Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersetzender Verwaltungsakt während unzulässigen Berufungsverfahren
Leitsatz (redaktionell)
Der Senat verbleibt bei der ständigen Rechtsprechung des BSG, nach der auch bei einer unzulässigen Berufung der abändernde oder ersetzende Verwaltungsakt, welcher während des Berufungsverfahrens ergeht, Gegenstand des Verfahrens wird und vom LSG als erste Instanz zu überprüfen ist.
Normenkette
SGG § 96 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. November 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1926 geborene Kläger bezieht gemäß Neufeststellungsbescheid des Versorgungsamtes Aachen vom 2. Dezember 1965 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. Mit dem 31. Januar 1970 wurde er als Steueramtmann in den Ruhestand versetzt; er begann im Februar 1970 eine selbständige Tätigkeit als Steuerberater.
An der Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge im Bescheid vom 4. Mai 1972 und ebenso an den endgültigen Feststellungen der Versorgungsbezüge für die Jahre 1970 und 1971 in den Bescheiden vom 27. und 28. Februar 1973 sowie am Abhilfebescheid vom 1. März 1973 beanstandete der Kläger, daß ihm bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs zwar als Wert seiner Arbeitsleistung in selbständiger Tätigkeit ab Januar 1972 der Betrag von 433,- DM monatlich angerechnet, der Verlust aus den Jahren 1970 und 1971, der durch seine Schädigungsfolgen und die Anlaufschwierigkeiten entstanden sei, aber nicht in Abzug gebracht worden sei. Den auf die Verlustanrechnung gerichteten Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen durch Bescheid vom 5. April 1973 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Aachen hat die Klage durch Urteil vom 27. Juli 1973 mit der Begründung abgewiesen, der vom Kläger begehrte Verlustabzug sei nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und den dazu ergangenen Durchführungsverordnungen nicht möglich. Die dagegen gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 13. November 1975 als unzulässig verworfen, weil es sich nur um Versorgung für abgelaufene Zeiträume handele und ein Fall des § 150 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht gegeben sei. Über den während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid vom 7. April 1975, in dem die Versorgungsbezüge des Klägers wegen der ihm rückwirkend ab 1. Februar 1970 gewährten Kriegsunfallversorgung neu festgestellt worden sind - auch hier ist ein Abzug der 1970 und 1971 entstandenen Verluste nicht erfolgt -, hat das LSG mit der Begründung nicht entschieden, dieser Bescheid sei nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Der Gesetzeszweck, aus Gründen der Verfahrenswirtschaftlichkeit die materielle Prüfung im Rahmen der gesamten Beschwer in einem Verfahren zu ermöglichen, könne nicht mehr erreicht werden, wenn die materielle Prüfung hinsichtlich des ursprünglichen Verwaltungsaktes wegen eines Berufungsausschlusses unzulässig sei. Damit stehe fest, daß der materiell-rechtliche Anspruch im Berufungsverfahren nie streitbefangen geworden sei. Der ursprüngliche Verwaltungsakt sei vielmehr bindend geworden, so daß es am Vorliegen der behaupteten Beschwer fehle und folglich auch eine Grundlage für das Abändern oder Ersetzen im anhängigen Verfahren nicht gegeben sei. Der Verfahrensbeteiligte, dessen Rechtsmittel unzulässig sei, könne nicht anders gestellt sein als derjenige, der das Rechtsmittel überhaupt nicht eingelegt habe. Er müsse sich gegen den späteren Verwaltungsakt mit den dagegen gegebenen Rechtsbehelfen wenden. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es in der Frage, ob abändernde oder ersetzende Verwaltungsakte bei einer unzulässigen Berufung gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens im Sinne von § 96 SGG werden, von Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) abgewichen ist.
Der Kläger hat gegen das ihm am 18. Dezember 1975 zugestellte Urteil am 19. Januar 1976 (Montag) Revision eingelegt und diese innerhalb der bis zum 18. März 1976 verlängerten Revisionsbegründungsfrist begründet. Er rügt, das LSG habe entgegen § 96 SGG über den Bescheid vom 7. April 1975 nicht sachlich entschieden, obwohl dieser Bescheid nach der ständigen Rechtsprechung des BSG Gegenstand des Verfahrens geworden sei.
Der Kläger beantragt,
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1. |
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unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. November 1975 und des Urteils des Sozialgerichts Aachen vom 27. Juli 1973 und in Abänderung der angefochtenen Bescheide den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Berufsschadensausgleich unter Berücksichtigung der Verluste aus selbständiger Tätigkeit in den Jahren 1970 und 1971 zu gewähren; |
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen, soweit sie nicht schon als unzulässig zu verwerfen ist und soweit der Kläger mehr als eine Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht verlangt.
Der Beklagte meint, die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG sei nur gerechtfertigt, soweit es sich um die Abänderung des Bescheides vom 7. April 1975 handele. Denn nur insoweit sei das LSG von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Daraus folge die Unzulässigkeit der Revision wegen der übrigen Bescheide. Der Bescheid vom 7. April 1975 sei allerdings Gegenstand des Verfahrens geworden. Dies erfordere die Rechtssicherheit, selbst wenn dabei im Einzelfall die Verfahrenswirtschaftlichkeit nicht gefördert werde. Endlich bestehe kein Anlaß zu einer dem Kläger günstigeren Beurteilung des mit der Revision weiter verfolgten materiell-rechtlichen Begehrens.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision ist in vollem Umfang zulässig. Denn die Revisionszulassung ist ohne Beschränkung erfolgt. Das LSG hat zwar zur Begründung der Revisionszulassung ausgeführt, es habe die Revision zugelassen, weil es von Entscheidungen des BSG in der Frage abgewichen sei, ob abändernde oder ersetzende Verwaltungsakte bei einer unzulässigen Berufung wegen des ursprünglichen Verwaltungsaktes Gegenstand des Verfahrens werden. Daß das LSG damit eine Revisionszulassung wegen einer Rechtsfrage - nicht wegen eines bestimmten Anspruchs - hat aussprechen wollen, kann nicht angenommen werden. Die Anwendung des § 96 SGG bezieht sich auf die Frage, ob der vom Kläger erhobene Anspruch, bei Bemessung seines Berufsschadensausgleichs die 1970 und 1971 entstandenen Verluste von dem auf den Berufsschadensausgleich anzurechnenden Einkommen abzuziehen und die dies nicht beachtenden Bescheide, von denen der zuletzt ergangene vom 7. April 1975 die vorangegangenen zeitlich und sachlich ersetzt hatte, entsprechend abzuändern, der materiell-rechtlichen Nachprüfung zu unterziehen war. Es hat sich mithin um einen einheitlichen prozessualen Anspruch gehandelt (vgl. BSGE 3, 135, 138; 5, 222, 225; 7, 35; 10, 264, 266), der darauf gerichtet war, den Beklagten zur Gewährung eines sich aus dem Verlustabzug ergebenden höheren Berufsschadensausgleichs unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide, insbesondere des Bescheides vom 7. April 1975 zu verurteilen. Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, angesichts der Unzulässigkeit der Berufung folge auch aus § 96 SGG kein Anspruch des Klägers auf materiell-rechtliche Überprüfung des von ihm erhobenen Anspruchs. Deshalb bezieht sich die wegen Abweichung von der Rechtsprechung des BSG zugelassene Revision auf den gesamten Anspruch des Klägers; sie ist mithin in vollem Umfang zulässig. Der vom Beklagten vertretenen Auffassung einer Beschränkung der Revisionszulassung auf den Bescheid vom 7. April 1975 vermag der Senat nicht zu folgen.
Die Revision ist insoweit begründet, als die Sache unter Aufhebung des Urteils des LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Das LSG hat zutreffend erkannt, daß die Berufung des Klägers entgegen der ihm vom SG erteilten Rechtsmittelbelehrung ausgeschlossen war, weil es sich in der Anrechnung von Verlusten aus den Jahren 1970 und 1971 auf den Berufsschadensausgleich des Jahres 1972 nur um Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume gehandelt hat, eine Zulassung der Berufung vom SG nicht ausgesprochen worden ist und auch ein sonstiger zur Zulassung der Berufung nach § 150 SGG führender Grund nicht vorgelegen hat.
Die Auffassung des LSG, auch der Bescheid vom 7. April 1975 sei nicht sachlich nachzuprüfen, weil er nicht Gegenstand des Verfahrens geworden sei, vermag der Senat jedoch nicht zu teilen. Wie sich aus dem genannten Bescheid, insbesondere auch aus der seinem Erlaß zugrunde liegenden Verfügung des Sachbearbeiters vom 25. März 1975 ergibt, hatte sich infolge der dem Kläger rückwirkend ab Februar 1970 bewilligten beamtenrechtlichen Kriegsunfallversorgung das ihm auf den Berufsschadensausgleich ab Februar 1970 anzurechnende Einkommen aus seiner Beamtenversorgung geändert. Daraus hat sich für den Beklagten die Notwendigkeit ergeben, eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge des Klägers ab 1. Februar 1970 vorzunehmen. Dies ist durch Bescheid vom 7. April 1975 geschehen. Dieser hat somit in vollem Umfang die vorangegangenen und vom Kläger angefochtenen Bescheide vom 4. Mai 1972, 27. und 28. Februar 1973 und 1. März 1973 ersetzt. Demnach hat der Bescheid vom 7. April 1975 die Rechtsbedingung des § 96 Abs. 1 SGG - Ersetzung des ursprünglichen Verwaltungsaktes - erfüllt und die Rechtsfolge dieser Bestimmung ausgelöst, daß der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens wird. Für die Auffassung des LSG, dies gelte dann nicht, wenn die Berufung gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt unzulässig sei, bietet zunächst der Wortlaut des Gesetzes keinen Anhalt. Das LSG hat gemeint, seine Auffassung auch ohne einen solchen Anhalt aus dem Sinn der Bestimmung herleiten zu können. Auch dies trifft jedoch nicht zu. Zwar ist es der Sinn des § 96 SGG, den aus einem Nebeneinander von Klagen entstehenden allseitigen Mehraufwand tunlichst zu vermeiden. Deshalb hat das Berufungsgericht über einen während des Berufungsverfahrens ergehenden Verwaltungsakt als erste Instanz zu entscheiden (BSGE 18, 231, 234). Im Interesse der Verfahrenswirtschaftlichkeit ist der Gesetzgeber mithin soweit gegangen, die rechtliche Nachprüfung des ersetzenden Verwaltungsakts um eine Instanz zu verkürzen. Dagegen kann es angesichts der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) nicht Inhalt der mit § 96 SGG angestrebten Verfahrenskonzentration sein, für ersetzende Verwaltungsakte die gerichtliche Überprüfung in den Fällen zu versagen, in denen der ersetzte Verwaltungsakt nur der Nachprüfung durch eine Instanz unterliegt, in denen also die Berufung unzulässig ist.
Die Frage, ob eine Berufung zulässig oder unzulässig ist, wird zwar in vielen Fällen leicht zu beurteilen sein; sie kann jedoch im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Deshalb und weil auch prozessual unzutreffende Entscheidungen des Berufungsgerichts nicht auszuschließen sind, kann die Rechtsfolge des § 96 Abs. 1 SGG nicht von der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Berufung abhängig gemacht werden. Würde bei Zweifeln über die Zulässigkeit der Berufung ein Kläger den ersetzenden Verwaltungsakt nicht gesondert angreifen, so liefe er Gefahr, daß schließlich seine Berufung als unzulässig angesehen und der ersetzende Verwaltungsakt deshalb nicht als Gegenstand des Verfahrens betrachtet würde. Würde der Kläger aber vorsorglich den ersetzenden Verwaltungsakt mit einer besonderen Klage angreifen, so könnte diese Klage möglicherweise unter Hinweis auf § 96 SGG wegen anderweitiger Rechtshängigkeit als unzulässig abgewiesen werden. Dies allein würde das Berufungsgericht nicht hindern können, gleichwohl mit der hier vom LSG vertretenen Auffassung die Berufung als unzulässig zu verwerfen und den ersetzenden Verwaltungsakt nicht als Gegenstand des Verfahrens zu betrachten. Letzteres könnte nur vermieden werden, wenn der Kläger vorsorglich auch noch gegen das seine Klage gegen den ersetzenden Verwaltungsakt als unzulässig abweisende Urteil Berufung einlegen würde und beide Verfahren dann zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung beim LSG verbunden würden. Daraus erhellt, daß die vom LSG vertretene Auffassung jedenfalls unter Beachtung der Rechtsweggarantie nicht dazu dient, die von § 96 SGG angestrebte Verfahrensvereinfachung zu bewirken; sie führt vielmehr zu Komplizierungen und unnötigen Verfahrenszügen. Deshalb verbleibt der erkennende Senat bei der ständigen Rechtsprechung des BSG, nach der auch bei einer unzulässigen Berufung der abändernde oder ersetzende Verwaltungsakt, welcher während des Berufungsverfahrens ergeht, Gegenstand des Verfahrens wird und vom LSG als erste Instanz zu überprüfen ist (vgl. BSGE 4, 24; 5, 148; 18, 31; 27, 146; SozR SGG § 96 Nrn. 14 und 19; SozR 2200 § 1254 Nr. 1; BSG Urteil vom 7. Oktober 1976 - 6 RKa 14/75).
Das Urteil des LSG beruht auch auf der Verletzung des § 96 SGG, weil es seine Entscheidung nicht auf den Bescheid vom 7. April 1975 erstreckt hat. Deshalb unterliegt es der Aufhebung. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil verwertbare Tatsachenfeststellungen des LSG zur Sache fehlen (vgl. BSGE 9, 80, 86). Der Rechtsstreit muß daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen