Entscheidungsstichwort (Thema)
Neufeststellung der Gesamt-MdE
Leitsatz (amtlich)
Zur Neufeststellung einer Gesamt-MdE, wenn sich einerseits bisherige Behinderungen gebessert haben oder weggefallen sind und andererseits neue Behinderungen hinzugekommen sind.
Orientierungssatz
1. Bei einer Neufeststellung nach § 62 Abs 1 BVG ist die Versorgungsverwaltung an die Bewertung der MdE ("Teil-MdE") für das unverändert gebliebene Leiden in dem letzten Bescheid gebunden (vgl BSG vom 1963-03-22 11 RV 844/62 = BSGE 19, 15). Diese Bindung wird jedoch nach § 62 Abs 1 BVG durchbrochen, wenn in den einzelnen Teilbehinderungen Änderungen eingetreten sind. Bei mehreren Behinderungen ist eine Gesamt-MdE festzustellen (vgl BSG vom 1979-03-15 9 RVs 6/77 = BSGE 48, 82 = SozR 3870 § 3 Nr 4).
2. Die Versorgungsverwaltung ist berechtigt, eine Besserung der früher festgestellten Behinderungen und die damit mögliche Verringerung des MdE-Satzes mit einer Erhöhung des MdE-Satzes wegen neuer Behinderungen in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Dies kann mit einem einzigen Verwaltungsakt erfolgen.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 1 S 2; BVG § 62 Abs 1 S 1 Fassung: 1966-12-28
Verfahrensgang
SG Itzehoe (Entscheidung vom 13.06.1980; Aktenzeichen S 7 Vsb 136/79) |
Tatbestand
Bei der 1921 geborenen Klägerin waren durch Bescheid vom 15. Juni 1976 insgesamt sechs Behinderungen verschiedener Körperteile mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH anerkannt. Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 14. Oktober 1977 erkannte das Versorgungsamt zwei weitere Behinderungen an (ua eine Beugebehinderung des Kniegelenks), bezeichnete sie neu und lehnte die Feststellung einer wesentlichen Verschlimmerung ab (Bescheid vom 20. Juli 1979).
Während des Klageverfahrens erkannte der Beklagte durch Bescheid vom 5. September 1979 nur noch sieben Behinderungen an, bezeichnete diese zum Teil neu und behielt die MdE um 70 vH bei. Die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung wurde abgelehnt.
Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die angefochtenen Bescheide des Beklagten abgeändert und den Beklagten verurteilt, für die festgestellten Behinderungen eine MdE um 80 vH anzuerkennen (Urteil vom 13. Juni 1980). Damit sah es gleichzeitig das weitere Begehren der Klägerin auf Anerkennung des Merkzeichens "G" als gegenstandslos geworden an. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt: Die Behinderungen der Klägerin hätten sich verschlimmert, weil eine Beugebehinderung des rechten Kniegelenks hinzugekommen sei, für die eine Einzel-MdE von 20 vH anzunehmen sei. Die Gesamt-MdE für die Behinderungen der Klägerin betrage zwar nur 40 vH; da aber von der mit Bescheid vom 15. Juni 1976 festgestellten Gesamt-MdE von 70 vH auszugehen sei, ergebe sich bei Hinzurechnung der neuen Einzel-MdE von 20 vH eine Gesamt-MdE von 80 vH. Die mit Bescheid vom 15. Juni 1976 zugrundegelegte MdE sei zwar ausgesprochen günstig gewesen, und einzelne Behinderungen hätten sich gebessert. Der Beklagte sei aber an den festgestellten MdE-Satz gebunden (§ 24 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung -KOVVfG- und § 77 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), weil er die Bindung nicht durch einen Bescheid nach § 41 KOVVfG bzw § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) durchbrochen habe. Ein solcher Bescheid sei zwar durchaus möglich gewesen, vom Beklagten aber nicht erlassen worden.
Das SG hat die Berufung im Urteil und die Revision durch einen besonderen Beschluß des Kammervorsitzenden vom 30. Juli 1980 zugelassen, nachdem die Klägerin der Sprungrevision zugestimmt hatte.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und rügt die Verletzung des § 62 Abs 1 BVG. An der festgesetzten MdE von 70 vH sei festgehalten worden, weil zwar eine Verschlimmerung durch das Hinzutreten einer neuen Behinderung eingetreten, diese aber durch eine wesentliche Besserung anderer Behinderungen aufgewogen worden sei. Nach § 3 Abs 1 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) iVm § 62 BVG seien die Behinderungen nur dann neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des bisherigen Anspruchs maßgebend gewesen seien, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Dafür sei das Ausmaß des Gesamtleidenszustandes entscheidend. Bei der Klägerin führe das Hinzutreten einer neuen Behinderung zu keiner Verschlechterung, da einige Behinderungen (klimakterische Ausfallserscheinungen und Schlafstörungen) nicht mehr vorlägen, das Nierenleiden sich gebessert habe und die ursprünglich anerkannten Krampfadern und Beindurchblutungsstörungen operativ beseitigt worden seien. Daher sei es insgesamt zu keiner Erhöhung der gesamten Erwerbsbeeinträchtigung gekommen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Itzehoe vom 13. Juni 1980
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision des Beklagten ist zulässig (§ 161 Abs 1 SGG). Zwar haben bei der Entscheidung über den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Sprungrevision die ehrenamtlichen Richter der Kammer des SG mitzuwirken; gleichwohl ist eine verfahrensfehlerhaft nur vom Kammervorsitzenden des SG allein beschlossene Zulassung der Sprungrevision für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (BSG Großer Senat, 18. November 1980 - GS 3/79). Die Zustimmung der Klägerin zur Sprungrevision ist bereits mit dem Antrag auf Revisionszulassung dem SG vorgelegt worden.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen. Die Feststellungen des SG reichen nicht aus, um abschließend in der Sache zu entscheiden.
Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, daß nach § 3 Abs 1 SchwbG die Versorgungsämter das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE festsetzen. Dabei sind bestimmte Vorschriften des BVG entsprechend anzuwenden, ua § 62 Abs 1 Satz 1 BVG idF der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 (BGBl I S 1633). Hiernach hat eine Neufeststellung zu erfolgen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Die Neufeststellung ist entsprechend den veränderten Verhältnissen vorzunehmen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muß durch einen Vergleich des gegenwärtigen mit dem verbindlich festgestellten Behinderungszustand festgestellt werden. Dabei kommt es nicht darauf an, von welchen Gegebenheiten und rechtlichen Ansichten die Versorgungsbehörde sich hat leiten lassen, sondern welcher Sachverhalt zum Zeitpunkt der früheren Feststellung objektiv bestanden hat (BSGE 7, 8, 12; BSG SozR Nr 20 und Nr 24 zu § 62 BVG; SozR 3100 § 62 Nr 15 und 16; BSG Urteile vom 30. Januar 1980 - 9 RV 62/78 -, vom 9. Juli 1980 - 9 RV 38/79 und vom 17. September 1980 - 9 RVs 1/80). Haben sich die entscheidungserheblichen Gegebenheiten in der einen oder anderen Richtung weiterentwickelt, so darf nur in derjenigen Richtung und in dem Ausmaße, in dem sich die dem früheren Bescheid zugrundeliegende Sachlage gewandelt hat, die vorangegangene Entscheidung geändert werden. § 62 BVG bietet allerdings keine Handhabe zur Korrektur fehlerhafter Vorentscheidungen. Das bringt der Wortlaut des § 62 Abs 1 Satz 1 BVG aF dadurch zum Ausdruck, daß die Neufeststellung nur "entsprechend" vorgenommen werden darf (BSG SozR 3100 § 62 Nr 16 mwN). Nun ist es richtig, daß bei einer Neufeststellung nach § 62 Abs 1 BVG die Versorgungsverwaltung an die Bewertung der MdE ("Teil-MdE") für das unverändert gebliebene Leiden in dem letzten Bescheid gebunden ist (BSGE 19, 15). Diese Bindung wird jedoch nach § 62 Abs 1 BVG durchbrochen, wenn in den einzelnen Teilbehinderungen Änderungen eingetreten sind. Bei mehreren Behinderungen ist eine Gesamt-MdE festzustellen (§ 3 Abs 3 Satz 1 SchwbG vgl dazu BSGE 48, 82, 83 ff = SozR 3870 § 3 Nr 4). Bei einer rechtsverbindlichen Entscheidung über die MdE wird grundsätzlich allein der Gesamtbetrag, der im Verfügungssatz des Bescheids festgestellt ist, bindend (Urteile des BSG vom 30. Januar 1980 und 9. Juli 1980 aaO). Durch den Bescheid vom 15. Juni 1976 war rechtsverbindlich eine MdE um 70 vH festgestellt worden. Von dieser Entscheidung muß das Versorgungsamt nach § 62 Abs 1 Satz 1 BVG abgehen, wenn sie infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig geworden ist. Dabei spielen die Besserung von bisher anerkannten Behinderungen und das Hinzukommen von neuen lediglich dafür eine Rolle, in welcher Richtung und in welchem Ausmaß - "entsprechend" - eine Änderung vorgenommen werden kann. Daraus folgt für den Fall der Klägerin, daß die Versorgungsverwaltung von der verbindlichen Feststellung einer MdE um 70 vH auszugehen hat. Auf der anderen Seite ist sie berechtigt, eine Besserung der früher schon festgestellten Behinderungen und die damit mögliche Verringerung des MdE-Satzes mit einer Erhöhung des MdE-Satzes wegen neuer Behinderungen in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Dies hat entgegen der Ansicht des SG allerdings nicht in zwei gesonderten Bescheiden zu geschehen, sondern kann mit einem einzigen Verwaltungsakt erfolgen. Diese Verfahrensweise hat das Versorgungsamt offenbar angewandt. Zwar ist in seinen angefochtenen Bescheiden die Rechtslage nicht erkennbar dargestellt worden. Das allein berechtigt jedoch die Gerichte nicht, die Bescheide aufzuheben. Sie haben sie vielmehr dahin zu überprüfen, ob sie im Ergebnis rechtswidrig sind.
Das SG wird deshalb zu überprüfen haben, ob sich die im Bescheid vom 15. Juni 1976 mit einer MdE um 70 vH angegebenen Behinderungen seit diesem Zeitpunkt einerseits gebessert haben und in welchem Umfang und in welchem Maße andererseits die neu hinzugekommenen Behinderungen die Gesamterwerbsfähigkeit vermindern. Sollten sich diese beiden Faktoren gegeneinander aufheben, also einer zusätzlichen Behinderung auf der einen Seite eine Verbesserung der bisherigen Behinderungen auf der anderen Seite in etwa gleichem Maße gegenüberstehen, so ist für eine Änderung der Gesamt-MdE kein Raum. Sollten jedoch die hinzugekommenen Behinderungen wesentlich schwerwiegender sein als die weggefallenen oder gebesserten früheren Behinderungen, so wäre eine entsprechende Erhöhung der MdE angezeigt. Das SG wird auch zu prüfen haben, ob es den Antrag der Klägerin auf Anerkennung einer erheblichen Gehbehinderung als gegenstandslos geworden ansehen kann, wenn der Beklagte nicht zur Anerkennung einer MdE von wenigstens 80 vH verurteilt wird.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen