Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für zurückliegende Zeit. Zulässigkeit der Berufung. vertriebener Verfolgter. Verlassen des Vertreibungsgebietes nach dem 30.9.1953. deutscher Sprach- und Kulturkreis. ursächlicher Zusammenhang
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Zulässigkeit der Berufung, wenn eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für eine zurückliegende Zeit geltend gemacht wird (vgl BSG 1981-04-23 1 RA 25/80 = SozR 1500 § 146 Nr 12).
2. Bei einem vertriebenen Verfolgten, der das Vertreibungsgebiet erst im Jahre 1962 und damit erst nach Inkrafttreten des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965 (BGBl I 1965, 1315) am 1. Oktober 1953 verlassen hat, kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung nicht vermutet werden (vgl BSG 1983-09-08 5b RJ 8/83).
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25; FRG § 1; WGSVG § 19 Abs 2, § 20; BVFG § 1; BEGSchlG
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.01.1983; Aktenzeichen L 8 J 133/82) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 08.06.1982; Aktenzeichen S 12 (10) J 72/79) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin - einer Verfolgten iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) - Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 Reichsversicherungsordnung -RVO-) ab 1. Januar 1976 und Altersruhegeld (§ 1248 Abs 5 RVO) ab 1. Mai 1979 zusteht. Die 1914 in Radautz in Rumänien geborene Klägerin war dort von 1933 bis Juli 1941 als Buchhalterin beschäftigt. Bis März 1944 war sie dann nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Von 1945 bis 1948 arbeitete sie gelegentlich, von 1954 bis 1958 war sie selbständige und danach bis 1961 unselbständige Kosmetikerin. 1962 wanderte die Klägerin mit ihrer Familie nach Israel aus. Die im Dezember 1975 von ihr beantragte Versichertenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Mai 1978 und Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1979 ab.
Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 8. Juni 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 19. Januar 1983). Das LSG hat die Wartezeit für die geltend gemachten Rentenansprüche nicht als erfüllt angesehen, weil die rumänischen Zeiten nicht nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anrechenbar seien. Die Klägerin stehe auch nicht nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) einer anerkannten Vertriebenen gleich. Zwar ist das LSG von einer Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ausgegangen, es hat aber nicht als überwiegend wahrscheinlich angesehen, daß sie deshalb ihre Heimat verlassen hat und nach Israel ausgewandert ist. Die Darstellung der Klägerin, sie sei wegen ihrer deutschen Sprache benachteiligt, sowie von ihren rumänischen Nachbarn belästigt und mißachtet worden, sei zu allgemein gehalten, um daraus Rückschlüsse auf einen erheblichen Vertreibungsdruck ziehen zu können. Das Abwandern ihrer jüdischen Mitbürger und der Wunsch in einem jüdischen Staat zu leben, dürften mit Wahrscheinlichkeit die entscheidenden Gründe gewesen sein, die die Klägerin zur Auswanderung bewogen hätten. Vieles spreche dafür, daß die jüdische Bevölkerung von Radautz sich auch dann zur Auswanderung nach Israel entschlossen hätte, wenn sie sich nicht der deutschen Sprache bedient hätte. Die Vereinsamung der Klägerin sei damit nicht Folge von Vertreibungsmaßnahmen.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt, das LSG habe § 20 WGSVG sowie die Grundsätze der Beweiswürdigung und der Aufklärungspflicht verletzt.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit ab 1. Januar 1976 eine Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit sowie für die Zeit ab 1. Mai 1979 das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Soweit der Rechtsstreit den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Januar 1976 bis zum 30. April 1979 betrifft, hat das LSG zu Unrecht in der Sache entschieden. Diesen Mangel im Verfahren der Vorinstanz muß das Revisionsgericht von Amts wegen berücksichtigen (vgl Bundessozialgericht -BSG- in SozR 1500 § 146 Nr 12 mwN). Hinsichtlich der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit war die Berufung nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht zulässig, weil sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betraf. Bei den von der Klägerin begehrten Leistungen aus den §§ 1247 und 1248 Abs 5 RVO handelt es sich um materiellrechtlich und prozessual selbständige Ansprüche, auch wenn über sie - wie hier - in nur einem Bescheid entschieden worden ist. Für alle streitigen Ansprüche muß die Zulässigkeit der Berufung gesondert geprüft und entschieden werden. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß die beiden streitbefangenen Rentenarten ua davon abhängen, ob hier die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind (vgl BSG aaO § 144 Nr 4 mwN). Da der Anspruch auf Altersruhegeld nicht präjudiziell für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist (vgl BSG aaO § 146 Nr 4) kann auch nicht entgegen § 146 SGG die Berufung hinsichtlich dieser Rente für abgelaufene Zeit statthaft sein.
Hinsichtlich des Altersruhegeldes war dagegen die Berufung zulässig. Insoweit ist die rechtliche Ausgangslage, von der das LSG bei der Ablehnung dieses Anspruchs der Klägerin ausgegangen ist, nicht zu beanstanden.
§ 1248 Abs 5 RVO setzt außer der Vollendung des 65. Lebensjahres die Erfüllung der Wartezeit von 180 Kalendermonaten voraus (§ 1248 Abs 7 Satz 2 RVO). Die Klägerin hat weder Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt noch sind Zeiten nach dem FRG unmittelbar anrechenbar, weil die Anerkennung als Vertriebene im Sinne von § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) fehlt (§ 1 Buchst a FRG). Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, daß die Anwendung der Bestimmungen des FRG davon abhängt, ob die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Das ist aber auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG), zu verneinen.
Nach § 20 Satz 1 WGSVG in der ab 1. Juli 1977 geltenden Fassung des 20. Rentenanpassungsgesetzes, die auf den Anspruch auf Altersruhegeld ab 1. Mai 1979 anzuwenden ist (vgl Urteil des 11. Senats vom 5. November 1980 in BSGE 50, 279, 280 = SozR 5070 § 20 Nr 3) stehen bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des BVFG vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, genügt es dabei über die Verweisung auf § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbs WGSVG in § 20 Satz 2 dieses Gesetzes, wenn der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat. Vertriebener ist nach § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG auch, wer als Deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen ua Rumänien verlassen hat, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). An die Stelle des in § 6 BVFG definierten Begriffs der deutschen Volkszugehörigkeit tritt bei vertriebenen Verfolgten wegen der Sonderregelung in § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a 2. Halbs WGSVG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Da die Klägerin das Vertreibungsgebiet erst im Jahre 1962 und damit erst nach Inkrafttreten des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965 (BGBl I 1315) am 1. Oktober 1953 verlassen hat, kann nach der Rechtsprechung des BSG zu ihren Gunsten ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung nicht vermutet werden (vgl Urteil vom 5. September 1980 aaO und Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5b RJ 8/83).
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Entschädigungsrecht, soweit dieses in § 4 Abs 1 Nr 1 Buchst e BEG auf § 1 BVFG verweist, die positive Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (Nötigungstatbestand) für erforderlich gehalten, insoweit allerdings nur geringe Anforderungen gestellt. Dieser Rechtsprechung ist der 11. Senat des BSG gefolgt; hinsichtlich der Beweisanforderungen an den ursächlichen Zusammenhang hat er jedoch die Glaubhaftmachung genügen lassen (vgl Urteil vom 5. November 1980 aaO mwN aus der Rechtsprechung des BGH). Der 12. Senat des BSG hat hingegen in seinen Urteilen vom 16. Februar 1982 - 12 RK 80/80 und 12 RK 71/80 - gemeint, vieles spreche für die weniger strenge Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), das als Nachwirkung der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die Vereinsamung derjenigen bejaht, die in einem von Deutschen weitgehend entvölkerten Gebiet zurückgeblieben seien. Eine solche fortdauernde Bedrückung mit der "Funktion einer Vertreibungsmaßnahme" könne im Regelfall unterstellt werden, sofern nicht eindeutige Anhaltspunkte für ein Verlassen der Heimat aus vertreibungsfremden Gründen vorhanden seien. Nunmehr hat jedoch der 12. Senat nach nochmaliger Prüfung dieser Frage ein Abweichen von der Rechtsprechung des BGH und des 11. Senats des BSG nicht als gerechtfertigt angesehen (so Urteile vom 16. Februar 1983 - 12 RK 24/82 und 12 RK 29/82 - mwN aus der Rechtsprechung des BVerwG und des BGH). Dabei hat der 12. Senat insbesondere berücksichtigt, daß es in den vom BVerwG entschiedenen Fällen um die Ausstellung eines Vertriebenenausweises für Verfolgte ging, die ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt und sich in den Kernbereich des deutschen Sprach- und Kulturkreises begeben hatten. In solchen Fällen liege es nahe, den Nötigungstatbestand mit dem BVerwG im Regelfall zu unterstellen. Beim Verlassen des Vertreibungsgebietes erst nach dem 30. September 1953 ist also nach der nunmehr einheitlichen und gefestigten Rechtsprechung des BSG für die Anwendung des FRG über § 20 WGSVG iVm § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG erforderlich, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Aussiedlung aus dem Heimatland nach § 3 WGSVG glaubhaft gemacht ist. Das gilt auch für eine Vereinsamung derjenigen, die in einem von Deutschen entvölkerten Gebiet zurückgeblieben sind. Dieser Auffassung folgt der erkennende Senat und davon ist das LSG ebenfalls ausgegangen.
Das Berufungsgericht hat es indes nicht als überwiegend wahrscheinlich angesehen, daß die Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis eine wesentliche Ursache für ihre Auswanderung nach Israel gewesen ist. Für diesen Entschluß hat das LSG denjenigen Motiven größere Bedeutung beigemessen, die in dem Judentum der Klägerin begründet sind. Dazu hat es den Wunsch angeführt, als Jüdin Kontakte zur jüdischen Gemeinde halten zu wollen und in einem jüdischen Staat zu leben. Einer möglichen Vereinsamung der Klägerin hat das LSG mehr vertreibungsfremde Gründe zugeschrieben, die weniger mit dem deutschen Sprach- und Kulturkreis als mit der Entvölkerung von Juden zusammenhänge. Auch der 12. Senat des BSG hat in den erwähnten Entscheidungen vom 16. Februar 1983 ausgeführt: Häufig lasse es sich nicht ausschließen, daß für die Auswanderung mehrere Motive ausschlaggebend gewesen seien. Den vertreibungsfremden Gründen könne gegenüber den vertreibungsbedingten jedenfalls kein geringeres Gewicht beigemessen werden, wenn der Verfolgte nach dem Ende der Verfolgung noch jahrzehntelang in seinem Heimatland verblieben sei. Das trifft auch auf die Klägerin zu.
Zwar hat die Klägerin als Verfahrensmangel eine Verletzung der Grundsätze der Beweiswürdigung und der Sachaufklärungspflicht durch das LSG gerügt. Insoweit fehlt es aber an der gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG erforderlichen ausreichenden Bezeichnung der Tatsachen, die den behaupteten Mangel ergeben. Schon deswegen erachtet der Senat die Verfahrensrügen nicht für durchgreifend (vgl § 170 Abs 3 SGG).
Die demnach unbegründete Revision der Klägerin mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen