Leitsatz (amtlich)
Das Absägen einiger Äste von einem Baum im landwirtschaftlichen Betrieb des Bruders, das gelegentlich eines Verwandtenbesuchs erfolgt, ist keine arbeitnehmerähnliche Leistung iS von RVO § 539 Abs 2.
Normenkette
RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.03.1979; Aktenzeichen L 2 U 97/78) |
SG Landshut (Entscheidung vom 14.03.1978; Aktenzeichen S 5 U 32/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte einen Unfall des Klägers zu entschädigen hat, den dieser im landwirtschaftlichen Anwesen seines Bruders beim Absägen einiger Äste von einem Obstbaum erlitten hat (Schäden an der Wirbelsäule mit stationärer Behandlung vom 2. September bis 12. November 1976).
Durch Bescheid vom 9. November 1976 lehnte es die Beklagte ab, den Unfall vom 2. September 1976 zu entschädigen, weil das Pflücken einiger Birnen zum häuslichen Gebrauch - dies hatte der Kläger zunächst angegeben - nicht durch die gesetzliche Unfallversicherung geschützt sei. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er seine früheren Angaben dahin berichtigte, der Unfall habe sich ereignet, als er im landwirtschaftlichen Anwesen seines Bruders beim Absägen einiger Äste von Obstbäumen geholfen habe, wies die Beklagte nach weiterer Sachaufklärung durch Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1977 mit der Begründung zurück, bei der unfallbringenden Tätigkeit habe es sich um eine verwandtschaftliche Gefälligkeit gehandelt, die nicht unter Versicherungsschutz stehe.
Das Sozialgericht (SG) Landshut hat den Bruder des Klägers als Zeugen vernommen und die Klage durch Urteil vom 14. März 1978 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 21. März 1979 zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 539 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der §§ 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen
Landessozialgerichts vom 21. März 1979 und
des Sozialgerichts Landshut vom 14. März 1978
sowie des Bescheides der Beklagten vom
9. November 1976 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 1977 die
Beklagte zu verurteilen, den Kläger wegen der
Folgen des Arbeitsunfalles vom 2. September 1976
zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs 2 SGG entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Soweit die Revision beanstandet, das LSG habe nicht ermittelt, ob außer den vom Kläger bis zum Unfall abgesägten Ästen noch mehr Äste hätten beseitigt werden sollen, muß von der Rechtsauffassung des LSG ausgegangen werden, es komme für die Beurteilung der Entschädigungspflicht allein auf die Verhältnisse zur Unfallzeit an. Nach den Angaben des Bruders des Klägers im Widerspruchsverfahren, die er bei seiner Vernehmung als Zeuge vor dem SG bestätigt hat, sollten an diesem Tag "einige Äste aus dem unteren Bereich des Birnbaumes" abgesägt werden, die beim Durchfahren dieses Bereichs mit den Maschinen (Ladewagen, Schlepper) hinderlich waren. Das LSG mußte deshalb von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus nicht ermitteln, ob für einen anderen Zeitpunkt auch die Beseitigung anderer Äste - möglicherweise auch an anderen Bäumen - vereinbart war; es durfte vielmehr ohne Verfahrensverstoß aufgrund der Bekundungen des Bruders des Klägers feststellen, daß am Unfalltag einige 10 cm starke Äste von dem neben dem Schuppen auf der Wiese stehenden Birnbaum abgesägt werden sollten, weil sie beim Vorbeifahren mit dem Traktor und mit Maschinen hinderlich waren.
Soweit die Revision rügt, das LSG habe seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) dadurch verletzt, daß es die Bekundungen des Bruders des Klägers ungeprüft übernommen habe, er hätte mit Hilfe seines neunjährigen Sohnes die vom Kläger verrichtete Arbeit leisten können, sind entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht die Tatsachen bezeichnet, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben. Die Revision gibt nämlich nicht an, aufgrund welcher Tatsachen sich das LSG gedrängt sehen mußte, die Bekundungen des Bruders des Klägers zu überprüfen, auf welche Weise dies nach Auffassung der Revision hätte geschehen sollen und was sich dabei ergeben hätte. Die Revision begnügt sich insoweit mit der auf die Beweiswürdigung des LSG zielenden Behauptung, die Bekundungen des Zeugen entsprächen in keiner Weise der Lebenserfahrung. Dies zu behaupten genügt jedoch nicht den Anforderungen an eine Verfahrensrüge nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG.
Soweit die Revision dem LSG eine Verletzung des § 128 SGG vorwirft - gemeint ist offenbar, ohne daß dies näher bezeichnet wäre, die im Zusammenhang mit den Bekundungen des Bruders des Klägers erwähnte Lebenserfahrung sei unberücksichtigt geblieben - sind ebenfalls die Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht erfüllt. Des weiteren übersieht die Revision, daß die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht schon dann verletzt sind, wenn das Gesamtergebnis des Verfahrens auch eine Würdigung in anderer - gegenteiliger - Richtung zuließ, sondern erst dann, wenn die gegenteilige Würdigung der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens allein mögliche zwingende Schluß war. Daß und aus welchen Gründen dies der Fall war, legt die Revision jedoch nicht dar.
Aufgrund der vom LSG getroffenen und von der Revision - wie oben dargelegt - erfolglos angegriffenen tatsächlichen Feststellungen, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, hat das LSG die Entschädigungspflicht der Beklagten für den Unfall des Klägers vom 2. September 1976 zu Recht verneint.
Mit dem LSG und dem Kläger geht der Senat davon aus, daß sich der Unfall des Klägers gelegentlich eines Gefälligkeitsdienstes - nicht bei einer Schwarzarbeit - ereignet hat. Der Gefälligkeitsdienst sollte nach den Feststellungen des LSG darin bestehen, innerhalb weniger Minuten einige Äste von einem Birnbaum abzusägen, welche so tief hingen, daß sie das Vorbeifahren an dieser Stelle neben einem auf der Wiese stehenden Schuppen behinderten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt es für die Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO - "personen, die wie ein Beschäftigter tätig werden" - darauf an, daß es sich um eine ernstliche, dem in Frage stehenden Unternehmen dienende Arbeit (der bislang verwendete Begriff "Tätigkeit" ist seit dem Inkrafttreten des § 7 SGB 4 der selbständigen unternehmerischen Arbeit vorbehalten) handelt, die dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht, und daß durch diese Arbeit ein innerer, ursächlicher Zusammenhang mit dem Unternehmen hergestellt wird. Ein persönliches oder wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis zum Unternehmer ist nicht erforderlich, weshalb auch freundschaftliche oder verwandtschaftliche Bindungen als Beweggründe des Handelnden den Versicherungsschutz nicht grundsätzlich ausschließen. Gleichwohl ist nicht jede Arbeit, die einem Unternehmen dient und dem Willen des Unternehmers entspricht, nach § 539 Abs 2 RVO versichert. Denn diese Norm bezweckt, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1977 - 8 RV 42/77 - (USK 7724) aus der Rechtsentwicklung hergeleitet hat, nicht die Einführung einer allgemeinen Volksversicherung. § 539 Abs 2 RVO setzt deshalb eine Arbeit voraus, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die zu dem Unternehmer in persönlicher Abhängigkeit stehen und erfordert Umstände, die die Arbeit derjenigen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich erscheinen lassen. Letzteres kann nur aufgrund der tatsächlichen und rechtlichen Umstände beurteilt werden, unter denen sich die Arbeit vollzieht (vgl BSGE 5, 168, 174; 35, 140, 142; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 43, 49, 55, 57). Dabei ist darauf abgestellt worden, daß nicht jede, noch so geringfügige Handreichung für ein Unternehmen den Handelnden zum Versicherten nach § 539 Abs 2 RVO macht (vgl BSG SozR Nr 16 zu § 539 RVO) und daß insbesondere bei Gefälligkeitshandlungen, die unter Verwandten vorgenommen werden und von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, ebensowenig Versicherungsschutz besteht, wie beispielsweise bei Verrichtungen aufgrund mitgliedschaftlicher, gesellschaftlicher oder körperschaftlicher Verpflichtungen (BSG SozR 2200 § 539 Nr 43 S 134 mwH). Entscheidend kommt es darauf an, ob die Verrichtung nach Art, Umfang und Zeitdauer von familiären, mitgliedschaftlichen, gesellschaftlichen oder körperschaftlichen Bindungen geprägt wird oder ob die Arbeitsleistung für ein fremdes Unternehmen im Vordergrund steht (vgl hierzu insbesondere die Urteile des BSG vom 1. Februar 1979 - 2 RU 65/78 - = SozR 2200 § 539 Nr 55 und vom 30. April 1979 - 8a RU 38/78 - = SozR 2200 § 539 Nr 57). Je enger eine Gemeinschaft ist, um so größer wird der Rahmen sein, innerhalb dessen bestimmte Verrichtungen ihr Gepräge daraus erhalten (Urteil vom 26. Oktober 1978 - 8 RU 14/78 - = SozR 2200 § 539 Nr 49).
Dies führt zu dem auch in den Vorinstanzen gewonnenen Ergebnis eines verwandtschaftsbedingten Gefälligkeitsdienstes des Klägers. Ihrer Art nach war die Arbeit nicht etwa auf ein systematisches Ausschneiden der Obstbäume, sondern darauf gerichtet, von dem Birnbaum - der Bruder des Klägers hat nach seinen Angaben außerdem nur noch drei Kirschbäume - einige hinderliche Äste abzusägen. Diese Arbeit war auch nicht besonders dringlich. Denn die Äste hatten den Bruder des Klägers schon seit mindestens drei Jahren auf dem Weg in seine Wiese insofern gehindert, als sie jeweils das Führerhaus des Traktors streiften und ihn dazu zwangen, das Fenster zu schließen. Etwa drei Jahre vor dem Unfall hatte er auf der anderen Seite des Schuppens nämlich eine Pferdekoppel eingerichtet, so daß er seither nur auf der Seite des Schuppens, auf der der Birnbaum steht, in seine Wiese fahren konnte. Diese Behinderung veranlaßte den Bruder des Klägers nach etwa drei Jahren dazu, an die Beseitigung der störenden Zweige zu denken. Seinen Plan, selbst von der Frontladerschaufel seines Traktors aus die Äste abzusägen, während sein neunjähriger Sohn den Hebel des Frontladers bedienen sollte, änderte er, als beim Zusammentreffen mit dem Kläger in dem Schuppen die Rede auf die störenden Äste des Birnbaums kam, dahin ab, daß er den Kläger bat, ihm beim Absägen der Äste zu helfen. Das verwandtschaftliche Gespräch und die unter Brüdern übliche Hilfsbereitschaft bestimmten bei dem günstigen Zusammentreffen - wenige störende Zweige konnten innerhalb weniger Minuten von dem ganz in der Nähe stehenden Traktor aus leicht abgesägt werden - den Kläger dazu, dies zu tun und charakterisieren sein Handeln als Gefälligkeitsleistung. Nur diese Beurteilung wird den tatsächlichen und rechtlichen Umständen des zu beurteilenden Geschehensablaufs gerecht. Es mag sein, daß die Äste auch ein hierzu eingestellter Arbeitnehmer hätte absägen können. Dies allein reicht aber bei der hier kurzerhand geleisteten verwandtschaftlichen Hilfe geringen Umfangs nicht aus, um die zum Unfall führende Hilfeleistung als arbeitnehmerähnlich zu kennzeichnen und damit den Kläger als nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO versichert anzusehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1659373 |
Breith. 1981, 300 |