Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückverweisung. mangelnde Sachaufklärung
Orientierungssatz
Hat das LSG über den Anspruch einer in der Tschechoslowakei lebenden Witwe auf Witwenbeihilfe nach BVG § 48 Abs 1 nicht selbst entschieden, sondern die Sache zur weiteren Aufklärung an die Versorgungsverwaltung zurückverwiesen, so hat es gegen seine Pflicht, die Spruchreife der Streitsache herbeizuführen, dh den Sachverhalt zu ermitteln und festzustellen, verstoßen.
Normenkette
BVG § 48 Abs. 1 Fassung: 1972-07-24, § 64f Fassung: 1970-07-10; SGG § 103 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 131 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 26.05.1976; Aktenzeichen L 5 V 763/75) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 29.04.1975; Aktenzeichen S 11 V 63/74) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Mai 1976 aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin ist deutsche Volkszugehörige. Sie wohnt in der Tschechoslowakei. Im Januar 1973 beantragte sie die Zuerkennung der Witwenbeihilfe (§ 48 Abs 1 Sätze 1 und 4 Bundesversorgungsgesetz - BVG - idF des 4. Anpassungsgesetzes - AnpG-KOV - vom 24. Juli 1972, BGBl I S. 1284). Ihr verstorbener Ehemann hatte wegen Verlustes des linken Unterarms sowie wegen Granatsplitterverletzungen der rechten Hand und des linken Oberarms eine Versorgungsteilrente von monatlich 60,- DM (§ 64 Abs 2 BVG) bezogen. Er starb an Kehlkopfkrebs.
Die Versorgungsverwaltung lehnte die Leistung der Witwenbeihilfe ab (Bescheid vom 12. Juli 1973; Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 1974), weil die Witwenrente, welche die Klägerin aus der tschechoslowakischen Sozialversorgung erhalte, nämlich im Monat 663 Kronen, über dem im Aufenthaltsland durchschnittlichen Satz von 445 Kronen liege. Das gegenwärtige Einkommen der Klägerin könne also durch die Schädigungsfolgen ihres Mannes nicht ungünstig beeinflußt sein. - Demgegenüber behauptet die Klägerin, daß ihr verstorbener Mann im Vergleich zu seinem Vorkriegseinkommen in seiner letzten Tätigkeit einen Verdienstausfall von 700 Kronen im Monat gehabt habe. Auch sei seine Invalidenrente zu niedrig berechnet worden. Er hätte in die Kategorie II eingestuft werden müssen, sei aber nur der Kategorie III zugeordnet worden.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil des SG Frankfurt am Main vom 29. April 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil sowie die angefochtenen Verwaltungsakte aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin "unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts" einen neuen Bescheid zu erteilen (Urteil des Hessischen LSG vom 26. Mai 1976). Es hat ausgeführt, die Entscheidung über die Bewilligung der Witwenbeihilfe sei nach der hier maßgeblichen Gesetzesbestimmung (§ 48 Abs 1 BVG idF des 4. AnpG-KOV) in das Ermessen der Verwaltung gestellt. Diese habe ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, indem sie es an der nötigen Sachaufklärung habe fehlen lassen. Die frühere Arbeitgeberin sei zu befragen gewesen, welche berufliche Stellung der Ehemann der Klägerin vor seinem Kriegsdienst innegehabt habe. In diesem Punkt sei mal von einem Kranführer, mal einfach von Arbeiter die Rede gewesen. Offen sei, ob die damals innegehabte Position nach dem tschechoslowakischen Sozialversicherungsrecht zur Kategorie II oder III gezählt habe und ob ein Einarmiger entsprechende Arbeitsaufgaben hätte erfüllen können. Unbeantwortet sei desweiteren, welches Durchschnittseinkommen Gesunde im gleichen Wirkungskreis nach dem Kriege, insbesondere 1967 bis 1972, gehabt hätten. Außerdem sei noch durch Rückfrage bei der Volksgenossenschaft der Tischler und Polsterer in der Tschechoslowakei zu ermitteln gewesen, welche Funktionen der Ehemann der Klägerin dort erledigt habe, wie diese sozialversicherungsrechtlich kategorisiert gewesen seien und was ein Gesunder bei gleicher Arbeit in den Jahren 1967 bis 1972 durchschnittlich verdient hätte. Ferner hätte erkundet werden müssen, weshalb und ab wann der Verstorbene Invalidenrente erhalten hatte und wie diese ausgefallen wäre, wenn er - ohne seine Verwundungen - seinem früheren oder einem gleichwertigen Beruf hätte nachgehen können. Darüber hinaus hat das LSG ausgeführt, daß es über den Anspruch auch nicht aufgrund jüngerer Gesetzesvorschriften befinden könne, da insoweit erst ein Verwaltungsakt zu erteilen sei, dem jedoch die oben erwähnte einwandfreie Ermessensentscheidung vorausgehen müsse.
Der Beklagte hat die - von dem Bundessozialgericht zugelassene - Revision eingelegt. Er erblickt einen wesentlichen Verfahrensmangel darin, daß das LSG nicht selbst die für erforderlich gehaltenen Untersuchungen angestellt und die gesetzlich geforderte Spruchreife herbeigeführt, sondern die Sache an die Verwaltung zurückverwiesen habe. Darin liege ein Verstoß gegen § 103 Satz 1, § 123 und § 131 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Verfahrensrechtlich zu beanstanden sei desweiteren, daß das Berufungsgericht nicht über die Anspruchsberechtigung der Klägerin nach neuerem Recht entschieden habe. In bezug auf die Witwenbeihilfe habe sich die Rechtsgrundlage (§ 48 BVG) durch das Haushaltsstrukturgesetz (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975, hier Art 2 § 1 Nr 5 Buchst a (BGBl I, 3113) geändert. Die Leistung sei in vollem Umfang in einen Rechtsanspruch umgewandelt worden. Durch Unterlassen einer abschließenden Entscheidung habe das LSG seine Pflicht, über den von der Klägerin erhobenen Anspruch zu befinden (§ 123 SGG), mißachtet. Außerdem habe das LSG dem Beklagten Sachermittlungen aufgegeben, zu denen dieser nicht befugt sei. Verdienstbescheinigungen oder Auskünfte über Einkommensverhältnisse von Berufsgruppen seien aus osteuropäischen Staaten nicht zu beschaffen; zumindest müsse mit Unannehmlichkeiten für die Antragsteller gerechnet werden. Ostblockstaaten betrachteten die in ihnen herrschenden Lohnverhältnisse als vertrauliche Angelegenheiten. Nachforschungen danach würden als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates angesehen. Diesen Beweisschwierigkeiten trügen § 64 e Abs 1 und § 64 f Abs 1 Sätze 1 und 2 BVG sowie entsprechende Verwaltungsrichtlinien Rechnung. Darüber habe sich das LSG nicht hinwegsetzen dürfen. Die vorhandenen Daten, meint der Beklagte, müßten zur abschließenden Entscheidung ausreichen.
Der Beklagte beantragt,
das Berufungsurteil aufzuheben,
hilfsweise,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Dem Antrag auf Zurückverweisung schließt sich die zum Rechtsstreit beigeladene Bundesrepublik Deutschland an. Sie hält eine Sachaufklärung im Wohnsitzstaat nicht für tunlich, dagegen im Inland für erforderlich.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten und der Antrag der Beigeladenen haben Erfolg.
Das LSG ist seiner Aufgabe, die Spruchreife der Streitsache herbeizuführen, nicht nachgekommen. Durch § 131 Abs 2, § 103 Satz 1, § 123 SGG ist dem Tatsachenrichter die Pflicht auferlegt, den Sachverhalt zu ermitteln und festzustellen, der für die Entscheidung über das Klagebegehren erheblich ist. Entscheidungserheblich sind alle Tatsachen, von deren Gegebensein es nach der gesetzlichen Tatbestandsbeschreibung abhängt, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Die Pflicht zur Erfassung des entscheidungserheblichen Sachverhalts folgt daraus, daß ein angefochtener Verwaltungsakt nur aufgehoben werden darf, wenn und soweit er rechtswidrig ist. Dies gilt gleichermaßen für die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verwaltungsakts, mit dem die Behörde von ihrem Ermessen Gebrauch macht, wie von einer behördlichen Regelung, welche auf zwingendem Recht beruht. Beide Tatbestände sind hier gegeben. Der 2. Fall war infolge einer im anhängigen Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigenden Rechtsänderung eingetreten (§ 48 Abs 1 BVG idF des Art 2 § 1 Nr 5 a HStruktG-AFG). Solange die Bedingungen für die Rechtsanwendung im konkreten Fall nicht geklärt sind, darf ein Verwaltungsakt nicht schon deshalb - mit zurückverweisender Wirkung - beseitigt werden, weil die von der Behörde angeführten Gründe widerlegt sind. Denn dann stände nicht fest, daß der Verwaltungsakt nicht doch aus anderen Erwägungen heraus gerechtfertigt sein kann. Auch bliebe es der Behörde, an welche die Sache durch ein Verpflichtungsurteil (§ 131 Abs 2 SGG) "zurückverwiesen" würde, überlassen, zu prüfen, ob ihr Verwaltungsakt auf andere Argumente strikten Rechts gestützt werden kann (BSGE 9, 285, 288; 19, 112, 113). Damit wäre das mit dem Begriff der Spruchreife bezeichnete Gebot verletzt, daß der Richter entscheiden muß, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist, aber andererseits auch nicht früher entscheiden darf (Menger, VerwArch 53 (1962), 85).
Gegen diesen Grundsatz hat das Berufungsgericht verstoßen, indem es die Bescheide der Versorgungsverwaltung vor Aufhellung der relevanten Fallumstände aufhob und der Verwaltung die für notwendig gehaltene Beweiserhebung zur Auflage machte. Hierin ist eine unzulässige Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung zu erblicken (BSGE 2, 94, 96 f; 9, 285, 288; 19, 112, 113; 28, 179, 181; 36, 181, 184; SozR Nr 9 zu § 123 SGG; BSG Urteil vom 24. November 1977 - 9 RV 64/76; zur Durchbrechung der Regel in einem Extremfall: BSGE 37, 114, 116 f; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl, § 113 Rdnr 62 a). Von der Regel gilt Abweichendes auch nicht, soweit hier § 48 Abs 1 Satz 4 Bundesversorgungsgesetz in der Fassung des 4. AnpG-KOV in Betracht zu ziehen ist. Diese Vorschrift stellt eine sogenannte Koppelungsnorm dar, in der einerseits die rechtlichen Voraussetzungen der Rechtsanwendung vorgeschrieben sind und andererseits - damit verbunden - die Verwaltung zur Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens ermächtigt wird. Sofern und soweit es um die Subsumtion des Sachverhalts unter die gesetzlich festgelegten Tatbestandsmerkmale geht, hat das Gericht die Spruchreife herzustellen (BSG SozR Nr 119 zu § 54 SGG; Urteil vom 24. November 1977 - 9 RV 64/76).
Die von dem LSG als klärungsbedürftig bezeichneten Fragen sind rechtserheblich. Mit diesen Fragen soll ermittelt werden, ob die Hinterbliebenenversorgung wegen der erlittenen Schädigung des Verstorbenen gemindert ist. Darauf ist für die Leistung der Witwenbeihilfe nach jeder in Betracht kommenden Gesetzesfassung abzustellen (§ 48 Abs 1 Satz 4 BVG idF des 4. AnpG-KOV; § 48 Abs 1 Satz 1 BVG idF des HStruktG-AFG; BT-Drucks 7/4127, S. 55).
Soweit nach Überzeugung des Berufungsgerichts die von der Klägerin beigebrachten Unterlagen nicht ausreichen, wird sie durch gezielte Hinweise zu einer Ergänzung des Beweismaterials aufzufordern sein. Nachdem die Klägerin bislang schon Originalurkunden und Beschäftigungsbelege anstandslos vorzulegen vermochte, erscheint die Besorgnis der Revision unbegründet, eine Mitwirkung der Klägerin scheitere an ihrem Aufenthalt in der Tschechoslowakei. Dies schließt freilich ein behutsames Vorgehen in der Beweiserhebung nicht aus. Größere Schwierigkeiten mag indessen die Beschaffung von Daten über allgemeine Lohnverhältnisse, Durchschnittsverdienste und durchschnittliche Renteneinkünfte bereiten. Insoweit wird es angebracht sein, die erforderlichen Nachforschungen zunächst auf Stellen im Bundesgebiet zu beschränken. Als Informationsquellen bieten sich zB an das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, 1 Berlin 33, Podbielski-Allee 10, und die Deutsche Gesellschaft für Europakunde eV, 1 Berlin 15, Schaperstraße 30, ferner Dozent Dr. R P, Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg, Barfüßertor 2. Möglicherweise verfügt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften GmbH, - WSI -, ... D...f, H Straße ..., über beweiskräftiges Zahlenwerk. Sollten diese - hier nur als Anregungen gedachte - und ähnliche Adressen ein befriedigendes Ergebnis nicht erbringen, so wäre eine Anfrage über den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung an die tschechoslowakische Botschaft zu richten. Vor einer solchen Anfrage sollte allerdings die Zustimmung der Klägerin dazu eingeholt werden. Schließlich wäre daran zu denken, daß die großen deutschen Kriegsopferverbände (jeweils der Bundesvorstand) den Kontakt zu der tschechoslowakischen Organisation ehemaliger Kriegsteilnehmer und Widerstandskämpfer herstellen und daß diese Organisation bei der Beweiserhebung Hilfe leisten könnte.
Damit die weitere Sachaufklärung in den angegebenen Richtungen vorgenommen werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. - Anzumerken ist, daß das LSG im Streitfalle nicht nur die Änderung des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG durch das HStruktG-AFG (Art 2 § 1 Nr 5; Art 5 § 1) hätte beachten, sondern auch die neue Berechnungsweise des § 48 Abs 1 Satz 3 BVG - dazu Art 1 Nr 20 Buchst a, Art 4 § 5 Abs 2 des 8. AnpG-KOV vom 14. Juni 1976, BGBl I 1481 - hätte berücksichtigen müssen.
Dem LSG bleibt die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen