Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgung für abgelaufene Zeiträume. Anerkennung einer Gesundheitsstörung. Ausschluß der Berufung nach § 148 Nr 2 SGG

 

Orientierungssatz

1. Hat das Sozialgericht den Versorgungsträger verurteilt, Versorgungsrente entsprechend einer abgestuften MdE für einen bestimmten Zeitraum zu gewähren und ihn darüber hinaus verpflichtet, eine bestimmte Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anzuerkennen, so kann die Berufung nicht mit der Begründung verworfen werden, sie betreffe Versorgung für einen bereits abgelaufenen Zeitraum, dh für die Zeit vor der Berufung, und sei daher nach § 148 Nr 2 SGG unzulässig.

2. Die Anerkennung der Gesundheitsstörung ist nicht zeitlich begrenzt. Sie bildet die rechtliche Grundlage für andere Versorgungsansprüche in der Zeit nach dem Ende der Rentengewährung, insbesondere auf Heilbehandlung wegen der Schädigungsfolgen (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 10 Abs 1 BVG). Ebenso wie ein selbständiger Verfügungssatz, daß eine bestimmte Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt wird, mit der Rechtsverbindlichkeit des Verwaltungsaktes (vgl BSG vom 22.6.1967 9 RV 188/66 = BSGE 27, 22 = SozR Nr 59 zu § 77 SGG) wirkt ein Urteil entsprechenden Inhaltes mit der Rechtskraft zeitlich unbegrenzt verbindlich, wenn später wegen derselben Gesundheitsschäden eine Heilbehandlung als Versorgungsleistung begehrt wird (vgl BSG vom 14.11.1961 9 RV 1434/59 = SozR Nr 1 zu § 10 BVG).

 

Normenkette

OEG § 1 Abs 1 S 1; BVG § 10 Abs 1; SGG § 148 Nr 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 05.01.1983; Aktenzeichen L 10 Vg 4/81)

SG München (Entscheidung vom 06.08.1981; Aktenzeichen S 28 Vg 546/80)

 

Tatbestand

Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers, ihm Versorgung wegen der Folgen einer im Dezember 1977 erlittenen Gewalttat nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu gewähren, nach § 66 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - mit der Begründung ab, daß der Kläger nicht ausreichend bei der Aufklärung mitgewirkt habe und daß ein grundloser Angriff auf ihn nicht erwiesen sei (Bescheid vom 29. Januar 1979, Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1980). Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, beim Kläger verschiedene Störungen am linken Arm als Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen und ihm hierfür Rente entsprechend einer abgestuften Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 1. März 1978 bis Ende Februar 1981 zu gewähren (Urteil vom 6. August 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen (Urteil vom 5. Januar 1983): Sie betreffe Versorgung für einen bereits abgelaufenen Zeitraum, dh für die Zeit vor der Berufung, und sei daher nach § 148 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Unerheblich sei es, daß allein streitig sei, ob der Kläger einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff (§ 1 OEG) erlitten habe, und daß die Rechtskraft der darüber ergangenen Entscheidung später binden könnte. Wenn etwas anderes beim Streit um Beginn oder Ende der Versorgung gälte, so sei dies nicht auf Fälle der gegenwärtigen Art zu übertragen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Schädigung und eingetretener Gesundheitsstörung, der nach § 150 Nr 3 SGG auch im Berufungsverfahren zu überprüfen sei, sei hier nicht streitig.

Der Beklagte hat die - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene - Revision eingelegt. Nach seiner Ansicht hat das SG über einen Rentenanspruch für einen bestimmten Zeitraum hinaus darüber entschieden, daß dem Kläger dem Grunde nach Versorgung zustehe. Diese Anerkennung wirke auch für die Zukunft und habe daher die Berufung eröffnet.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts war das Rechtsmittel nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 OEG iVm § 148 Nr 2 SGG ausgeschlossen und deswegen nach § 158 Abs 1 SGG als unzulässig zu verwerfen (BSGE 1, 283, 286 f). Die Berufung betraf nicht "nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume", dh für die Zeit vor der Einlegung des Rechtsmittels (30. November 1981), so daß die Berufung selbst dann unzulässig gewesen sein könnte, wenn sich die Möglichkeit einer Bindung der Verwaltung für die Zukunft ergäbe (BSG SozR Nr 28 zu § 148 SGG). Das LSG hat zwar ua den Beklagten verurteilt, dem Kläger Versorgungsrente bloß bis Ende Februar 1981 zu gewähren. Außerdem hat es ihn aber verpflichtet, bestimmte Gesundheitsstörungen am linken Arm als Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen (§ 1 OEG iVm § 9 ff Bundesversorgungsgesetz -BVG-, § 54 Abs 1 und 4 SGG; BSGE 9, 80, 82 ff). Vor allem und gerade gegen diese Verurteilung richtete sich die Berufung. Diese "Anerkennung" ist nicht zeitlich begrenzt. Sie bildet die rechtliche Grundlage für andere Versorgungsansprüche in der Zeit nach dem Ende der Rentengewährung, insbesondere auf Heilbehandlung wegen der Schädigungsfolgen (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 10 Abs 1 BVG). Ebenso wie ein selbständiger Verfügungssatz, daß eine bestimmte Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt wird, mit der Rechtsverbindlichkeit des Verwaltungsaktes (BSGE 27, 22 = SozR Nr 59 zu § 77 SGG) wirkt ein Urteil entsprechenden Inhaltes mit der Rechtskraft zeitlich unbegrenzt verbindlich, wenn später wegen derselben Gesundheitsschäden eine Heilbehandlung als Versorgungsleistung begehrt wird (§§ 77, 141 SGG; BSGE 15, 22, 23 f = SozR Nr 1 zu § 10 BVG).

Da die Berufung nicht nach § 148 Nr 2 SGG ausgeschlossen war, konnte es nicht darauf ankommen, ob sie "ungeachtet" eines solchen Tatbestandes nach § 150 Nr 3 SGG wegen eines Streites um den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer entschädigungsrechtlich geschützten "Schädigung" zulässig wäre. Die Beteiligten streiten vor allem über die Zuordnung einer Körperschädigung ("gesundheitlichen Schädigung") zu einem entschädigungsrechtlich erheblichen Tatbestand (§ 1 OEG entsprechend § 1 BVG) und damit über die erste Anspruchsvoraussetzung, die von jener weiteren Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen "Schädigung" und "gesundheitlicher Folge" ("Schädigungsfolge") nicht umfaßt wird (BSGE 7, 180 f = SozR Nr 96 zu § 162 SGG). Jener Streitpunkt ist jedoch nicht maßgebend dafür, was die Berufung "betrifft". Das SG hat über diese beiden verschiedenen Elemente des Versorgungsanspruches positiv entschieden. Diese "Anerkennung" insgesamt bestimmte den Berufungsgegenstand, mag auch in erster Linie das Berufungsgericht - wie die erste Instanz - darüber zu befinden haben, ob der Kläger durch einen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG verletzt wurde, und erst nach der Annahme dieser Anspruchsvoraussetzung zur weiteren Prüfung eines Ursachenzusammenhanges iS des § 150 Nr 3 SGG gelangen.

Diese Sachentscheidung hat das LSG nunmehr zu treffen. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655934

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