Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugunstenbescheid. Verwaltungsermessen. rückwirkende Leistungsgewährung. Durchbrechung der 4-Jahresgrenze
Orientierungssatz
1. KOVVfG § 40 gebietet nicht, den Berechtigten so zu stellen, als ob von Anfang an eine rechtmäßige Entscheidung getroffen worden wäre (vgl BSG vom 1977-09-22 10 RV 85/76 = SozR 3900 § 40 Nr 8). Der Berichtigungsbescheid tritt also nicht schlechthin an die Stelle der Vorentscheidungen und ersetzt nicht deren Wirksamkeit in zeitlicher Hinsicht. Vielmehr enthält die der Verwaltung erteilte Berichtigungsbefugnis die Ermächtigung, in dem Konflikt zwischen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens einen Ausgleich zu finden, ob und ggf für welchen Zeitraum die Bindung der nunmehr für "unrichtig" erkannten Bescheide auch für die Vergangenheit beseitigt und der Zugunstenentscheidung Rückwirkung beigelegt werden soll.
2. Eine Ausübung des Ermessens in Anlehnung an die Verwaltungsvorschrift Nr 8 zu KOVVfG § 40 hält sich innerhalb der vom Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde eingeräumten Befugnis und kann nicht ohne weiteres als eine Überschreitung des eingeräumten Ermessens angesehen werden (vgl BSG vom 1968-06-11 10 RV 906/66 = BVBl 1969, 26).
3. Hat die Verwaltung es von Anfang an in auffallender Weise an einer für sie erkennbaren sachangemessenen Sorgfalt fehlen lassen, so kann die Berufung auf den Eintritt der Rechtskraft oder der Bindungswirkung, selbst wenn sie weit mehr als vier Jahre in die Vergangenheit zurückreicht, als eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte erscheinen (vgl BSG vom 1976-02-04 9 RV 564/74 = SozR 3900 § 40 Nr 5). Für die Annahme einer solchen krassen Unbilligkeit genügt aber nicht der Maßstab des rückschauenden Betrachters. Vielmehr hat es allein darauf anzukommen, daß das grobe Fehlverhalten der Verwaltung von Anfang an gegeben war und ihr deshalb die unredliche Ausnutzung einer formalen Rechtsposition vorzuwerfen ist.
4. Die Versorgungsverwaltung muß sich das grobe Fehlverhalten der begutachtenden Ärzte zurechnen lassen.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs 1 Fassung: 1960-06-27; KOVVfGVwV § 40 Nr 8
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.01.1979; Aktenzeichen L 12 V 1325/77) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 14.02.1977; Aktenzeichen S 2 V 2048/74) |
Tatbestand
Der Kläger, der vom Beklagten im Wege einer Zugunstenentscheidung (§ 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung -KOVVfG-) vier Jahre rückwirkend höhere Versorgungsrente und Schwerstbeschädigtenzulage zugestanden erhalten hatte, begehrt, diesen Leistungen weitergehende Rückwirkung beizumessen.
Der Kläger hatte ua eine Kopfverwundung mit intracraniell gelegenen Granatsplittern erlitten. Er bezog zunächst wegen der anerkannten Schädigungsfolgen "Hirnverletzung mit Hirnleistungsschwäche und Bewegungsstörung im rechten Handgelenk, Schwäche der rechten Hand" Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH. Das im Jahre 1952 in Auftrag gegebene Gutachten der Universitäts-Nervenklinik T ergab ua, daß die bisher gezeigte pseudodemente und demonstrative Verhaltensweise sich zwanglos als Reaktionsweise auf einem organisch geschädigten Hintergrund erklären ließ. Die im März 1959 beantragte Neufeststellung blieb erfolglos. Die mit der Begutachtung betrauten Ärzte des Neurologischen und Hirnverletzten-Versorgungskrankenhauses (VKH) T meinten, nach dem abgeleiteten Elektroenzephalogramm (EEG) sei eine temporale Epilepsie (Schläfenlappenepilepsie) denkbar - der Kläger hatte anamnestisch von anfallsartigen Zuständen berichtet -, jedoch sei beim Vergleich der früheren Befunde eine wesentliche Änderung nicht eingetreten. Nach einem von der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) anerkannten Arbeitsunfall (Teilbruch des ersten Lendenwirbelkörpers), der sich infolge eines Schwindelanfalles ereignet haben soll, machte der Kläger im Dezember 1960 erneut Leidensverschlimmerung geltend. Das wiederum zur Begutachtung hinzugezogene VKH T führte in dem im Jahre 1961 erstellten Gutachten aus, nach der Schilderung des Klägers und dessen Ehefrau über anfallsartige Erscheinungen seien große cerebrale Krampfanfälle auszuschließen. Jedoch könne es sich um epileptische Äquivalente, aber auch - bei der Neigung zu demonstrativem und pseudodementem Verhalten - um psychogene Ausnahmezustände handeln. Um insoweit zu einer ausreichenden Beurteilung zu gelangen, sei eine weitere nervenärztliche Beobachtung angezeigt. - Eine solche ist nicht durchgeführt worden. - Wegen eines weiteren Fortschreitens des Persönlichkeitsabbaues gewährte das Versorgungsamt jedoch eine um 10 vH höhere Versorgungsrente und billigte außerdem wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins ab Dezember 1960 Versorgungsrente nach einer MdE um 90 vH zu.
Im Dezember 1972 machte der Kläger eine weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geltend. Die im VKH T durchgeführten Untersuchungen bezeugten nunmehr die Angaben des Klägers über auftretende Krampfanfälle. Zudem konnte dort ein solcher beobachtet werden. Die Gutachter schlugen eine Anhebung der rein medizinischen MdE von 80 auf 100 vH vor. Auf Anfrage der Versorgungsbehörde teilte der Chefarzt des VKH T mit, die heutige Anfallsbeschreibung bestätige eine schon aus den Unterlagen des Erstgutachtens vom Januar 1960 wahrscheinlich zu machende temporale Epilepsie. Deshalb sei rückwirkend von 1960 an eine schädigungsbedingte MdE um 100 vH gerechtfertigt. Daraufhin erkannte das Versorgungsamt mit Zugunstenbescheid vom 3. Oktober 1973 die Gesundheitsstörungen "1. Hirnleistungsschwäche, Wesensänderung und Anfälle nach Hirnverletzung, 2. Bewegungsstörungen im rechten Handgelenk mit Schwäche der rechten Hand", als Schädigungsfolgen an und gewährte rückwirkend ab 1. Januar 1968 Versorgungsrente wegen Erwerbsunfähigkeit sowie Pflegezulage nach Stufe I. Dem dagegen eingelegten Widerspruch blieb der Erfolg versagt (Widerspruchsbescheid vom 27. November 1974).
Nach Klageerhebung gestand das Versorgungsamt dem Kläger mit Bescheid vom 26. April 1976 auch Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe I rückwirkend ab 1. Januar 1968 zu und bezeichnete die Schädigungsfolgen wie folgt neu: "1. Hirnleistungsschwäche, Wesensänderung, zentralvegetative Störungen und Anfälle nach Hirnverletzung mit intracraniell gelegenen Splittern, 2. Bewegungsstörungen im rechten Handgelenk mit Schwäche der rechten Hand". Grundlage für diese Entscheidung war das vom Sozialgericht (SG) eingeholte Gutachten des Chefarztes des VKH T. Der Sachverständige vertrat ua die Auffassung, nach der für eine Epilepsie typischen Anfallschilderung des Klägers sowie dem EEG-Befund hätte schon anläßlich der Erstuntersuchung im VKH T die Diagnose einer Temporallappen-Epilepsie gestellt werden müssen. Zudem hätten die Angaben der Ehefrau deutliche Hinweise gegeben. Temporale Dämmerattacken ließen sich von einem Laien so nicht beschreiben, wenn er sie nicht selbst erlebt habe. In der Zeit, in der die fraglichen Gutachten erstellt worden wären, hätte jedem in der Neurologie tätigen Nervenarzt das Problem der Temporallappen-Epilepsie sowie die Begriffe "Dämmerattacken" und "psychomotorische Epilepsie" bekannt sein müssen. Seinerzeit sei über dieses Krankheitsbild schon eine umfangreiche Monographie vorhanden gewesen. Infolgedessen habe es sich bei der früheren MdE-Bewertung um eine grobe Fehlentscheidung gehandelt. - Diesen gutachterlichen Schlußfolgerungen widersprach der Beklagte unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes beim Landesversorgungsamt Baden-Württemberg und machte zusätzlich die Einrede der Verjährung geltend. Die temporalen Dämmerattacken - so der Ärzte Dienst - böten nach Mumenthaler die mannigfachsten klinischen Erscheinungsbilder sowie die größten diagnostischen Schwierigkeiten. Zudem habe die demonstrative Verhaltensweise des Klägers die Diagnose erschwert.
Das SG hat den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide sowie des mitangefochtenen Bescheides vom 26. April 1976 verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen. Es hat die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt, die Ablehnung der im März 1959 und Dezember 1960 gestellten Versorgungsanträge sei von Anfang an offensichtlich unrichtig gewesen. Die Berufung des Beklagten auf die Bindungswirkung bedeute eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte. Nach dem Sachverständigengutachten hätte die Diagnose "temporale Epilepsie" bereits anläßlich der ersten Untersuchung im VKH T bei sachgerechter Begutachtung gesichert sein können und müssen. Die Ehefrau des Klägers sowie dessen Hausarzt Dr K, der als sachverständiger Zeuge über anfallsartige Störungen seit 1953 und über einen selbst beobachteten Anfall im Dezember 1960 berichtet habe, hätten gehört werden müssen. Ebenfalls hätte man der 1961 ausgestellten Bescheinigung des Dr K sowie der Beschwerdenschilderung der Ehefrau des Klägers anläßlich der zweiten Begutachtung im VKH T nicht die gebührende Beachtung geschenkt. Schließlich sei die im VKH T selbst für notwendig erachtete weitere nervenärztliche Beobachtung unterblieben. Demzufolge seien bei den Begutachtungen gravierende Fehler unterlaufen. Bei der Besonderheit dieses Falles dürfe die Rückwirkung der Versorgungsleistungen nicht auf den 1. Januar 1968 begrenzt werden.
Der Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung des § 40 KOVVfG. Die hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften, wonach die Rückwirkung nur ausnahmsweise anzuordnen sei und in der Regel nicht über einen Zeitraum von vier Jahren hinausgehen dürfe, stünden mit der gesetzlichen Regelung im Einklang. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt ausgesprochen. Nach dem Sachverhalt liege in der Berufung des Beklagten auf die Bindungswirkung für den Kläger keine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte vor. Demgemäß sei es nicht ermessensmißbräuchlich, wenn die Versorgungsverwaltung einer weitergehenden Rückwirkung mit der Einrede der Verjährung begegnet sei. Die seinerzeitigen Untersuchungen seien nach den damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen durchführt worden. Wenn seinerzeit sowohl eine Epilepsie wie auch ein nichtschädigungsbedingter psychogener Ausnahmezustand in die diagnostischen Erwägungen mit einbezogen worden seien, so beruhe dies darauf, daß bei den früheren Untersuchungen im Gegensatz zu der im Jahre 1973 erfolgten kein Anfallsgeschehen habe beobachtet werden können. Außerdem seien die Mannigfaltigkeit der klinischen Erscheinungsbilder temporaler Dämmerattacken sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten in der Diagnosestellung zu berücksichtigen. Somit könne von einem arglistigen Verhalten der Versorgungsbehörde nicht ausgegangen werden.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des SG und LSG aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision ist der Erfolg zu versagen.
Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, daß die mit den angefochtenen Zugunstenentscheidungen bewirkte Beschränkung der Rückwirkung auf vier Kalenderjahre mit der Folge, daß die bewilligten Versorgungsleistungen erst ab 1. Januar 1968 gewährt werden, ermessensfehlerhaft ist. Die Versorgungsverwaltung wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes zu entscheiden haben (§ 131 Abs 3 SGG; BSGE 7, 46, 5c = BSG SozR Nr 32 zu § 54 SGG), ob die gewährten Versorgungsleistungen nicht schon früher und ausgehend von dem erstmalig gestellten Versorgungsantrag im März 1959 zuzuerkennen sind.
Die hier zur Anwendung gelangte Zugunstenregelung des § 40 KOVVfG besagt nichts darüber, ob und inwieweit ihr Bedeutung für die Vergangenheit beizumessen ist. Sie bestimmt lediglich, daß zugunsten eines Berechtigten jederzeit ein neuer Bescheid erteilt werden "kann". Dadurch wird weder das Recht der Behörde eingeschränkt, frei darüber zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die neue Regelung gelten soll, noch erwächst daraus die Verpflichtung, von einem bestimmten Zeitpunkt an die günstigere Regelung zu treffen. Jedenfalls gebietet § 40 KOVVfG nicht, den Berechtigten so zu stellen, als ob von Anfang an eine rechtmäßige Entscheidung getroffen worden wäre (BSG SozR 3900 § 40 Nr 8). Der Berichtigungsbescheid tritt also nicht schlechthin an die Stelle der Vorentscheidungen und ersetzt nicht deren Wirksamkeit in zeitlicher Hinsicht. Vielmehr enthält die der Verwaltung erteilte Berichtigungsbefugnis die Ermächtigung, in dem Konflikt zwischen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens einen Ausgleich zu finden, ob und gegebenenfalls für welchen Zeitraum die Bindung der nunmehr für "unrichtig" erkannten Bescheide auch für die Vergangenheit beseitigt und der Zugunstenentscheidung Rückwirkung beigelegt werden soll. Diese Entschließung der Verwaltung hat das Gericht nur daraufhin zu prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind oder ob von dem Ermessen ein zweckwidriger Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG).
Bei der nunmehrigen Ermessensüberprüfung ist das mit der Neuregelung des Versorgungsrechtsverhältnisses bewirkte Entgegenkommen der Verwaltung, der Zugunstenentscheidung vier Jahre Rückwirkung beizumessen, beachtenswert. Nach den Verwaltungsvorschriften (VV) Nr 8 zu § 40 KOVVfG ist grundsätzlich an der Bindungswirkung oder Rechtskraft festzuhalten. Dies bedeutet, daß im allgemeinen auf den Monat abzustellen ist, in dem der Antrag auf einen günstigeren Bescheid gestellt worden ist. Nur ausnahmsweise, nämlich wenn dies nach Lage des Falles geboten erscheint, ist dem Bescheid Rückwirkung beizugeben, die jedoch "in der Regel nicht über einen Zeitraum von vier Jahren hinausgehen soll". Dieser vorgezeichnete Rahmen, der zurückgerechnet auf den Beginn des Jahres der Antragstellung abstellt, ist mit der Zuerkennung der Versorgungsleistungen ab 1. Januar 1968 beachtet worden. Eine solche Ausübung des Ermessens in Anlehnung an die VV Nr 8 zu § 40 KOVVfG hält sich innerhalb der vom Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde eingeräumten Befugnis und kann nicht ohne weiteres als eine Überschreitung des eingeräumten Ermessens angesehen werden (BSG BVBl 1969, 26).
Der Verwaltung ist es grundsätzlich nicht verwehrt, unter Voranstellung des Gebots der Rechtssicherheit an der Bindungswirkung festzuhalten (BSGE 19, 21, 13; 26, 146, 151; BSG BVBl 1969, 129). Im Gegenteil liegt es sogar nahe, die Neugestaltung des Versorgungsrechtsverhältnisses auf Gegenwart und Zukunft zu beschränken (BSGE 40, 120, 121). Von diesem Grundgedanken ist der Gesetzgeber in neueren Gesetzen ausgegangen (vgl § 40 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - -SGB 1- vom 11. Dezember 1975, BGBl I S 3015, iVm § 19 des Sozialgesetzbuches, Viertes Buch -SGB 4- vom 23. Dezember 1976, BGBl I S 3845; § 89 Abs 3 des Bundesversorgungsgesetzes -BVG- idF des HStruktG-AFG vom 18. Dezember 1975, BGBl I S 3113), daß Ermessensleistungen im allgemeinen nicht rückwirkend zu gewähren sind (BSG SozR 3900 § 40 Nr 8). Eine gegenteilige Auffassung könnte auch nicht auf § 40 Abs 2 und § 42 KOVVfG gestützt werden. Abgesehen davon, daß § 40 Abs 2 KOVVfG kein Unterfall des Abs 1 ist (BSGE 15, 137, 140 = SozR Nr 4 zu § 40 KOVVfG), handelt es sich in beiden Fällen gerade nicht um Ermessensleistungen. Aber auch § 41 KOVVfG, der eine Berichtigung zuungunsten des Berechtigten ermöglicht, trifft eine andere Fallgestaltung. Zudem legt diese Vorschrift, wie das Wort "kann" verdeutlicht, keine allgemeine Verpflichtung auf, in jedem Fall einen gänzlich rückwirkenden Zuungunstenbescheid zu erlassen (BSG SozR Nr 10 zu § 40 KOVVfG = BSGE 26, 146). Überdies sind die sich aus der Berichtigung ergebenden Folgen in § 47 f KOVVfG geregelt. Sie gewähren dem Versorgungsberechtigten bei der Abwicklung der gegen ihn gerichteten Rückerstattungsansprüche einen zusätzlichen Rechtsschutz.
Der in der genannten Verwaltungsvorschrift bezeichnete Vierjahreszeitraum ist in der Parallele zur regelmäßigen Verjährung zu erblicken (BSG BVBl 1969, 118). Rentenansprüche nach dem BVG verjähren in vier Jahren (früher in entsprechender Anwendung des § 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-, BSGE 19, 88; BVBl 1964, 115, 116; nunmehr § 19 SGB 4 iVm § 45 sowie Art II § 17 SGB 1). Folglich ist es sinnvoll die Berichtigung grundsätzlich in Anlehnung an den Vierjahresabschnitt - hier: vom 1. Januar 1968 an - zu beschränken (BSG SozR 3900 § 40 KOVVfG Nr 5).
Nach der Rechtsprechung des BSG (BVBl 1969, 66) findet das Verwaltungsermessen in bezug auf das zeitliche Ausmaß dort seine rechtlichen Schranken, wo auch der Verjährungseinrede der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht. So wäre es, wenn die Verwaltungsbehörde den Kläger arglistig von der rechtzeitigen Wahrnehmung seiner Rechte abgehalten hätte. Davon kann, wie der erkennende Senat in einem ähnlich gelagerten Fall ausgeführt hat (BSG SozR 3900 § 40 Nr 5), nicht ausgegangen werden, wenn die Verwaltung lediglich die ablehnende unzutreffende Entscheidung wiederholt oder sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht beruft. Andererseits liegt darin, daß die Verwaltung glaubte, die Einrede der Verjährung geltend machen zu können und eine entsprechende Erklärung abgab, die Ausübung des Verwaltungsermessens. Denn damit gab die Verwaltungsbehörde kund, daß sie der Zugunstenentscheidung keine weitergehende Rückwirkung beimessen wollte. Dieses Verwaltungsermessen wird durch seine rechtsethische und soziale Funktion bestimmt und begrenzt (BSGE 26, 149). Sein Spielraum ist um so enger, je schärfer der Konflikt im Widerstreit von materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ausfällt und je größer der Unrechtsgehalt des Verhaltens der Verwaltung im Zusammenhang mit der früheren ablehnenden Entscheidung ist (BSG KOV 1970, 61, 62). Das kann dazu führen, daß für ein abwägendes Ermessen, "von wann an rückwirkend Leistungen zu gewähren sind", kein Raum mehr ist, vielmehr die der materiellen Rechtslage entgegenstehende frühere Entscheidungen über den Zeitraum von vier Jahren hinaus zurückgenommen werden muß. Indes sind diese Voraussetzungen nicht schon dann gegeben, wenn die Verwaltung zwar fehlerhaft, aber nicht schuldhaft zum Nachteil des einzelnen gehandelt hat (BSG in BVBl 1968, 110; 1969, 66; 1970, 128, 131). Denn die sachliche oder rechtliche Unrichtigkeit ist gerade das Kriterium für eine zugunsten des Berechtigten zu treffende Entscheidung. Nicht anders ist es, wenn sich der Verwaltungsakt als von Anfang an objektiv unzutreffend herausstellt und dies auch nachträglich als offensichtlich zu erkennen ist. Treten jedoch zur Kenntnis der Fehlerhaftigkeit besondere Umstände hinzu, zB wenn die Verwaltung es von Anfang an in auffallender Weise an einer für sie erkennbaren sachangemessenen Sorgfalt hat fehlen lassen, so kann die Berufung auf den Eintritt der Rechtskraft oder der Bindungswirkung, selbst wenn sie weit mehr als vier Jahre in die Vergangenheit zurückreicht, als eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widerstreitende Härte erscheinen (Urteil des erkennenden Senats BSG SozR 3900 § 40 Nr 5). Für die Annahme einer solchen krassen Unbilligkeit genügt aber nicht der Maßstab des rückschauenden Betrachters. Vielmehr hat es allein darauf anzukommen, daß das grobe Fehlverhalten der Verwaltung von Anfang an gegeben war und ihr deshalb die unredliche Ausnutzung einer formalen Rechtsposition vorzuwerfen ist.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß es bei Würdigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles unvertretbar ist, dem Zugunstenbescheid lediglich für vier Kalenderjahre Rückwirkung beizumessen. Dem Einwand der Revision, die in den Jahren 1960 und 1961 mit der Begutachtung befaßten Versorgungsärzte hätten die Untersuchung nach den seinerzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen durchgeführt und die Diagnosestellung darauf abgestellt, ist nach den Feststellungen des LSG nicht zu folgen. Das Berufungsgericht hat aus den Aktenunterlagen folgern können, daß den Ärzten des VKH T in bezug auf Inhalt, Umfang und Gründlichkeit der vorzunehmenden medizinischen Nachforschungen schwerwiegende Fehler anzulasten sind. Allein deswegen, so meint das LSG zu Recht, ist die Diagnose einer "temporalen Epilepsie" nicht schon bei der ersten versorgungsärztlichen Untersuchung gestellt worden. Richtig ist zwar, daß die Versorgungsärzte damals ein Anfallsgeschehen nicht beobachteten. Darauf hat es aber nicht anzukommen. Denn sowohl die anamnestischen Angaben des Klägers wie auch das abgeleitete EEG, das an eine temporale Epilepsie "denken ließ", gaben so deutliche Hinweise, daß eine weitere Sachaufklärung zwingend geboten erscheinen mußte. Demgemäß hätte es, wie das LSG richtig erkannt hat, nahegelegen, den Hausarzt des Klägers Dr K zu hören, der im Berufungsverfahren als sachverständiger Zeuge von schon seit 1953 bestehenden anfallsartigen Zuständen und von einem im Dezember 1960 beobachteten Anfall berichtet hat.
Das LSG konnte auch, dem Sachverständigen folgend, davon ausgehen, daß es dem seinerzeitigen medizinischen Wissensstand nicht entsprochen hatte, wenn die begutachtenden Ärzte im Jahre 1961 trotz der Anfallsschilderung der Ehefrau des Klägers und der ärztlichen Bescheinigung Dr K lediglich eine epileptische Äquivalente in Erwägung gezogen, aber auch wegen der sonstigen Neigung zu demonstrativen und pseudodementen Verhaltensweisen psychogene Ausnahmezustände für mögliche gehalten hatten. Eine solche Annahme war um so weniger gerechtfertigt, als die Universitäts-Nervenklinik T bereits in ihrem Gutachten vom 21. Oktober 1952 darauf verwiesen hatte, daß das demonstrative und pseudodemente Verhalten sich zwanglos als Reaktionsweise auf einem organisch geschädigten Hintergrund erklären ließ. Obwohl die Versorgungs-Gutachter zur Ausräumung der diagnostischen Zweifel eine weitere nervenärztliche Beobachtung für erforderlich gehalten hatten, ist eine solche niemals durchgeführt worden. Sonach beruht die fehlerhafte Diagnosestellung der Versorgungsärzte nicht, wie der Beklagte meint, auf der Mannigfaltigkeit klinischer Erscheinungsbilder temporaler Dämmerattacken, die eine Einordnung des Krankheitsbildes erschwerten. Vielmehr ist hierfür, wie das LSG richtig anführt, allein das grobe Fehlverhalten der begutachtenden Ärzte verantwortlich. Dies muß sich die Verwaltung zurechnen lassen.
Diese aufgezeigten schwerwiegenden Fehler bei der konkreten Entscheidungsfindung haben zur Folge, daß die Berufung der Verwaltung auf die partielle Rechtsbindung als unredliche Ausnutzung einer formalen Rechtsposition zu werten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen