sich der Kläger. Darauf wurde er von Felix K. und dem herbeigeholten Mitschüler Matthias Sch. hinausgetragen. Der Kläger wirkte dabei weder aggressiv noch wehrte er sich. Nach kurzem Aufenthalt der drei Jungen im Zimmer von Matthias Sch. kehrten der Kläger und Felix K. in ihr eigenes Zimmer zurück. Dort kam es zwischen den beiden in Anwesenheit einer Mitschülerin zu einer „verbalen Kabbelei”, in deren Verlauf Felix K. ankündigte, er werde den Kläger jetzt einsperren. Dieser stand dabei nach der Beobachtung der Mitschülerin naseblutend über das Waschbecken gebeugt. Nachdem Felix K. das Zimmer verlassen hatte, hörten zwei im anderen Nebenzimmer untergebrachte Mitschülerinnen den in seinem Zimmer zurückgebliebenen Kläger rufen, ob bei ihnen das Fenster geöffnet sei. Als sie dies bejahten, antwortete er, er komme dann „rüber”. Beim Versuch, vom Fenster seines Zimmers in das 1,20 m entfernte Fenster des andern Zimmers zu gelangen, stürzte er ab und verletzte sich schwer. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. November 1995 und Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1996 eine Entschädigung für den Unfall ab, weil es sich nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Oktober 1998). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 27. Mai 1999). Der Kläger habe sich in so hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhalten, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit damit habe rechnen müssen, es werde zu einem Unfall kommen. Solches Verhalten stehe nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Unfall könne auch nicht als Folge eines für Schüler typischen und damit unter Versicherungsschutz stehenden gruppendynamischen Prozesses angesehen werden. Ein solcher Prozeß sei zwar dem Fensterklettern des Klägers vorangegangen, in dessen Verlauf er von Mitschülern aus dem Mädchenzimmer hinausgetragen worden sei, was nach Aussage einer Zeugin alle Beteiligten als Spaß aufgefaßt hätten. Mit der Rückkehr des Klägers in sein Zimmer sei diese Episode beendet gewesen. Objektive Anhaltspunkte, aus denen heraus sich Rückschlüsse auf einen weiteren gruppendynamischen Prozeß gewinnen ließen, seien nicht feststellbar. Dabei sei auch unerheblich, ob der Kläger tatsächlich von seinem Mitschüler Felix K. eingesperrt worden sei oder ob er dies zumindest habe annehmen können. Denn in beiden Fällen lasse sich nicht feststellen, daß das Verhalten eines oder mehrerer Mitschüler maßgeblich für seinen verhängnisvollen Entschluß gewesen sei. Der Kläger habe als altersgemäß entwickelter Schüler auch die Gefährlichkeit seines Handelns einsehen können. Hierzu seien Jugendliche in weit geringerem Alter fähig. Wesentliche Ursache für die zum Unfall führende Handlung sei vielmehr die der Persönlichkeit des Klägers immanente Spontaneität und Waghalsigkeit. Auch wenn sich zwischen ihm und seinem Zimmergenossen eine Art „Hahnenkampf” entwickelt und die Anwesenheit einer Mitschülerin diese Situation noch gesteigert habe, sei nicht nachvollziehbar, daß für ihn ein solcher psychischer Zwang entstanden sei, der ihm die Fähigkeit geraubt habe, eine andere Lösung herbeizuführen. Zumindest wäre für ihn der Versuch möglich gewesen, auf andere Weise aus dem Zimmer zu entkommen. Daß er die Flucht aus dem Fenster in das Nachbarzimmer gewählt habe, beruhe ausschließlich auf seiner persönlichkeitsimmanenten Handlungsweise, die auch eine angenommene gruppendynamische Entwicklung derart in den Hintergrund dränge, daß ihr allein die wesentliche Ursache für den Absturz zukomme. Sein Verhalten sei auch unter Berücksichtigung seines jugendlichen Alters allein seiner Persönlichkeitsstruktur zuzumessen. Hätte er versucht, die verschlossene Tür einzurennen oder mit Unterstützung anderer das Fensterbrett des Nachbarzimmers zu erreichen, hätte man darin noch ein nicht ganz aus dem allgemein üblichen schülertypischen Rahmen fallendes Verhalten annehmen können. Gerade weil sich solche Anhaltspunkte nicht finden ließen und der Kläger, ohne von anderen Mitschülern angestachelt oder gedrängt, eigenständig den verhängnisvollen Entschluß gefaßt habe, sei kein wesentlicher Bezug zur versicherungsrechtlich geschützten Betätigung eines Schülers herzustellen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Bei der Urteilsabfassung sei dem LSG wegen des großen zeitlichen Abstands zur Urteilsverkündung wohl nicht mehr geläufig gewesen, wie das verkündete Urteil tatsächlich gelautet und welche Begründung ihm zugrunde gelegen habe. Denn nur so sei erklärbar, daß entgegen dem Sitzungsprotokoll, nach dem das LSG die Revision zugelassen habe, im – inzwischen berichtigten – schriftlichen Urteil die Revision nicht zugelassen worden sei. Dieses sei aufgrund seiner erheblichen Widersprüchlichkeit einem nicht begründeten Urteil gleichzustellen. Insoweit liege ein absoluter Revisionsgrund vor. Des weiteren habe das LSG den in der mündlichen Verhandlung durch Zeugenvernehmung ermittelten Sachverhalt nicht berücksichtigt, der den Zeitraum betroffen habe, in dem er und der Zeuge K. sich in ihrem gemeinsam bewohnten Zimmer unmittelbar vor dem Unfall aufgehalten hätten. Somit fehlten im angefochtenen Urteil wesentliche Teile des Tatbestandes. Auch dies stelle einen absoluten Revisionsgrund dar und nötige zur Aufhebung des Urteils. Ferner habe das LSG eine Überraschungsentscheidung getroffen. Es habe nicht erwartet werden können, daß es sein Urteil auf eine Aussage der Zeugin K. stützen werde, die von der Polizei in B. vernommen worden sei und dabei lediglich eine Meinung über seine, des Klägers, Persönlichkeitsstruktur geäußert habe. Hätte das LSG einen entsprechenden Hinweis gegeben, hätte er durch die Vernehmung von ihm benannter Zeugen nachweisen können, daß es sich bei ihm um einen altersgemäß entwickelten, jugendtypisches Verhalten an den Tag legenden sportlich versierten Schüler gehandelt habe, der zum Unfallzeitpunkt keine von der Norm abweichende Verhaltensweisen aufgewiesen habe, und daß Waghalsigkeit nicht seiner Persönlichkeitsstruktur entsprochen habe. Somit habe das LSG das ihm, dem Kläger, zustehende Recht auf rechtliches Gehör sowie die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verletzt. Letzteres gelte auch hinsichtlich der Frage, ob er von seinem Mitschüler Felix K. eingeschlossen worden sei.
In der Sache sei sein Anspruch auf Entschädigung begründet. Der Unfall könne nicht der Privatsphäre zugeordnet werden, weil ein schulischer Zusammenhang eindeutig gegeben sei. Denn die Verantwortung der Schule erstrecke sich bei einer Klassenfahrt – zumal bei gemischten Klassen – auch auf den Bereich der Unterkunft. Es habe sich um einen Prozeß gehandelt, wie er nur innerhalb der Gruppe der Schüler ablaufen könne. Aus einer Rangelei aus nichtigem Anlaß habe sich unvermittelt eine ernste Situation entwickelt, weil der Zeuge K. ihm damit gedroht habe, ihn einzusperren und dies wohl auch in die Tat umgesetzt habe, was wiederum ihn bewogen habe, aus dem Fenster zu steigen. Imponiergehabe sei in einer gemischten Klasse von Siebzehnjährigen besonders ausgeprägt. Die Situation habe hier noch besondere Brisanz dadurch erhalten, daß die Schüler zu mehreren in nebeneinander liegenden Zimmern (Buben und Mädchen) untergebracht gewesen seien. Er, der Kläger, habe sich dabei darstellen wollen. Er habe nicht klein beigeben, sondern durch eine spektakuläre Aktion beweisen wollen, daß er sich nicht ohne weiteres einsperren lasse. Wenn es richtig sei, daß Schüler auf einer Klassenfahrt auch lernen sollten, gruppendynamische Prozesse zu bewältigen, könne deren Nichtbewältigung nicht zur Verneinung des schulischen Zusammenhangs führen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG vom 27. Mai 1999 und das Urteil des SG vom 13. Oktober 1998 sowie den Bescheid des Beklagten vom 24. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1996 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihn wegen der Folgen des am 18. Juli 1995 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen und des Beklagten hat er am 18. Juli 1995 einen Arbeitsunfall erlitten, wegen dessen Folgen er einen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat.
Der Senat konnte in der Sache abschließend entscheiden, weil das LSG die hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang rügt, im angefochtenen Urteil fehlten wesentliche Teile des Tatbestandes, weil das LSG einen in der mündlichen Verhandlung durch Zeugenvernehmung ermittelten Sachverhalt nicht berücksichtigt habe, liegt damit keine Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 5 SGG vor, wonach das Urteil die gedrängte Darstellung des Tatbestandes enthalten muß. Denn diesem Erfordernis hat das LSG jedenfalls dadurch Rechnung getragen, daß es gemäß § 136 Abs 2 Satz 1 SGG ausdrücklich auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen hat. Letztere enthalten auch die Protokollierung der vom Kläger genannten Zeugenaussagen.
Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil er sich auf einen Unfall bezieht, der vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den eine versicherte Person bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Dazu gehören nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO auch Verrichtungen eines Schülers während des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule. Dem Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen sogenannter Schulveranstaltungen. Allerdings ist der Schutzbereich der „Schülerunfallversicherung” enger als der Versicherungsschutz in der gewerblichen Unfallversicherung (stRspr des Senats, zB BSGE 41, 149, 151 = SozR 2200 § 539 Nr 16; BSG SozR 3-2200 § 539 Nrn 22 und 34 mwN). Er richtet sich, wie sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch ihrer Entstehungsgeschichte (s BSGE 35, 207, 210 = SozR Nr 37 zu § 539 RVO) ergibt, nach dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Hierzu gehört auch eine unter schulischer Aufsicht durchgeführte Klassenfahrt (BSG SozR Nr 3 zu § 548 RVO; Urteil vom 31. März 1976 – 2 RU 287/73 – USK 7629; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 34 mwN). Das Ziel einer solchen Klassenfahrt besteht nicht allein darin, den Schülern neue im nachfolgenden Unterricht verwertbare Eindrücke durch den Besuch einer Stadt oder einer Landschaft zu vermitteln, sondern auch in der Förderung des sozialen Verhaltens in der Gruppe und in Beherrschung und Bewältigung der auf solchen Reisen besonders zum Ausdruck kommenden Gruppendynamik. Zwar besteht Versicherungsschutz nicht schlechthin während der gesamten Dauer der Klassenfahrt für jedwede Betätigung der Reiseteilnehmer (BSG Urteil vom 25. Januar 1977 – 2 RU 50/76 – USK 7711). Jedoch können auch Umstände bei der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, die sonst grundsätzlich vom Versicherungsschutz ausgenommen sind, in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, wenn diese Umstände durch die Klassenfahrt bedingt sind (BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 34).
So hat die Rechtsprechung für den Versicherungsschutz von jugendlichen Arbeitnehmern nicht ohne weiteres die für erwachsene Beschäftigte geltenden Maßstäbe bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung für anwendbar gehalten. Der Senat hat vielmehr – ohne Anwendung einer schematischen Altersbegrenzung – im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungssamtes (RVA) stets insbesondere berücksichtigt, ob durch unzureichende Beaufsichtigung oder sonstige Versäumnisse der Betriebsleitung die Jugendlichen in die Lage versetzt wurden, sich bei leichtsinnigen Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen (s RVA AN 1906, 509; RVA EuM 19, 127; 22, 3; BSG SozR Nr 68 zu § 542 RVO aF; BSG Urteil vom 25. Januar 1977 – 2 RU 50/76 – USK 7711; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, § 8 RdNr 167; Keller in Hauck, SGB VII, § 8 RdNr 147; Lauterbach/Schwerdtfeger, UV-SGB VII, § 8 RdNr 271). Dem liegt die allgemeine Erfahrung zugrunde, daß junge Menschen einem natürlichen Spieltrieb unterliegen. Eine vom Betrieb ausgehende spezifische Gefahr hat die Rechtsprechung vor allem dann anerkannt, wenn mehrere Jugendliche (Auszubildende) in Lehrwerkstätten zusammengefaßt und dort als eine von älteren Arbeitnehmern getrennte Gruppe ausgebildet und beschäftigt werden. In einem solchen Fall kann sich der jugendliche Spiel- und Nachahmungstrieb weitaus ungehemmter entfalten, als wenn die jungen Leute auf die Arbeitsplätze der erwachsenen Beschäftigten verteilt werden (BSGE 42, 42, 44 = SozR 2200 § 550 Nr 14).
Für die nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versicherten Schüler hat der Senat entschieden, daß bei Unfällen, die sich während des erlaubten Aufenthalts der Schüler im Schulbereich ereignen und auf Spielereien beruhen, die haftungsbegründende Kausalität eher zu bejahen ist als bei entsprechenden Unfällen jugendlicher Arbeitnehmer, weil von der Schule gerade in bezug auf den Spiel- und Nachahmungstrieb der Schüler zusätzliche Gefahren ausgehen, die im Rahmen des Unfallversicherungsschutzes Berücksichtigung finden müssen (BSGE 42, 42, 45 = SozR 2200 § 550 Nr 14; BSGE 43, 113, 116 = SozR 2200 § 550 Nr 26). Zu den besonderen Verhältnissen, die für Schüler nicht nur während des Schulbesuchs und in den Schulpausen, sondern auch bei Klassenfahrten zu Gefährdungen führen können und deshalb bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung zu berücksichtigen sind, gehören neben den auf natürlichem Spieltrieb ebenso die auf typischem Gruppenverhalten beruhenden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen (BSGE 43, 113, 116 = SozR 2200 § 550 Nr 14; BGHZ 67, 279, 282, 283; Brackmann/Krasney, aaO, § 8 RdNr 167).
So hat der Senat es als typisches Gruppenverhalten gewertet, daß Schüler bei Auseinandersetzungen das Schubsen des Mitschülers dem sachlichen Gespräch vorziehen und ihr Verhalten hierbei in eine Rangelei, sogar Schlägerei hineingleitet, die dann unmittelbar zu auch von dem Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigten Handlungen und sich daraus ergebenden Verletzungen führt (BSG SozR 2200 § 548 Nr 48). In seinem Urteil vom 5. Oktober 1995 (SozR 3-2200 § 539 Nr 34) hat der Senat den Versicherungsschutz während einer Klassenfahrt für die Folgen einer schweren Verletzung bejaht, die ein fünfzehnjähriger Schüler im Anschluß an eine im gemeinsamen Schlafraum veranstaltete nächtliche „Handtuchschlacht” und Rangelei durch einen Mitschüler erlitt. Dies hat der Senat ua damit begründet, daß sich vor allem auf Klassenfahrten der natürliche und bei jüngeren Schülern noch ungehemmte Spieltrieb besonders auswirkt und daß gerade bei Schülern im Pubertätsalter Raufereien und Rangeleien Ausfluß typischer gruppendynamischer Verhaltensweisen sind. Das Gruppenerlebnis auf Klassenfahrten führt erfahrungsgemäß vor allem dann, wenn sich die Disziplin während der Abwesenheit der Aufsichtspersonen lockert, häufig zu übermütigen und bedenkenlosen Verhaltensweisen (vgl BGH VersR 1987, 781, 782); Neckereien und Rangeleien aus nichtigem Anlaß können eine unverhältnismäßige Schärfe erhalten und plötzlich zu an sich nicht gewollten Reaktionen und in deren Folge zu Verletzungen führen.
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem, der dem Urteil vom 5. Oktober 1995 zugrunde lag, nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) insbesondere dadurch, daß der Kläger und seine Mitschüler und Mitschülerinnen im Unfallzeitpunkt siebzehnjährig waren. Gleichwohl ist aufgrund der vom LSG festgestellten besonderen Umstände sein Verhalten noch als schülertypisch zu bewerten und steht daher in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.
Der Gesetzgeber hat in zahlreichen Vorschriften, insbesondere in den §§ 106 bis 113 des Bürgerlichen Gesetzbuches und den §§ 1 und 3 des Jugendgerichtsgesetzes zu erkennen gegeben, daß Jugendliche vor der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung noch nicht wie Erwachsene behandelt werden können. In der Begründung zum Entwurf des Volljährigkeitsneuregelungsgesetzes vom 31. Juli 1974 (BGBl I 1713) hat er ausgeführt, daß die Einschränkungen der Rechtsmacht Minderjähriger ohne Zweifel bei Jugendlichen notwendig sind, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, und daß diese Jugendlichen des besonderen Schutzes der Rechtsordnung bedürfen (BT-Drucks 7/117, Vorbemerkung Abschnitt II, S 6). Er hat sogar darauf hingewiesen, daß die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von damals 21 auf 18 Jahre sich nicht aus den vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Stand der sozialen Reife der Achtzehn- bis Einundzwanzigjährigen zwingend ableiten lasse (Ausschußbericht zu dem genannten Entwurf, BT-Drucks 7/1762, Abschnitt II, S 3). Auch der Senat ist bei siebzehnjährigen Versicherten davon ausgegangen, daß ihnen die Reife und das Verantwortungsbewußtsein eines Erwachsenen generell noch fehlt (BSG SozR 2200 § 548 Nr 48; BSG SozR 2200 § 550 Nr 14). Beim Kläger kann daher – auch im Hinblick auf die Anwesenheit gleichaltriger Mädchen – die für Siebzehnjährige noch typische Unreife angenommen werden, ohne daß weitere Feststellungen im Einzelfall notwendig wären.
Von diesen Erwägungen ausgehend, ist – entgegen der Auffassung des LSG – der rechtlich wesentliche innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Sturz aus dem Fenster hier gegeben. Da eines der Ziele auch dieser Klassenfahrt die Förderung des sozialen Verhaltens in der Gruppe und die Beherrschung und Bewältigung der auf solchen Reisen besonders zum Ausdruck kommenden Gruppendynamik war und hierzu die gemeinsame Unterbringung in der Pension und die dadurch ermöglichten Kontakte zwischen den Schülern und Schülerinnen dienten, wurde deren Aufenthalt in den Pensionszimmern am 18. Juli 1995 vom organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule noch erfaßt und stand gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieser Schutz wurde nicht dadurch aufgehoben, daß der Kläger mit seinem Fensterklettern sich – objektiv betrachtet – in hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhielt. Denn infolge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses wurde er in die Situation gebracht, deren Folge der Sturz aus dem Fenster war.
Auch das LSG hat das anfängliche Verhalten des Klägers und das seiner Mitschüler und Mitschülerinnen in den Zimmern der Pension als Ergebnis eines gruppendynamischen Prozesses gewertet. Dieser Prozeß hatte jedoch mit der Rückkehr des Klägers in sein Zimmer nicht sein Ende gefunden. Denn derartige Prozesse bestehen nicht nur in äußeren Handlungsabläufen, sondern lösen auch innere Vorgänge aus, die ihrerseits wieder zu einer Steigerung des äußeren Geschehens führen können. Den bindenden Feststellungen des LSG im angefochtenen Urteil ist in Verbindung mit den in Bezug genommenen Gerichtsakten und den Verwaltungsakten des Beklagten zu entnehmen, daß der Kläger vor den Augen der Mädchen eine Schlappe hinnehmen mußte. Er wurde nämlich gegen seinen Willen aus dem Mädchenzimmer hinausgeschleppt und hatte während der „verbalen Kabbelei” mit seinem Mitschüler Felix K. Nasenbluten. Ein weiteres Glied in der Kette der sich steigernden gruppendynamischen Ereignisse stellte die vom LSG festgestellte Drohung des Mitschülers Felix K. dar, den Kläger einzuschließen. Dabei bedarf es keiner weiteren Ermittlungen, ob er tatsächlich eingeschlossen war. Denn auch nach der Auffassung des LSG konnte der Kläger aufgrund der genannten Drohung annehmen, er sei eingeschlossen worden; aufgrund dieser Vorstellung hat er sich dann so verhalten, als sei er wirklich eingeschlossen. In einer solchen Situation, die ein junger Mann in seinem Alter in der Regel als Niederlage und Demütigung auffaßt, ist es naheliegend, etwas zu tun, was einerseits die – vermeintliche – Einschließung beendet, andererseits die erlittene Schlappe wettmacht. Dementsprechend hat sich auch der Kläger verhalten, als er den Mädchen im Nebenzimmer die Frage zurief, ob ihr Fenster offen sei, und nach der Bejahung dieser Frage sein Hinübersteigen ankündigte. Mit der Frage und der anschließenden Ankündigung des Hinübersteigens zeigte der Kläger den Mädchen seine Bereitschaft, eine äußerst gefährliche Handlung zu begehen. Die Frage, ob das Fenster offen sei, sowie die Ankündigung seines Hinübersteigens sind ebenso Bestandteile eines sich steigernden gruppendynamischen Prozesses wie das Verhalten der Mädchen im Nebenzimmer, welche die Frage des Klägers mit ja beantworteten und jedenfalls nichts unternahmen, um den Kläger von der Verwirklichung seines Entschlusses abzubringen. Auch das Verhalten der Mädchen ist als Teil des gruppendynamischen Prozesses zu werten; denn es mußte dem Kläger signalisieren, daß man erwarte, er werde hinüberklettern.
Wesentliche Ursache für die zum Unfall führende Handlung war auch nicht eine vom LSG angenommene der Persönlichkeit des Klägers immanente Spontaneität und Waghalsigkeit. Einer solchen Wertung wäre selbst dann nicht zu folgen, wenn derartige von üblichen Verhaltensmustern bei Jugendlichen abweichenden Charaktereigenschaften beim Kläger vorlägen. Denn einerseits ist in der gesetzlichen Schülerunfallversicherung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen jeder Schüler unabhängig von seinen Charaktereigenschaften versichert. Zum andern ist gerade ein überdurchschnittlich spontan und waghalsig handelnder Schüler durch Gruppenzwänge besonders beeinflußbar, weil bei ihm das rationale Abwägen eine geringere Rolle spielt als bei einem durchschnittlich veranlagten Schüler. Demgemäß müßte sich – seine Waghalsigkeit und Spontaneität unterstellt – beim Kläger der sich steigernde gruppendynamische Prozeß ohne ins Gewicht fallende innere Hemmnisse in der dann tragisch endenden Weise ausgewirkt haben. Nichts anderes ergibt sich im Ergebnis, wenn man dem Vorbringen der Revision folgt, wonach der Kläger in seiner Persönlichkeitsstruktur nicht von der Norm abweicht und ein guter Sportler ist. Denn dann konnte der Kläger aufgrund seiner sportlichen Geschicklichkeit darauf vertrauen, den Sprung von dem einen Fenster zum anderen ohne Verletzung zu schaffen. Auch in diesem Falle stellte der sich steigernde gruppendynamische Prozeß die rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall dar. Der Senat konnte daher offenlassen, ob das LSG in diesem Zusammenhang unter Verstoß gegen § 103 SGG unzureichend ermittelt hat.
Auch brauchte der Senat nicht zu entscheiden, ob – wie von der Revision geltend gemacht – das LSG das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG) oder seine Pflicht, das Urteil mit Entscheidungsgründen zu versehen (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG iVm § 202 SGG und § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung) verletzt hat; denn bejahendenfalls hätte auch dies zur Aufhebung des angefochtenen Urteils geführt, ohne dem Senat die Möglichkeit zu nehmen, in der Sache selbst abschließend zu entscheiden.
Nach alledem waren auf die Revision des Klägers das Urteil des LSG und das Urteil des SG sowie die Bescheide des Beklagten aufzuheben und dieser zu verurteilen, den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18. Juli 1995 zu entschädigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 448622 |
SchuR 2002, 126 |
AuS 2001, 62 |
SozSi 2001, 436 |