Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitteilung des MdE-Grades bei der Anhörung vor Entziehung der vorläufigen Rente und Ablehnung einer Dauerrente. Gelegenheit zur Anhörung

 

Orientierungssatz

Ist für die Berufsgenossenschaft ebenso wie für die Verletzte allein entscheidungserheblich, ob die unstreitig vorhandenen Folgen des Arbeitsunfalles weiterhin einen Anspruch auf Verletztenrente begründen, macht das Unterlassen einer Aussage über den - nach Ansicht der Berufsgenossenschaft - noch vorliegenden Grad der MdE die tatsächlich durchgeführte Anhörung der Verletzten nicht fehlerhaft.

 

Normenkette

SGB 10 § 24 Abs 1 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 07.10.1982; Aktenzeichen L 2 U 29/81)

SG Bremen (Entscheidung vom 07.10.1981; Aktenzeichen S 2 U 204/79)

 

Tatbestand

Durch ihren in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid vom 15. November 1979 entzog die Beklagte die der Klägerin gewährte vorläufige Rente und lehnte die Zahlung einer Dauerrente ab, weil eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Ausmaß nicht mehr vorliege. Der Bescheid ist im sozialgerichtlichen Verfahren aufgehoben worden, weil der Klägerin vor Erlaß des Bescheides nicht in ausreichendem Maße Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden sei.

Nachdem der von der Beklagten beauftragte Sachverständige in seinem aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin erstatteten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen war, die durch Unfallfolgen bedingte MdE sei mit 10 vH zu bewerten, teilte die Beklagte der Klägerin in ihrem Schreiben vom 31. Oktober 1979 ua folgendes mit: "Das Gutachten über die Nachuntersuchung bei Herrn Dr. S. liegt uns vor. Nach dem Ergebnis beabsichtigen wir, die bisher gezahlte Rente zu entziehen. Der Rentenausschuß wird sich voraussichtlich in seiner Sitzung am 15.11.1979 mit der Feststellung befassen. Wir geben Ihnen hiermit Gelegenheit, sich rechtzeitig zu der beabsichtigten Feststellung zu äußern (§ 34 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil)." Die Klägerin bestätigte in ihrem Schreiben an die Beklagte vom 12. November 1979 den Eingang dieses Schreibens und führte wörtlich folgendes aus: "Es ist mir unverständlich, daß Ihnen ein Gutachten vorliegen soll, wonach die Voraussetzungen für eine Rentenzahlung nicht mehr gegeben sind. Mein Gesundheitszustand hat sich überhaupt nicht geändert. Mithin müssen die Voraussetzungen für eine Rente doch gegeben sein. Ich bitte Sie jedoch meine Rente, noch weiterhin zu zahlen."

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 7. Oktober 1981 den Bescheid der Beklagten vom 15. November 1979 aufgehoben. In den Urteilsgründen heißt es ua, die Beklagte hätte in ihrem Schreiben vom 31. Oktober 1979 darlegen müssen, welche wesentlichen Veränderungen von dem Gutachter festgestellt worden waren und wie er die MdE eingeschätzt habe. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 7. Oktober 1982 zurückgewiesen. In dem Urteil ist ausgeführt, die Beklagte hätte der Klägerin den vom Sachverständigen geschätzten MdE-Grad mitteilen müssen, weil die Klägerin diesen sonst nur durch eine juristische Schlußfolgerung habe ermitteln können. Ob hierin ein Verstoß gegen das gesetzliche Anhörungsgebot zu erblicken sei, könne jedoch dahingestellt bleiben. Denn die Beklagte hätte auf das Schreiben der Klägerin vom 12. November 1979 reagieren und nunmehr das konkrete Ergebnis der Begutachtung und die wesentlichen Gründe für die Feststellung der MdE von 10 vH mitteilen müssen; denn das von der Klägerin geäußerte Unverständnis über das Ergebnis der Begutachtung habe als ein entsprechendes Verlangen der Klägerin angesehen werden müssen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie ist der Meinung, daß die Klägerin in ihrem Schreiben vom 12. November 1979 weder ausdrücklich noch sinngemäß weitere Darlegungen von der Beklagten verlangt habe. Vielmehr habe sie darin durch die Stellungnahme zum Gutachten von ihrem Anhörungsrecht Gebrauch gemacht und ebenso wie in der Klageschrift zum Ausdruck gebracht, daß sie mit dem Ergebnis der Begutachtung nicht einverstanden sei.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 7. Oktober 1982 und das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 7. Oktober 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die vorinstanzlichen Gerichte haben nach der Meinung des erkennenden Senats zu Unrecht angenommen, die Beklagte habe die Klägerin vor Erlaß ihres Bescheides vom 15. November 1979 nicht in einer den gesetzlichen Erfordernissen entsprechenden Weise angehört.

Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte einer Beteiligten eingreift, war dieser nach dem bis zum 31. Dezember 1980 geltenden § 34 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) - nunmehr wortgleich: § 24 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) - Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Das LSG ist der Ansicht, daß die Anhörung der Klägerin zum einen unzureichend war, weil ihr in dem Schreiben der Beklagten vom 31. Oktober 1979 der von dem Sachverständigen festgestellte Grad der MdE nicht mitgeteilt wurde, und zum anderen, weil die Beklagte auf das Schreiben der Klägerin vom 12. November 1979 nicht reagierte und das konkrete Ergebnis der Begutachtung und die wesentlichen Gründe für die Feststellung der MdE von 10 vH nicht mitteilte.

Das LSG hat allerdings sehr genau beachtet und zutreffend in Betracht gezogen, daß den Entscheidungen des Senats vom 4. November 1981 - SozR 1300 § 24 Nr 2 - und vom 30. März 1982 - 2 RU 15/81 , nicht veröffentlicht - Sachverhalte zugrunde lagen, welche sich von dem vorliegenden ua dadurch unterscheiden, daß der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung in den damals zur Entscheidung stehenden Streitsachen mitgeteilt hatte, die MdE betrage - nur noch - 10 vH. An einer entsprechenden Mitteilung darüber fehlt es in dem Anhörungsschreiben vom 31. Oktober 1979. Dennoch macht das Unterlassen einer Aussage über den - nach Ansicht der Berufsgenossenschaft (BG) - noch vorliegenden Grad der MdE die tatsächlich durchgeführte Anhörung der Klägerin nach den vom LSG festgestellten Besonderheiten des Sachverhalts nicht fehlerhaft.

Der am Verwaltungsverfahren beteiligten Person muß "Gelegenheit" gegeben werden, "sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern", um Überraschungsentscheidungen sowie vorschnellen und vermeidbaren Eingriffen in die Rechte der Betroffenen vorzubeugen (BSG aa0; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 79 yI / 79z, jeweils mwN). Der Versicherungsträger soll vor Erlaß des Verwaltungsaktes den Eingriff ankündigen und ggfs aufgrund einer Äußerung des Bürgers das beabsichtigte Vorgehen überprüfen. Hierzu ist es notwendig, die entscheidungserheblichen Tatsachen in einer Weise zu unterbreiten, daß die Betroffene sie als solche erkennen und sich zu ihnen - ggfs auf dem Wege der Verschaffung genauer Kenntnisse über sie (BSG aa0 sowie Urteil vom 1. Dezember 1982 - 4 RJ 45/82 -; Seeber BG 1981, 339; Schwampe ebenda S 784) - äußern kann.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war im Zeitpunkt der Anhörung der Klägerin unter den Beteiligten nicht streitig, welche Folgen des Unfalles vom 22. Februar 1978 noch vorhanden waren; vielmehr unterschied sich lediglich die Bewertung der durch sie bedingten Erwerbsminderung (Seite 8 des Urteils). An diese Feststellungen, gegen die zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind, ist der Senat gem § 163 SGG gebunden. Während die Klägerin erkennbar annahm, insoweit sei eine veränderte Bewertung nicht gerechtfertigt, bewertete die Beklagte die MdE - auch im Hinblick auf die Gewährung einer Verletztendauerrente, vgl § 1585 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - anders als bisher, nämlich als zur Leistungsgewährung nicht ausreichend. Angesichts dieser tatsächlichen Umstände des gegebenen Sachverhalts war für die Beklagte ebenso wie für die Klägerin allein entscheidungserheblich, ob die unstreitig vorhandenen Folgen des Arbeitsunfalles einen Anspruch auf Verletztenrente begründeten. Unter diesen Umständen genügte es zur Anhörung der Klägerin, daß ihr die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu der - veränderten und von der Auffassung der Klägerin abweichenden - Bewertung der MdE durch den Sachverständigen zu äußern. Indem die Beklagte in dem Anhörungsschreiben ankündigte, sie werde die bisher gezahlte Rente entziehen, unterbreitete sie das Ergebnis des Gutachtens und ihrer daran geknüpften übereinstimmenden Meinungsbildung. Für die Klägerin war, da anderweitige Meinungsunterschiede gegenüber der Beklagten nicht bestanden, demgemäß deutlich gemacht, daß die MdE von nun an geringer bewertet werde, und zwar derart, daß eine Rentenberechtigung nicht mehr als gegeben betrachtet wurde. Damit hatte die Klägerin Gelegenheit, ihre Auffassung zu der einzigen vorhandenen Streitfrage der Beklagten bekannt zu geben oder sich hierzu noch genauere Informationen zu verschaffen. Dies war unabhängig davon möglich, wie die - jedenfalls nicht mehr zur Rentenzahlung berechtigende - MdE im einzelnen eingeschätzt worden war. Insoweit hatte die Klägerin folglich ausreichende Möglichkeit, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren zu verwirklichen.

Das LSG hat ferner entschieden, die Beklagte hätte das Schreiben der Klägerin vom 12. November 1979 als deren Verlangen nach weiteren Informationen aus dem beigezogenen Gutachten deuten und wunschgemäß verfahren müssen; ihre Passivität sei ein Verstoß gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör. Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen. Der Senat hat ua entschieden, daß auf ein entsprechendes Verlangen eine Abschrift des maßgeblichen Gutachtens zur Verfügung gestellt werden muß (BSG SozR 1300 § 24 Nr 2). Er vermag jedoch - anders als das LSG - in deren Schreiben vom 12. November 1979 ein derartiges Verlangen der Klägerin nicht zu erkennen. Die Klägerin zweifelte mit der darin von ihr gebrauchten Wendung, es sei ihr "unverständlich", daß ein für sie negatives "Gutachten vorliegen soll", nicht die Existenz des Gutachtens an. Dies ergibt sich, worauf die Revision zutreffend hinweist, einerseits aus dem Gesamtzusammenhang ihrer Äußerung und andererseits aus ihrer Klageschrift. Unmittelbar im Anschluß an die zitierte Äußerung brachte die Klägerin zum Ausdruck, daß sich ihr Gesundheitszustand "überhaupt nicht geändert" habe. Damit wurde ihr Unverständnis gegenüber dem Ergebnis des Gutachtens genauso begründet wie mit den Worten aus der Klageschrift, daß sie "die Richtigkeit dieses Gutachtens" bestreite. Die Klägerin machte demzufolge in ihrem Schreiben vom 12. November 1979 von dem Recht zur Äußerung entsprechend dem Anhörungsschreiben vom 31. Oktober 1979 Gebrauch. Weitere und konkrete Informationen als sie ihr gegeben worden waren, verlangte die Klägerin nicht. Sie hat eine entsprechende Behauptung auch später nicht aufgestellt.

Die Beklagte hörte die Klägerin nach alledem noch ordnungsgemäß an. Das LSG ist - aus seiner Sicht folgerichtig - dem Begehren der Klägerin auf Zahlung einer Verletztenrente über den Monat Januar 1980 hinaus in der Sache nicht nachgegangen und hat nicht geprüft, ob die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. Da es dem Senat verwehrt ist, die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen, mußte die Sache zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663430

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