Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörung eines bestimmten Arztes. persönliche Untersuchungspflicht. Hinzuziehung ärztlicher Hilfskräfte und technischer Hilfsmittel. selbstverantwortliche Übernahme eines von einem anderen Arzt gefertigten Gutachtens
Orientierungssatz
1. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es wegen der Entwicklung der medizinisch-technischen Wissenschaft nicht in jedem Falle erforderlich, daß der Arzt den Antragsteller persönlich untersucht und selbst das Gutachten anfertigt (vgl BSG vom 1958-07-31 9 RV 536/57 = BSGE 8, 72, 75). Der Sachverständige kann ohne besonderen Anlaß auf technische Hilfsmittel und ärztliche Hilfskräfte bei der Befunderhebung zurückgreifen. Er darf das Gutachten von anderen Ärzten anfertigen lassen und nach Überprüfung das gewonnene Ergebnis zu seinem eigenen machen (vgl BSG vom 1958-07-31 9 RV 536/57 = BSGE 8, 72, 77). Eine persönliche Untersuchung durch den Sachverständigen ist unumgänglich, wenn es um medizinische Ermittlungen und Beobachtungen geht, derentwegen gerade der eine bestimmte Arzt benannt worden ist. Es muß also auf seine persönliche Qualifikation zu diesem Thema ankommen.
2. Einem Antrag auf nochmalige Anhörung des vom Kläger zu bestimmenden Arztes ist nur dann stattzugeben, wenn dies besondere Umstände gebieten und wenn die weitere Beweiserhebung im Rahmen einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung liegt.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.01.1979; Aktenzeichen L 4 V 76/78) |
SG Speyer (Entscheidung vom 20.04.1978; Aktenzeichen S 4 V 267/76) |
Tatbestand
Der Kläger möchte als Schädigungsfolgen iS des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine Coronarsklerose mit Angina pectoris anerkannt haben.
Nach erster bindender Ablehnung dieses Begehrens hat der Kläger die Erteilung eines neuen Bescheids erbeten. Auch damit hatte er keinen Erfolg. Im sozialgerichtlichen Verfahren beantragte er, den Leitenden Arzt der medizinischen Abteilung des S-Krankenhauses S, Dr H, gutachtlich zu hören (§ 109 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das Gutachten wurde indessen von dem Oberarzt derselben Abteilung dieses Krankenhauses, Dr W, unterzeichnet. Die Beteiligten erhielten von dem Gutachten Fotokopien. Auf Veranlassung des Vorsitzenden des erstinstanzlichen Gerichts unterschrieb nachträglich Dr H das Gutachten. Er vermerkte, daß er damit nach eigener Überprüfung und Überzeugung einverstanden sei.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, die Berufung das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. In der Sache selbst hielt das Berufungsgericht das Begehren des Klägers für unbegründet. Die Behandlung des vom Kläger nach § 109 SGG gestellten Beweisantrags war nach Ansicht des LSG nicht zu beanstanden. Im besonderen sei - so das Berufungsgericht - nichts dagegen einzuwenden, daß der vom Kläger benannte Arzt ihn nicht selbst untersucht habe. Außerdem habe der Kläger ein Rügerecht entsprechend § 202 SGG iVm § 295 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verwirkt, weil er eine Verletzung des § 109 SGG nicht bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem SG geltend gemacht habe.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Seines Erachtens hat Dr H das Gutachten des Dr W lediglich deshalb mit seiner Unterschrift vervollständigt, um die Erstattung der Kosten zu ermöglichen. Vom Inhalt des Gutachtens habe Dr H jedoch keine Kenntnis genommen. Es sei sonst unverständlich, daß Dr H ihm - dem Kläger gegenüber - später ausdrücklich seine Bereitschaft erklärt habe, zu den Fragen im Beweisbeschluß noch erst selbst Stellung zu nehmen. Auch habe er, der Kläger, sein Rügerecht nicht verloren. Es sei nämlich erst bei der Akteneinsicht in der Berufungsinstanz festgestellt worden, daß Dr H bei der Erstellung des Gutachtens nicht mitgewirkt habe. Bis zu diesem Zeitpunkt sei er davon ausgegangen, daß Dr H das Gutachten miterstellt und in vollem Umfange verantwortlich mitgetragen habe. Auf ein Gutachten des von ihm benannten Arztes müsse er gerade deshalb bestehen, weil Dr W Befunden, die bereits im Jahre 1945 im Krankenblatt festgehalten worden seien, nämlich Druckschmerzen im Bereich der Herzgegend, keine Bedeutung beigemessen habe.
Der Kläger beantragt,
die angefochtenen Urteile sowie den Bescheid
vom 11. Juni 1975 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 5. August 1976
aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen,
als weitere Schädigungsfolge "Coronarsklerose mit
Angina pectoris" anzuerkennen und ihm ab
1. September 1974 Rente nach der hieraus
resultierenden MdE zu zahlen;
hilfsweise: das Berufungsurteil aufzuheben und
den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
Die Versorgungsverwaltung hat ohne Rechtsirrtum entschieden, daß dem Kläger ein Zugunstenbescheid über die Anerkennung des geltend gemachten Herzleidens nicht zu erteilen sei. Der bindende Bescheid vom 22. Mai 1957 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. September 1957 ist nicht unrichtig (§ 40 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung -KOVVfg-; Nr 2 der Verwaltungsvorschrift zu § 40 KOVVfG). Das LSG hat die der tatrichterlichen Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht dadurch überschritten, daß es trotz des vorliegenden Krankenblatts aus dem Jahre 1945 die Wahrscheinlichkeit zwischen Einflüssen des Wehrdienstes und dem Herzleiden verneint hat (§ 1 Abs 1 und Abs 3 Satz 1 BVG). Der Kläger beanstandet zu Unrecht, daß dem Inhalt des Krankenblatts keine Bedeutung beigemessen worden sei. In dieser Unterlage - meint er - sei festgehalten, daß er bereits damals über Druckschmerzen in der Herzgegend geklagt habe. Er will damit den Vorwurf erheben, das Gericht habe die Beweismittel nicht richtig und nicht vollständig gewürdigt. Dem ist indessen nicht beizupflichten. Das Berufungsgericht hat sich mit dem Inhalt des Krankenblatts sehr wohl auseinandergesetzt. Aufgrund zahlreicher Untersuchungsbefunde und ärztlicher Unterlagen hat es die Vorstellung gewinnen können, daß damals noch keine Herzerkrankung bestanden habe. Dies hat das Berufungsgericht in seinem Urteil dargelegt. Entgegen der Behauptung des Klägers enthält das Gutachten vom 6. Dezember 1977 nicht die Aussage, "daß im vorliegenden Falle die Einflüsse des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft wahrscheinlich zur Entstehung der Coronarsklerose mit Angina pectoris beigetragen haben". Es heißt vielmehr auf Seite 12 des Gutachtens, daß diese Einflüsse "wahrscheinlich zur Entstehung der Coronararteriensklerose beigetragen haben können". Es wird also lediglich von der Möglichkeit der Verursachung gesprochen. Ein Fehler in der Beweiswürdigung ist insoweit nicht zu erkennen.
Die angefochtene Entscheidung steht im Einklang mit § 109 SGG. Das beantragte Gutachten des Dr H ist eingeholt worden. § 109 SGG räumt dem Versorgungsberechtigten das Recht ein, den Arzt seines Vertrauens und seiner Wahl zu den entscheidungserheblichen Fragen auf Veranlassung des Gerichts gutachtlich zu hören. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es jedoch wegen der Entwicklung der medizinisch-technischen Wissenschaft nicht in jedem Falle erforderlich, daß der Arzt den Antragsteller persönlich untersucht und selbst das Gutachten anfertigt (BSGE 8, 72, 75). Der Sachverständige kann ohne besonderen Anlaß auf technische Hilfsmittel und ärztliche Hilfskräfte bei der Befunderhebung zurückgreifen. Er darf das Gutachten von anderen Ärzten anfertigen lassen und nach Überprüfung das gewonnene Ergebnis zu seinem eigenen machen (BSG SozR Nr 7 zu § 109 SGG; BSGE 8, 72, 77; abweichend Friederichs, Persönliche Gutachterpflicht, Hilfskraft und Gutachtenerläuterung, Medizinischer Sachverständiger 1979, 77, 78, SGb 1979, 297). Eine persönliche Untersuchung durch den Sachverständigen ist unumgänglich, wenn es um medizinische Ermittlungen und Beobachtungen geht, derentwegen gerade der eine bestimmte Arzt benannt worden ist. Es muß also auf seine persönliche Qualifikation zu diesem Thema ankommen. In dieser Beziehung ist aber die Würdigung des LSG, daß eine persönliche Untersuchung des Klägers durch Dr H nicht notwendig gewesen sei, nicht zu beanstanden. Das Gegenteil hat die Revision nicht dargetan.
Das Berufungsgericht konnte sich von der Ansicht leiten lassen, Dr H habe das von Dr W angefertigte und zunächst nur von diesem unterzeichnete Gutachten selbstverantwortlich übernommen. Es reicht aus, daß der Sachverständige das Gutachten nach Überprüfung als das seinige erklärt und damit seine persönliche Meinung und Verantwortlichkeit zum Ausdruck bringt (BSG SozR Nr 7 zu § 109 SGG; BSGE 8, 72, 75 f).
Es braucht nicht entschieden zu werden, ob § 295 Abs 1, 2. Alternative ZPO iVm § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet (bejahend ohne Begründung: BSGE 1, 126, 131; 3, 284, 285; 4, 60, 64; BSG SozR Nr 6 zu § 112 SGG; zustimmend die Literatur: vgl Krasney, Die Anwendbarkeit zivilprozessualer Vorschriften im sozialgerichtlichen Verfahren, Diss 1961, 120 mwN). Aus den dargelegten Gründen ist anzunehmen, daß das beantragte Gutachten des Dr H gem § 109 SGG eingeholt worden ist. Es liegt somit kein Verfahrensversäumnis vor, das durch Schweigen hätte geheilt werden können.
Eine weitere Klärung erübrigt sich auch in der Richtung, ob der Vortrag des Klägers vor dem LSG den Antrag enthalten hat, hilfsweise ein weiteres Gutachten des Dr H gem § 109 SGG anzufordern (zu den Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Antrags: BSG SozR 1500 § 109 Nr 1 S 2; SozR Nrn 5, 8, 9, 26 und 41 zu § 109 SGG). Da der erste Antrag verbraucht war, konnte das Gericht davon absehen, nochmals Dr H mit einem Gutachten zu beauftragen. Einem Antrag auf nochmalige Anhörung des vom Kläger zu bestimmenden Arztes ist nur dann stattzugeben, wenn dies besondere Umstände gebieten und wenn die weitere Beweiserhebung im Rahmen einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung liegt. Diese Voraussetzung hat das LSG zu Recht verneint. In dem vom Dr H anerkannten Gutachten sind die Beweisfragen erschöpfend beantwortet worden. Der Kläger hat keine neuen medizinischen und tatsächlichen Umstände aufgezeigt, die eine nochmalige Befragung dieses Sachverständigen durch das Gericht erfordern könnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen