Leitsatz (amtlich)

Ein früher im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wohnender Versicherter ist durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus den polnisch verwalteten Ostgebieten verhindert worden, wenn ihm nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft die polnischen Zivilbehörden die Ausreise verweigert haben, weil er zum Ausgleich der von deutscher Seite verursachten Kriegsschäden beim Wiederaufbau eingesetzt werden sollte; ein allgemeines polnisches Ausreiseverbot gegenüber der eigenen Bevölkerung ist insoweit ohne Bedeutung.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. Mai 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1908 geborene Kläger, von Beruf Kfz-Meister, hat bis 1943 in S gewohnt. Er geriet als Angehöriger der Deutschen Wehrmacht bei Kriegsende in russische Gefangenschaft. Als Gefangener war er im polnisch verwalteten Schlesien zur Instandsetzung von Kraftfahrzeugen eingesetzt. Im Juni 1950 wurde er dort auf seinen Wunsch aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die polnischen Zivilbehörden beschäftigten ihn anschließend als Kfz-Facharbeiter in L. Die Versuche des Klägers, die Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, blieben bis Juli 1957 ohne Erfolg.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab März 1973 Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab Januar 1974 Altersruhegeld (Bescheide vom 10. Mai 1974). Bei der Rentenberechnung wurde die Zeit von Juli 1950 bis Juli 1957 nicht als Versicherungszeit angerechnet.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte "unter Abänderung des Bescheides vom 10. Mai 1974" verurteilt, die streitige Zeit als Ersatzzeit - i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) - rentensteigernd zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat polnische Versicherungszeiten weder für nachgewiesen noch für glaubhaft erachtet. Nach seiner Ansicht ist der Kläger in der streitigen Zeit nicht mehr Kriegsteilnehmer gewesen und durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus den polnisch verwalteten Ostgebieten verhindert worden. Eine feindliche Maßnahme sei schon darin zu erblicken, daß die russischen Militärbehörden den Kläger gleichzeitig mit der Entlassung den polnischen Zivilbehörden zur weiteren Verfügung übergeben hätten. Darüber hinaus liege eine feindliche Maßnahme des polnischen Staates vor; dieser habe zum Ausgleich der von deutscher Seite verursachten Kriegsschäden deutsche Facharbeiter zurückgehalten, um sie beim Wiederaufbau einzusetzen; das Festhalten des Klägers habe den Grundsätzen des Völkerrechts widersprochen, weil er weder polnischer Staats- oder Volkszugehöriger gewesen sei noch vor 1945 in den deutschen Ostgebieten gelebt habe.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG hätte noch weitere Ermittlungen zum Umfang des polnischen Ausreiseverbots durchführen müssen. Dann hätte sich ergeben, daß der Kläger nicht anders als alle im polnischen Hoheitsgebiet befindlichen Personen behandelt und somit nicht durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr nach Deutschland gehindert worden sei.

Der Kläger ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten. Er ist ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Zunächst ist festzustellen, daß die Berufung der Beklagten, soweit sie die Höhe der Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit von März bis Dezember 1973 betraf, unzulässig gewesen ist. Das SG hat bei seiner Entscheidung trotz des irreführenden Tenors: unter Abänderung des Bescheides vom 10. Mai 1974 - diese Zeit in die Verurteilung der Beklagten einbezogen. Insoweit handelte es sich um einen selbständigen prozessualen Anspruch; das war bei der Prüfung etwaiger Berufungsausschließungsgründe zu beachten. Von diesen griff hier der des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein; danach ist die Berufung unzulässig, soweit sie Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Das war hinsichtlich der Berufsunfähigkeitsrente der Fall; Gründe, die die Berufung insoweit ausnahmsweise nach § 150 SGG hätten zulässig werden lassen, waren nicht gegeben.

Ansonsten haben die Vorinstanzen in der Sache zu Recht der Klage stattgegeben. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten, in denen der Versicherte nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen ist. Diese Voraussetzungen waren beim Kläger erfüllt.

Das LSG hat den Kläger für den streitigen Zeitraum zu Recht nicht mehr als Kriegsteilnehmer angesehen. Der Kläger war zu Beginn des Zeitraumes aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Seitdem war er kein Kriegsgefangener und darum auch kein Kriegsteilnehmer i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG mehr. Die Kriegsgefangenschaft war vielmehr mit der Entlassung aus ihr beendet. Allerdings endet eine Kriegsgefangenschaft im allgemeinen nicht schon durch bloße Freilassung im Gewahrsamsland, wenn dieses nicht auch das Heimatland ist; eine Beendigung wird ferner verneint, wenn der Kriegsgefangene in den Ostblockstaaten nur formell "entlassen" und in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführt wird (BSG 13, 16, 17 und SozR Nr. 25 zu § 1251 RVO). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG haben die russischen Militärbehörden hier jedoch die Entlassung weder von einer freiwilligen Weiterarbeit in Polen abhängig gemacht noch den Kläger "zur Überführung" in ein unfreiwilliges Arbeitsverhältnis entlassen. Mit der gleichzeitigen "Übergabe an die polnischen Behörden zur weiteren Verfügung" ist nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe des LSG nur gemeint, daß sich der Kläger dort zwecks Ausstellung einer Ausreisegenehmigung melden sollte. Da diese Entlassung somit eine Rückkehr des Gefangenen in das Heimatland ermöglichen sollte und zudem dem Wunsch des Klägers entsprach, war mit ihr das Ende der Kriegsgefangenschaft verbunden. Bei anderer Betrachtungsweise müßte eine Fortdauer der Kriegsgefangenschaft mit Anrechnungspflicht dieser Zeit als Ersatzzeit i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG angenommen werden.

Zu Recht hat das LSG auch entschieden, daß der Kläger an der Rückkehr nach Deutschland durch feindliche Maßnahmen gehindert worden ist. Das LSG hat diesen Begriff im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG (vgl. SozR 2200 Nr. 7 zu § 1251) ausgelegt. Danach muß es sich um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richteten; diese Zielrichtung konnte dadurch zum Ausdruck kommen, daß die Maßnahme hauptsächlich Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit treffen oder gerade die Ausreise nach Deutschland verhindern sollte.

Hiernach durfte das LSG freilich noch nicht die Art der Entlassung des Klägers aus der Gefangenschaft durch die russischen Militärbehörden als feindliche Maßnahme werten, zumal nicht festgestellt ist, daß diese damit eine Vereitelung der Rückkehr nach Deutschland bezweckt oder auch nur in Kauf genommen hätten. Dagegen hat das LSG zutreffend in dem Verhalten der polnischen Behörden gegenüber dem Kläger eine feindliche Maßnahme erblickt. Dieses Verhalten richtete sich gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland, weil damit eine deutsche Fachkraft durch Verweigerung der Ausreisegenehmigung in Polen zurückgehalten wurde, um sie beim Wiederaufbau zum Ausgleich der von deutscher Seite (tatsächlich oder vermeintlich) verursachten Kriegsschäden einzusetzen. Gegen diese Feststellung des LSG sind keine Verfahrensrügen erhoben. Die materiellen wie formellen Rügen der Revision wollen nur geltend machen, in Polen habe ein allgemeines Ausreiseverbot bestanden, das die gesamte Bevölkerung betroffen habe. Mit diesem Einwand kann die Beklagte jedoch nicht durchdringen.

Auch wenn in Polen ein allgemeines Ausreiseverbot bestand, hatte die Ausreiseverweigerung gegenüber dem Kläger eine besondere persönliche Richtung, die sie gerade als feindliche Maßnahme kennzeichnet. Der Kläger war von den russischen Militärbehörden freigelassen worden und hatte nach völkerrechtlichen Grundsätzen ein Recht auf Rückkehr in das Heimatland. Er gehörte weder zu den Bürgern Polens noch zu den Bewohnern (Einwohnern) dieses Landes einschließlich der polnisch verwalteten Gebiete; er hatte niemals dort gewohnt; das Verbleiben in der streitigen Zeit beruhte nicht auf einem freiwilligen Entschluß. Gerade deswegen wurde er nicht von einem allgemeinen Ausreiseverbot gegenüber der Bevölkerung des polnischen und polnisch verwalteten Landes nur mitbetroffen; er war vielmehr Gegenstand davon zu trennender besonderer Maßnahmen. Diese eben darum feindlichen Maßnahmen i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG haben ihn an der Rückkehr nach Deutschland gehindert; die Feststellung des Rückkehrwillens durch das LSG ist von der Beklagten nicht angefochten worden.

Die Revision der Beklagten war demnach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung (für den Fall, daß der Kläger überhaupt außergerichtliche Kosten im Revisionsverfahren gehabt haben sollte) beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1650335

BSGE, 218

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