Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiserhebung. Offenkundigkeit Allgemeinkundigkeit. Gerichtskundigkeit. rechtliches Gehör
Leitsatz (amtlich)
Die Tatsachenfeststellung, daß der Versicherte eine konkrete Berufstätigkeit verrichten kann, setzt die Feststellung sowohl der vorhandenen als auch der für die konkrete Berufstätigkeit erforderlichen gesundheitlichen und beruflichen Leistungsfähigkeit voraus, die danach auf ihre Übereinstimmung miteinander zu vergleichen sind.
Orientierungssatz
1. Die Offenkundigkeit einer Tatsache, dh die Allgemeinkundigkeit oder Gerichtskundigkeit macht eine Beweiserhebung überflüssig. Die Offenkundigkeit ersetzt aber lediglich die Beweiserhebung und hebt den Anspruch auf rechtliches Gehör zu der an die Stelle der Beweiserhebung tretenden Offenkundigkeit der Tatsache nicht auf. Die Offenkundigkeit ändert nichts an dem Grundsatz der § 62, § 128 Abs 2 SGG, daß die Beteiligten Gelegenheit haben müssen, dazu Stellung zu nehmen.
2. Gerichtskundige Tatsachen dürfen im Urteil aber nur dann verwertet werden, wenn die Beteiligten vorher auf die Gerichtskundigkeit hingewiesen worden sind und damit Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 23.09.1981; Aktenzeichen L 6 J 88/80) |
SG Berlin (Entscheidung vom 24.06.1980; Aktenzeichen S 22 J 1973/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der Kläger war bis 1973 als gelernter Steinsetzer tätig. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit vom 1. März 1975 bis zum 31. Juli 1977 wegen Erwerbsunfähigkeit die Rente auf Zeit mit Bescheid vom 9. Juli 1975. Den am 10. September 1976 gestellten Antrag des Klägers auf Weitergewährung dieser Rente über den 31. März 1977 hinaus lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. März 1977 ab. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seines Urteils vom 23. September 1981 im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei über den 31. März 1977 hinaus weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Zwar könne er seinen bisherigen Beruf als gelernter Steinsetzer nicht mehr verrichten und auch sonst im Straßenbau nicht eingesetzt werden. Er sei aber noch in der Lage, verschiedene Tätigkeiten auszuüben, die einem Facharbeiter zumutbar seien. Dazu gehörten insbesondere Tätigkeiten, die in der Anlage 1 des Berliner Bezirkstarifvertrages Nr 2 zum Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G) in den Lohngruppen III und IV (Arbeiter mit erfolgreich abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit weniger als 2 1/2 Jahren bzw mindestens 2 1/2 Jahren) genannt seien, zB die Tätigkeit eines Hausmeisters, Magazin- oder Lagerwarts, der mit der Einnahme und Ausgabe von Materialien und deren Verbuchung beschäftigt sei sowie die Tätigkeit eines Pförtners mit Kassentätigkeit im Botanischen Garten, Botanischen Museum, an Theatern und Bühnen. Es bedürfe keiner weiteren Aufklärung der körperlichen und geistigen Anforderungen dieser Tätigkeiten, denn es handele sich hierbei um allgemeinkundige Tatsachen, von denen verständige und erfahrene Menschen ohne weiteres Kenntnis haben und die sie aufgrund eigener Anschauung beurteilen können.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat durch Beschluß vom 12. Mai 1982 zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die vom LSG genannten Tätigkeiten der Lohngruppe III seien einem Facharbeiter deshalb nicht zumutbar, weil ihre Einstufung auf qualitätsneutralen Gesichtspunkten beruhe. Soweit die im Berufungsurteil genannten Verweisungstätigkeiten einem Facharbeiter zumutbar seien, habe das LSG zu Unrecht die Prüfung unterlassen, ob überhaupt ein offener Arbeitsmarkt für derartige Tätigkeit bestehe. Darüber hinaus sei aus den Entscheidungsgründen nicht erkennbar, welche beruflichen Anforderungen die in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten an den Arbeitnehmer stellen und welche Einarbeitungszeit erforderlich ist. Diese Feststellungen seien aber für die revisionsgerichtliche Nachprüfung unerläßlich. Schließlich habe das LSG den Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß es den Beteiligten keine Gelegenheit gegeben habe, zu seinem auf Allgemeinkundigkeit gestützten Wissen von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die gesundheitliche Leistungsfähigkeit Stellung zu nehmen. Wäre das geschehen, so hätte der Kläger vorgetragen und unter Beweis gestellt, daß das ihm verbliebene Leistungsvermögen nicht ausreiche, eine der im Urteil genannten zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf Dauer zu verrichten. Das Berufungsurteil beruhe also auch auf dem gerügten Verfahrensmangel.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juni 1980 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. März 1977 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27. September 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. April 1977 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Die festgestellten Tatsachen - soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind - reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Das LSG hat den bisherigen Beruf des Klägers als gelernter Steinsetzer zutreffend der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Die vom LSG festgestellte Fähigkeit des Klägers, verschiedene andere Berufstätigkeiten auszuüben, schließt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Berufsunfähigkeit nur dann aus, wenn es sich dabei entweder um sonstige Ausbildungsberufe oder solche ungelernte Tätigkeiten handelt, die wegen der ihnen innewohnenden Qualitätsmerkmale den sonstigen Ausbildungsberufen gleichgestellt sind (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 71 mwN). Das trifft auf die im Berufungsurteil genannten Verweisungstätigkeiten zu. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Lohngruppe III ausschließlich solche Tätigkeiten enthält oder ob verschiedene der dort genannten Tätigkeiten nicht wegen ihrer Qualität, sondern aus anderen Gründen dort eingruppiert worden sind. In erster Linie gehören jedenfalls zur Lohngruppe III sonstige Ausbildungsberufe. Die unter "ferner" aufgezählten Tätigkeiten gehören zwar nicht dazu, denn sonst hätte es ihrer Erwähnung unter "ferner" nicht bedurft. Es handelt sich vielmehr um andere, ungelernte Tätigkeiten, die tariflich den sonstigen Ausbildungsberufen dieser Tarifgruppe durch ihre Einstufung gleichgestellt sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist die tarifliche Einstufung einer Tätigkeit ein wertvolles Indiz für ihre Qualität (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 77 mwN). Im allgemeinen ist davon auszugehen, daß die tarifliche Einstufung auf der Qualität der Tätigkeit beruht. Es gibt zwar durchaus Fälle, in denen für die tarifliche Einstufung qualitätsfremde Merkmale maßgebend waren. Dafür müssen aber besondere Anhaltspunkte vorhanden sein. Das Tatsachengericht braucht sich zu Ermittlungen über die Qualität einer Tätigkeit nicht gedrängt zu fühlen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für die Einstufung aus qualitätsfremden Gründen sprechen. Bei den im Berufungsurteil genannten Verweisungstätigkeiten sind solche Gründe nicht erkennbar, so daß von der Zumutbarkeit dieser Tätigkeiten auszugehen ist.
Das LSG hat § 1246 RVO auch nicht dadurch verletzt, daß es die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die gesundheitliche Leistungsfähigkeit und das berufliche Können nicht ausdrücklich festgestellt hat. Diese Feststellungen sind zur Subsumtion unter § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO nicht erforderlich. Zur Anwendung dieser Vorschrift genügt die Tatsachenfeststellung, daß der Versicherte in der Lage ist, eine konkrete Tätigkeit zu verrichten. Die Frage, wie das Tatsachengericht zu dieser Tatsachenfeststellung gelangt, betrifft nicht die Anwendung des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO, sondern das Verfahren auf dem Wege zur Feststellung der subsumtionsfähigen Tatsache. Dem Gebot der konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist mit der Benennung einer im Berufsleben vorkommenden, insbesondere mit der Bezeichnung einer im Tarifvertrag genannten Berufstätigkeit genügt (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 15. Juli 1982 - 5b RJ 86/81 -). Mit dem Gebot der konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit soll erreicht werden, daß eine Berufstätigkeit identifiziert werden kann, die es in der Arbeitswelt als Arbeitsstelle, dh als versicherungspflichtige Beschäftigung real gibt. Es soll verhindert werden, daß der Versicherte auf eine auf dem Arbeitsmarkt nicht existierende oder auf Teilbereiche einer Berufstätigkeit verwiesen wird, die ihm die Nutzung der verbliebenen Erwerbstätigkeit nicht erlaubt. Deshalb genügt die Kennzeichnung der Verweisungstätigkeit mit der im Arbeitsleben üblichen Berufsbezeichnung. Unabhängig davon ist die - in diesem Zusammenhang nicht relevante - Frage zu beurteilen, ob die Prüfung der Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO weitere Feststellungen darüber erfordert, welche ihre Qualität bestimmenden Anforderungen die Verweisungstätigkeit an das berufliche Können stellt.
Wie der erkennende Senat bereits in seinem - die Revision zulassenden - Beschluß ausgeführt hat, beruht das Berufungsurteil jedoch auf einem vom Kläger gerügten Verfahrensmangel, nämlich auf einer Verletzung des in Art 1O3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) garantierten und in § 62, § 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) konkretisierten Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Das LSG konnte zu der Feststellung, der Kläger sei zur Verrichtung der im Berufungsurteil genannten Verweisungstätigkeit in der Lage, denkgesetzlich nur dann kommen, wenn es vorher die Anforderungen dieser Verweisungstätigkeiten an das gesundheitliche und berufliche Leistungsvermögen festgestellt und mit dem dem Kläger verbliebenen Leistungsvermögen verglichen hatte (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 72, 75, 82, 86 und das zitierte Urteil des erkennenden Senats vom 15. Juli 1982). Zwar hat das LSG über die gesundheitliche Leistungsfähigkeit des Klägers durch Verwertung der in den Akten enthaltenen medizinischen Gutachten Beweis erhoben. Aus diesen Gutachten geht aber nicht unmittelbar hervor, ob der Kläger gesundheitlich fähig ist, die im Urteil konkret genannten Tätigkeiten auszuüben. Dazu bedurfte es vielmehr noch der weiteren Feststellung, welche Anforderungen diese Tätigkeiten an die gesundheitliche Leistungsfähigkeit stellen. Über diese Anforderungen hat das LSG keinen Beweis erhoben, weil es diese Tatsachen für allgemeinkundig hielt. Zwar macht die Offenkundigkeit einer Tatsache, dh die Allgemeinkundigkeit oder Gerichtskundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig. Die Offenkundigkeit ersetzt aber lediglich die Beweiserhebung und hebt den Anspruch auf rechtliches Gehör zu der an die Stelle der Beweiserhebung tretenden Offenkundigkeit der Tatsache nicht auf. Die Offenkundigkeit ändert nichts an dem Grundsatz des § 62, § 128 Abs 2 SGG, daß die Beteiligten Gelegenheit haben müssen, dazu Stellung zu nehmen. Dazu gehört, daß die Beteiligten auf die Relevanz der Tatsache und auf ihre Offenkundigkeit hingewiesen werden. Eine Ausnahme gilt zwar für solche allgemeinkundigen Tatsachen, die allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und von denen sie wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 15 mwN). In diesem Sinne sind die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das gesundheitliche Leistungsvermögen und das berufliche Können aber keineswegs allgemeinkundig. Das LSG hat die möglicherweise bestehende Gerichtskundigkeit fälschlicherweise als Allgemeinkundigkeit bezeichnet. Gerichtskundige Tatsachen dürfen im Urteil aber nur dann verwertet werden, wenn die Beteiligten vorher auf die Gerichtskundigkeit hingewiesen worden sind und damit Gelegenheit zur Stellungnahme hatten. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen.
Auf diesem Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil beruhen. Es ist durchaus möglich, daß der Kläger - wenn er Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt hätte - das Berufungsurteil durch seinen Vortrag und Beweisangebote davon überzeugt hätte, daß die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das gesundheitliche Leistungsvermögen und das berufliche Können andere sind, als das Berufungsgericht dies aufgrund der angeblichen Allgemeinkundigkeit angenommen hat.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur verfahrensfehlerfreien Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen