Leitsatz (amtlich)
Zeiten eines im Jahre 1936 geleisteten Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend sind keine Ersatzzeiten, wenn auch ohne die Ableistung dieses Dienstes die spätere Heranziehung der Versicherten zum (pflichtmäßigen) Reichsarbeitsdienst wegen ihres Lebensalters nicht wahrscheinlich gewesen wäre.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RArbDG § 3 Abs. 3 Fassung: 1939-09-09, § 1 Fassung: 1935-06-26, § 3 Fassung: 1935-06-26, § 9 Fassung: 1935-06-26, § 9 Fassung: 1939-09-09; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20, § 6 Fassung: 1964-02-21
Verfahrensgang
SG Itzehoe (Entscheidung vom 24.02.1977; Aktenzeichen S 2 An 83/76) |
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 24. Februar 1977 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die 1916 geborene Klägerin hat vor Aufnahme ihres Studiums vom 1. April bis 30. September 1936 Arbeitsdienst geleistet und den Arbeitsdienstpaß erhalten. Ihren Antrag auf Vormerkung dieser Zeit als Ersatzzeit lehnte die Beklagte ab, weil eine gesetzliche Dienstpflicht gefehlt habe. Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte für verpflichtet erklärt, die "Reichsarbeitsdienstzeit als Ersatzzeit zu berücksichtigen". § 28 Abs 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei entsprechend anzuwenden, weil die Klägerin den Arbeitsdienst wie aufgrund einer gesetzlichen Pflicht geleistet habe. Sie sei durch § 2 der Durchführungsverordnung (DVO) vom 4. September 1939 (RGBl I 1693) arbeitsdienstpflichtig geworden, wegen des vorgeleisteten Dienstes aber nach § 6 Buchst b der Verordnung vom 21. September 1939 (RGBl I 1858) zum Arbeitsdienst nicht mehr herangezogen worden. Der freiwillige Dienst sei damit dem zwangsweise erbrachten gleichwertig gewesen.
Mit der Sprungrevision wendet sich die Beklagte gegen die entsprechende Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG; sie macht insbesondere geltend, im Jahre 1939 seien nur die Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1919 und 1920 und in den folgenden Jahren nur noch jüngere Jahrgänge zum Reichsarbeitsdienst einberufen worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Aufgrund welcher Rechtsvorschrift die Beklagte - außer bei Rentenberechnungen - zur "Berücksichtigung" von Ersatzzeiten verpflichtet werden kann, hat das SG nicht erläutert. Eine Rechtsgrundlage für den Ausspruch solcher Verpflichtungen ist nicht ersichtlich. Wie der Senat zuletzt in BSGE 42, 159 = SozR 2200 § 1251 Nr 54 dargelegt hat, sind Klagen der hier erhobenen Art als verbundene Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen zu verstehen, mit denen die Verurteilung des Rentenversicherungsträgers zur Vormerkung einer Ersatzzeit erstrebt wird. Nach dem festgestellten Sachverhalt kann die Klägerin eine solche Vormerkung indessen nicht beanspruchen.
Im Ergebnis zutreffend hat das SG erkannt, daß eine unmittelbare Anwendung von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG nicht möglich ist. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten ua Zeiten des militärähnlichen Dienstes iS des § 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der während des Krieges oder aufgrund gesetzlicher Wehr- oder Dienstpflicht geleistet worden ist. Nach § 3 (Abs 1 Buchst i) BVG gilt als militärähnlicher Dienst ua "der Reichsarbeitsdienst". Reichsarbeitsdienst hat die Klägerin nicht geleistet. Der Reichsarbeitsdienst (RAD) wurde zwar schon durch das RAD-Gesetz vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) geschaffen. In dessen § 1 Abs 2 wurden alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts verpflichtet, ihrem Volk im RAD zu dienen. Tatsächlich wurde eine Dienstpflicht im RAD damals jedoch nur für die männliche Jugend begründet (§§ 3 ff). Die Arbeitsdienstpflicht der weiblichen Jugend blieb besonderer gesetzlicher Regelung vorbehalten (§ 9 RAD-Gesetz). Diese Dienstpflicht wurde erst im September 1939 verwirklicht (Verordnung über die Durchführung der Reichsarbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend vom 4. September 1939 - RGBl I 1693 und Verordnung zur Änderung des RAD-Gesetzes vom 8. September 1939 - RGBl I 1744). Bis dahin wurde der "Arbeitsdienst für die weibliche Jugend" dementsprechend als solcher und nicht als "Reichsarbeitsdienst" bezeichnet; nur die "Dienststellen" des Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend wurden 1936 bereits Dienststellen des Reichsarbeitsdienstes (Art 1 der VO vom 15. August 1936 - RGBl I 633). Erst § 1 Satz 1 der Verordnung vom 8. September 1939 (RGBl I 1744) hat dann bestimmt, daß auch die Angehörigen des Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend zu den Angehörigen des RAD gehören. Der von der Klägerin von April bis September 1936 geleistete Arbeitsdienst war demnach kein militärähnlicher Dienst iS des § 3 BVG; denn anderer Arbeitsdienst als der RAD ist dort nicht als militärähnlicher Dienst aufgeführt.
Das BVG sieht allerdings in § 6 die Möglichkeit vor, noch in anderen als den in § 3 bezeichneten, besonders begründeten Fällen mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) das Vorliegen militärähnlichen Dienstes anzuerkennen. Eine solche Zustimmung hat der BMA allgemein für den nach dem 31. März 1936 geleisteten Arbeitsdienst für die weibliche Jugend erteilt (Verwaltungsvorschriften -VV zu § 6 BVG, Buchst c). Ob die Beklagte hiernach den von der Klägerin geleisteten Arbeitsdienst auch im Rahmen von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG als militärähnlichen Dienst anerkennen müßte, kann jedoch offenbleiben. Militärähnlicher Dienst ist nur dann eine Ersatzzeit, wenn er während eines Krieges oder aufgrund gesetzlicher Wehr- oder Dienstpflicht geleistet worden ist. Hier käme als Grundlage nur eine gesetzliche Dienstpflicht in Betracht. Wie bereits dargelegt, hat eine solche für die Klägerin bei Ableistung des Dienstes nicht bestanden.
Entgegen der Auffassung des SG ist § 28 Abs 1 Nr 1 AVG hier auch nicht entsprechend anwendbar. In dem ebenfalls heute erlassenen Urteil in der Sache 11 RA 100/76 hat der Senat hierfür nicht als ausreichend angesehen, daß der freiwillige Arbeitsdienst geleistet werden mußte, um studieren zu können; für solche Fälle eines mittelbaren Zwanges ist keine Gesetzeslücke erkennbar. Die entsprechende Anwendung rechtfertigt sich aber auch nicht aus den vom SG angestellten Erwägungen.
Die Vorschrift des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG bzw § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat die Rechtsprechung - der 1. und der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) - bei männlichen Versicherten entsprechend angewandt, wenn ein 1915 oder später geborener Versicherter vor der Einführung der männlichen RAD-Pflicht Arbeitsdienst geleistet hat (SozR Nr 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 3, 19). Dies wurde damit begründet, daß diese Versicherten sich durch den Arbeitsdienst die sonst aufgrund ihres Geburtsjahrganges für sie wahrscheinlich gewesene Einberufung zum RAD erspart hatten. Es ging demnach bei ihnen um die Gleichstellung mit den Angehörigen ihres Geburtsjahrganges, die nach September 1935 im RAD dienen mußten. Die in Art 2 der 2. Verordnung zur Durchführung des RAD-Gesetzes vom 1. Oktober 1935 (RGBl I 1215) enthaltene Fiktion der Erfüllung der Arbeitsdienstpflicht genügte dabei noch nicht für die entsprechende Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG. Es liegt nahe, ähnliche Grundsätze auch beim weiblichen Arbeitsdienst gelten zu lassen. Insoweit bestimmte der vom SG angeführte § 6 der Verordnung vom 21. September 1939 in Buchst b, daß zur Ableistung der RAD-Pflicht nicht mehr herangezogen wird, wer im Besitze eines Arbeitsdienstpasses ist. Die Bestimmung schuf zwar keine Fiktion der Erfüllung der RAD Pflicht, wirkte sich aber in gleichem Sinne aus. Das allein kann aber nicht ausreichen. Nach den angeführten Rechtsprechungsgrundsätzen müßte sich die Klägerin eine für sie aufgrund ihres Geburtsjahrganges wahrscheinlich gewesene Einberufung erspart haben. Das war bei der Klägerin nicht der Fall. Ihr Jahrgang ist nicht mehr allgemein zur Ableistung des RAD herangezogen worden. Nach § 3 Abs 3 des RAD-Gesetzes vom 9. September 1939 (RGBl I 1747) wurden die Arbeitsdienstpflichtigen in der Regel in dem Kalenderjahr, in dem sie das 19. Lebensjahr vollendeten, zum RAD einberufen; die Klägerin hatte dieses Alter im Jahre 1939 bereits weit überschritten. § 3 Abs 3 hat auch für weibliche Jugendliche gegolten. Die Ansicht des SG, § 2 der Verordnung vom 4. September 1939 habe den Vorbehalt des § 9 des RAD-Gesetzes in der Neufassung vom 9. September 1939 ausgefüllt und danach eine Anwendung von § 3 Abs 3 des Gesetzes ausgeschlossen, ist schon deswegen unrichtig, weil die Verordnung der Neufassung des Gesetzes zeitlich vorausgegangen ist; zudem betrifft § 2 der Verordnung (ebenso wie der inhaltlich insoweit übereinstimmende § 3 Abs 2 des Gesetzes) nur den Kreis der "abstrakt" Arbeitsdienstpflichtigen; er ergibt nichts für die Beantwortung der hier allein maßgebenden Frage, welche Jahrgänge zum RAD herangezogen worden sind und bei welche Versicherten sonach die Wahrscheinlichkeit einer Heranziehung bestand. Ob bei der Klägerin eine Heranziehung auch deshalb unwahrscheinlich gewesen wäre, weil sie "in beruflicher oder schulischer Ausbildung" stand (vgl § 2 der Verordnung vom 4. September 1939), kann unter diesen Umständen dahingestellt bleiben.
Nach alledem war die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils in der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden Kostenfolge abzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Fundstellen