Leitsatz (amtlich)
1. Die Zeit, in der ein vor 1915 geborener Versicherter vor Einführung der Arbeitsdienstpflicht Arbeitsdienst geleistet hat, ist keine Ersatzzeit (Anschluß an BSG 1969-10-29 12 RJ 214/69 = SozR Nr 41 zu § 1251 RVO, BSG 1974-03-01 12 RJ 324/73 = SozR 2200 § 1251 Nr 3 und BSG 1976-03-31 1 RA 59/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 19).
2. Eine gesetzliche Dienstpflicht iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) hat nicht bestanden, wenn die Ableistung des Dienstes nicht unmittelbar verlangt und erzwungen werden konnte; ein nur mittelbarer Zwang - Ableistung des Dienstes als Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums - hat eine gesetzliche Dienstpflicht nicht begründet.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20, § 6 Fassung: 1964-02-21
Verfahrensgang
SG Würzburg (Entscheidung vom 11.10.1976; Aktenzeichen S 5 An 164/75) |
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11. Oktober 1976 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1914 geborene Kläger hat vor seinem Medizinstudium in der Zeit vom 7. Mai 1934 bis 15. Oktober 1934 Arbeitsdienst geleistet, weil ihm sonst die Aufnahme des Studiums nicht möglich gewesen wäre.
Die Beklagte hat es abgelehnt, diese Zeit als Ersatzzeit vorzumerken. Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) "festgestellt, daß der abgeleistete Arbeitsdienst eine Ersatzzeit iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG darstellt". Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger der Ableistung nicht habe ausweichen können. Die ihm auferlegte Verpflichtung habe zwar keine gesetzliche Dienstpflicht dargestellt, sich aber für ihn wie eine solche ausgewirkt; sie müsse daher ebenso behandelt werden.
Mit der Sprungrevision wendet sich die Beklagte gegen eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); daß der Kläger dem Dienst nicht habe ausweichen können, reiche dafür nicht aus.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten ist begründet.
Die auf "Anerkennung" der Arbeitsdienstzeit als Ersatzzeit gerichtete Klage ist - wie der Senat zuletzt in BSGE 42, 159 = SozR 2200 § 1251 Nr 24 ausgeführt hat - als eine verbundene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu verstehen, mit der die Verurteilung des Rentenversicherungsträgers zur Vormerkung einer Ersatzzeit erstrebt wird. Schon deshalb durfte das SG kein Feststellungsurteil erlassen. Im übrigen ist die Feststellung einer Ersatzzeit keine Feststellung eines Rechtsverhältnisses (so zuletzt Urteil des Senats vom 29. Juni 1977 - 11 RA 94/76 -).
Auch in der Sache ist dem SG nicht zu folgen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Vormerkung. Zutreffend hat das SG erkannt, daß eine unmittelbare Anwendung von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG nicht möglich ist. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten ua Zeiten des militärähnlichen Dienstes iS des § 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der während eines Krieges oder aufgrund gesetzlicher Wehr- oder Dienstpflicht geleistet worden ist. Nach § 3 (Abs 1 Buchst i) BVG gilt als militärähnlicher Dienst ua "der Reichsarbeitsdienst". Der Reichsarbeitsdienst (RAD) wurde aber erst durch das RAD-Gesetz vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) geschaffen; zuvor konnte nur Dienst im Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD) geleistet werden (SozR Nr 41 zu § 1251 RVO). Dieser Arbeitsdienst - der FAD - ist in § 3 BVG nicht angeführt. Damit ist er kein militärähnlicher Dienst iS des § 3 BVG.
Das BVG sieht allerdings in § 6 die Möglichkeit vor, noch in anderen als den in § 3 bezeichneten, besonders begründeten Fällen mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) das Vorliegen militärähnlichen Dienstes anzuerkennen. Eine solche Zustimmung hat der BMA allgemein für den nach dem 30. Juni 1934 geleisteten freiwilligen Arbeitsdienst der männlichen Jugend erteilt (Verwaltungsvorschriften - VV - zu § 6 BVG, Buchst c). Ob die Beklagte hiernach den vom Kläger geleisteten Arbeitsdienst wenigstens für die Zeit nach Juni 1934 als militärähnlichen Dienst auch im Rahmen von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG anerkennen müßte (zu § 6 BVG vgl Urteil des Senats vom 3. Februar 1977 - 11 RA 46/76 -), kann jedoch offen bleiben. Militärähnlicher Dienst ist nur dann eine Ersatzzeit, wenn er während eines Krieges oder aufgrund gesetzlicher Wehr- oder Dienstpflicht geleistet worden ist. Hier käme nur die Leistung aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht in Betracht. Eine solche hat jedoch nicht bestanden (SozR Nr 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 19).
Dem steht nicht entgegen, daß nach den vom SG der Entscheidung zugrunde gelegten Unterlagen die Deutsche Studentenschaft, der Reichsminister des Innern sowie die Kultusminister des Reiches und der Länder die Ableistung des Arbeitsdienstes grundsätzlich allen Abiturienten, die damals ein Studium aufnehmen wollten, zur "Pflicht" gemacht haben (so insbesondere die "Ausführungsbestimmungen über die Durchführung der Arbeitsdienstpflicht der Abiturienten und Abiturientinnen von Ostern 1934" der Deutschen Studentenschaft vom 23.Februar 1934 sowie Runderlaß des Reichsministers des Innern vom gleichen Tage - III 3447/30.12 -; vgl auch Verordnung des Reichsministers der Justiz vom 22. Juli 1934 - RGBl I 727 -). Hierzu ist schon zu bedenken, ob eine "gesetzliche Dienstpflicht" iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG nicht voraussetzt, daß sie grundsätzlich die gesamte Bevölkerung und nicht nur eine bestimmte Gruppe trifft (vgl SozR 2200 § 1251 Nr 8); Zweifel bestünden auch, ob den Verlautbarungen der Studentenschaft und der beteiligten Minister selbst für die damalige Zeit Gesetzescharakter beigemessen werden könnte. Entscheidend ist jedoch, daß eine Pflicht, den Arbeitsdienst abzuleisten, für den Kläger dadurch nicht begründet worden ist, auch nicht begründet werden sollte. Nur wenn ein Verhalten unmittelbar verlangt und erzwungen werden kann, wird eine Pflicht im Rechtssinne auferlegt. Gerade das traf aber auf den freiwilligen Arbeitsdienst, auch soweit er von Abiturienten, die studieren wollten, geleistet wurde, nicht zu. Die Ableistung wurde, wie insbesondere die Ausführungsbestimmungen der Deutschen Studentenschaft vom 23. Februar 1934 ergeben und auch das SG zu Recht annimmt, nicht unmittelbar verlangt oder gar erzwungen; sie war vielmehr nur Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums; "Abiturienten, die nicht zu studieren beabsichtigten"; unterlagen nicht der "Dienstpflicht" (Nr 6 der Ausführungsbestimmungen).
§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG läßt sich entgegen dem SG hier auch nicht entsprechend anwenden. Richtig ist, daß der Kläger den freiwilligen Arbeitsdienst ableisten mußte, um studieren zu können und daß dieser mittelbare Zwang für ihn "wie eine gesetzliche Dienstpflicht" wirkte. Ein mittelbarer Zwang zu Dienstleistungen hat indessen in vielen Fällen bestanden (vgl SozR 2200 Nr 8 bei Wehrübungen eines Beamten auf Weisung von Dienstvorgesetzten). Der Gesetzgeber hat jedoch nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG offensichtlich nicht jeden Dienst, zu dessen Ableistung ein Versicherter genötigt wurde (vgl auch Urteil des Senats vom 3. Februar 1977 - 11 RA 46/76 -), als Ersatzzeit gelten lassen wollen. Es besteht kein Anhalt für die Annahme, daß er dabei die Fälle des mittelbaren Zwangs übersehen hätte; auch der Kreis der betroffenen Abiturienten und Studenten ist jedenfalls nicht so klein, daß ein Übersehen naheliegen würde. Eine Gesetzeslücke, die der Ausfüllung im Sinne der Auffassung des SG zugänglich wäre, kann deshalb nicht als vorliegend angenommen werden.
Die Vorschrift des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG bzw § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat die Rechtsprechung - der 1. und 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) - nur dann entsprechend angewandt, wenn ein 1915 oder später geborener Versicherter vor Einführung der RAD-Pflicht Arbeitsdienst geleistet hat (SozR Nr 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 3, 19). Dies wurde damit begründet, daß diese Versicherten sich durch diesen Arbeitsdienst die sonst aufgrund ihres Geburtsjahrgangs für sie wahrscheinlich gewesene Einberufung zum RAD erspart hatten. Es ging demnach bei diesen Versicherten um die Gleichstellung mit den Angehörigen ihres Geburtsjahrganges, die nach September 1935 im RAD dienen mußten. Auf 1914 und früher geborene Versicherte trifft dieser Gedanke nicht zu; sie müssen nicht auch den Dienstpflichtigen späterer Jahrgänge gleichgestellt werden.
Die Rechtsprechung des Senats zum Wehrdienst von Personen, die wegen ihres Alters nicht mehr zum aktiven Wehrdienst einberufen worden wären (BSGE 42, 159), ist für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Sie betrifft die Gesetzes-Alternative, daß Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden ist und gilt zudem nur für Fälle von Wehrdienstleistungen nach dem Inkrafttreten des die Wehrpflicht einführenden Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935.
Hiernach war die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils mit der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden Kostenfolge abzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Fundstellen