Leitsatz (amtlich)
Auf die Wartezeit, von deren Erfüllung nach der Rechtsprechung des BSG zu ArVNG Art 2 § 42 die Vergleichsberechnung ua abhängig ist (vergleiche BSG 1961-11-23 12/4 RJ 102/61 = BSGE 15, 271), sind auch Beiträge anzurechnen, die nach dem 1956-12-31 für Zeiten vor dem 1957-01-01 wirksam nachentrichtet worden sind.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. November 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, ob der Klägerin die sog. Vergleichsrente nach Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zusteht.
Für die Klägerin waren im Jahre 1927 26 Wochenbeiträge als Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden. Ende Dezember 1956 setzte sie die Versicherung freiwillig fort. Sie leistete am 29. Dezember 1956 und im Januar 1957 je einen Wochenbeitrag, ferner für die Monate Januar 1957 bis November 1959 insgesamt 35 Monatsbeiträge; schließlich überwies sie der Beklagten nach dem 28. Februar 1957 noch 339,30 DM; dieser Betrag wurde für 104 Wochenbeiträge der Klasse V für die Jahre 1955 und 1956 verrechnet. Diese Zahlung ging auf eine Belehrung zurück, welche die Beklagte der Klägerin durch die zuständige Ortsbehörde für die Arbeiter- und Angestelltenversicherung hatte zuteil werden lassen.
Auf einen im Dezember 1959 gestellten Antrag der Klägerin hin bewilligte ihr die Beklagte durch Bescheid vom 5. Mai 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. April 1960 an - berechnet nach dem vom 1. Januar 1957 an geltenden Recht - mit monatlich 18,30 DM. Die Berechnung der Rente nach dem - für die Klägerin günstigeren - alten Recht lehnte sie ab, weil die Anwartschaft aus den bis zum 31. Dezember 1956 entrichteten Beiträgen zu diesem Zeitpunkt nicht, wie es Art. 2 § 42 ArVNG verlange, erhalten gewesen sei.
Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat die auf Gewährung der Vergleichsrente gerichtete Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg dagegen die Beklagte durch Urteil vom 25. November 1963 antragsgemäß verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Erfordernisse des Art. 2 § 42 ArVNG mit folgender Begründung als erfüllt angesehen: Die Anwartschaft sei zum 31. Dezember 1956 aus dem am 29. Dezember 1956 entrichteten Wochenbeitrag erhalten gewesen. Die Klägerin habe auch von 1957 an für jedes Jahr vor dem Eintritt des Versicherungsfalles mindestens neun Monatsbeiträge entrichtet. Vom Bundessozialgericht (BSG) werde allerdings weiter gefordert, daß beim Eintritt des Versicherungsfalles die Wartezeit erfüllt sei mit Beiträgen, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden seien, und vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen, aus denen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten gewesen sei (BSG 15, 271). Dabei habe das BSG jedoch Besonderheiten, wie sie der vorliegende Streitfall aufweise, offensichtlich nicht bedacht. Eine dieser Besonderheiten sei, daß die Klägerin Beiträge für die Jahre 1955 und 1956 - von der Beklagten nicht beanstandet und deshalb wirksam - nachentrichtet habe. Wenn auch diese Beiträge bei der Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG im Rahmen der Anwartschaftserhaltung keine Rolle spielen dürften, so müßten sie doch bei der Frage nach der Erfüllung der Wartezeit berücksichtigt werden. Die zweite Besonderheit bestehe darin, daß die Nachentrichtung der Beiträge für 1955 und 1956 die Folge einer ausdrücklichen, auf eine möglichst rasche Erfüllung der Wartezeit hinzielenden Belehrung durch die Beklagte gewesen sei. Die Klägerin habe nie zum Ausdruck gebracht, daß sie Höherversicherungsbeiträge entrichten wolle; die teilweise Doppelbelegung der Monate Dezember 1956 und Januar 1957 mit Beiträgen entspreche nicht ihrem Willen und ihrem Interesse. Die Beklagte hätte von der Klägerin für die Jahre 1955 und 1956 nicht 104, sondern nur 103 Wochenbeiträge nachfordern dürfen und auch auf die zweifache Belegung des Monats Januar 1957 aufmerksam machen müssen. Deshalb müsse sie eine Umdatierung der in den Jahren 1957 bis 1959 entrichteten Monatsbeiträge gelten lassen. Zu Gunsten der Klägerin seien die 35 Monatsbeiträge um jeweils einen Monat auf die Zeit von Februar 1957 bis Dezember 1959 zu verschieben. Insgesamt habe die Klägerin somit die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten durch die volle Belegung der Jahre 1955 bis 1959 mit freiwilligen Beiträgen erfüllt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie zieht in Zweifel, daß die für die Jahre 1955 und 1956 nachentrichteten Beiträge auf eine neue Wartezeit angerechnet werden können. Außerdem sieht sie die angefochtene Entscheidung als dem Sinn und Zweck der Rentenversicherungsneuregelung zuwiderlaufend an. Sie meint, die Auffassung des LSG habe das - vom Gesetz nicht gewollte - Ergebnis zur Folge, daß das Mißverhältnis, welches früher bei kurzen Versicherungszeiten zwischen Beitragsleistung und Rente bestanden habe, noch bis Ende 1961 beibehalten worden wäre.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Entscheidungsgründen des LSG bei.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Beteiligten gehen zu Recht davon aus, daß die Klägerin auf Grund der Entrichtung eines freiwilligen Beitrages vor dem 1. Januar 1957 berechtigt war, die im Jahre 1927 mit 26 Wochenbeiträgen begonnene Versicherung auch nach dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelung fortzusetzen (Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG). Deshalb bestehen keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der von ihr freiwillig entrichteten Beiträge. Das LSG hat insbesondere auch die für die Jahre 1955 und 1956 nachentrichteten Beiträge im Ergebnis zu Recht und in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Beklagten als wirksam angesehen.
Die von der Klägerin geforderte Vergleichsberechnung ist nach Art. 2 § 42 ArVNG (idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965) anzustellen, wenn aus den bis zum 28. Februar 1957 entrichteten Beiträgen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 nach den bis dahin geltenden Vorschriften erhalten war und vom 1. Januar 1957 an für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet sind. Die zuletzt genannte Anspruchsvoraussetzung - Entrichtung von jährlich neun Monatsbeiträgen seit 1957 - ist zweifelsfrei gegeben. Die Klägerin hat auch hinsichtlich des einen, im Dezember 1956 entrichteten Beitrags das Erfordernis der Erhaltung der Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erfüllt. Es ist ständige, auch vom Schrifttum gebilligte Rechtsprechung des BSG, daß die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 nicht aus allen bis dahin nachgewiesenen Beiträgen vorhanden sein muß (BSG 10, 139; 14, 159; 15, 271). Art. 2 § 42 ArVNG setzt nach der Rechtsprechung des BSG auch nicht voraus, daß die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 wenigstens aus so vielen Beiträgen erhalten war, daß mit ihnen am Stichtag eine Wartezeit erfüllt war. Diese Auffassung wird mit dem Gedanken der Besitzstandswahrung begründet. Eine schutzwürdige Rechtsstellung wird nicht nur dem Versicherten zuerkannt, der, falls der Versicherungsfall am 31. Dezember 1956 eingetreten wäre, eine Rente nach altem Recht hätte beanspruchen können, sondern auch demjenigen, der - ohne die Wartezeit am 31. Dezember 1956 erfüllt zu haben - auf Grund seiner Anwartschaftserhaltung aus einer geringeren Zahl von Beiträgen die Möglichkeit hatte, durch weitere Beitragsleistung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles einen Anspruch auf Rente zu erwerben. Diese Rechtsprechung hat durch die in BSG 15, 271 veröffentlichte Entscheidung eine gewisse Einengung erfahren. Aus dem Sinn des Gesetzes wird ein weiteres - ungeschriebenes - Erfordernis für die Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG hergeleitet: die günstigere Berechnung der Rente nach altem Recht soll nur dann stattfinden, wenn der Versicherte beim Eintritt des Versicherungsfalles bei - hypothetischer - Weitergeltung des alten Rechts rentenberechtigt gewesen wäre, also außer der zur Rentengewährung allgemein erforderlichen Wartezeit (§§ 1246 Abs. 3, 1249 RVO) auch eine besondere - fingierte - Wartezeit aus anwartschaftsverbundenen Beiträgen erfüllt hätte. Dies wäre der Fall, wenn die besondere Wartezeit erfüllt ist entweder nur mit vor dem 1. Januar - bzw. 28. Februar 1957 - entrichteten Beiträgen, aus denen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten war, oder aber mit diesen und später entrichteten Beiträgen. Unter den später entrichteten können sich, wie das LSG mit Recht angenommen hat, auch solche Beiträge befinden, die für eine frühere Zeit wirksam nachentrichtet worden sind. Diese Annahme steht mit dem Wortlaut des Art. 2 § 42 ArVNG in Einklang. Auf eine Beitragsentrichtung vor dem 1. Januar - bzw. bis zum 28. Februar - 1957 kommt es nur bei der Prüfung der Erhaltung der Anwartschaft aus vorher geleisteten Beiträgen an. Über die Erfüllung einer besonderen Wartezeit sagt das Gesetz ausdrücklich nichts aus. Interpretiert man dieses von der Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis unter Zugrundelegung des Gedankens der Besitzstandswahrung, wie er im Urteil BSG 14, 159 verstanden wird, so ist entscheidend, daß die Klägerin noch nach dem 31. Dezember 1956 die Möglichkeit hatte, durch Nutzung der gesetzlichen Nachentrichtungsfristen die Wartezeit zu erfüllen. In dem - nichtamtlichen - Leitsatz 2 zu der Entscheidung BSG 15, 271 wird allerdings gefordert, daß die der Erfüllung der besonderen Wartezeit dienenden Beiträge, soweit aus ihnen nicht die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten war, "für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet" sein müssen. Diese Formulierung ist aber im Zusammenhang mit dem damals entschiedenen Streitfall zu verstehen, in dem es nicht um nachentrichtete Beiträge ging. In den Entscheidungsgründen des aaO veröffentlichten Urteils ist auch nur die Rede von der Erfüllung der Wartezeit "... zusammen mit den etwaigen später entrichteten Beiträgen" (S. 279, Zeile 6). Diese Fassung schließt die Berücksichtigung nachentrichteter Beiträge nicht aus.
Im Einklang mit der vom erkennenden Senat gebilligten Auffassung des LSG stehen auch Ausführungen im Urteil des BSG vom 12. September 1963 (SozR ArVNG Art. 2 § 42 Nr. 18 Bl. Aa 27, 28, zweiter Absatz).
Der Hinweis der Revision auf das Ungerechte der Mindestrentenregelung gerade für den vorliegenden Streitfall vermag nicht zu einem anderen Ergebnis zu führen. Daß mit einem sehr geringen Beitragsaufwand noch nach der Rentenreform eine unverhältnismäßig hohe (Mindest-) Rente erzielt werden konnte, liegt in der Übergangsregelung des Art. 2 § 42 ArVNG begründet. Das - von der Revision mißbilligte - Ergebnis ist nicht allein auf die Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung zurückzuführen. Dazu konnte es auch, ohne daß Beiträge nachentrichtet worden wären, bei Versicherten kommen, die - ebenso wie die Klägerin - nur aus einem Beitrag oder einigen wenigen Beiträgen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten hatten und zur Erfüllung der besonderen Wartezeit noch in der Lage waren, weil der Versicherungsfall erst kurz vor Ablauf des Jahres 1961 eintrat.
Mit den mit Beiträgen voll belegten Jahren 1955 und 1956 und der Zeit von Januar 1957 bis November 1959 hat die Klägerin Versicherungszeiten von insgesamt 59 Monaten. Den an der Erfüllung der besonderen Wartezeit fehlenden 60. Monat hat das LSG durch eine zulässige Verschiebung von Beiträgen gewonnen. Welchen Zeiten freiwillig entrichtete Beiträge zuzurechnen sind, richtet sich nach dem Willen des Versicherten. Fehlt es an einer eindeutigen Willenserklärung - in den Entwertungsdaten allein muß eine solche nicht gesehen werden -, so kommt es auf den den Umständen zu entnehmenden mutmaßlichen Willen zur Zeit der Beitragsentrichtung an (BSG SozR RVO § 1264 aF Nr. 5). Geht man von diesen in ständiger Rechtsprechung angewandten Grundsätzen aus, so sind die mit Entwertungsdaten von Januar 1957 bis November 1959 versehenen Monatsbeitragsmarken nicht den bezeichneten Monaten, sondern dem jeweils folgenden Monat zuzurechnen. Die Klägerin hatte nämlich den Monat Januar 1957 bereits mit einem Wochenbeitrag belegt, der sowohl nach § 1262 Abs. 2 RVO aF als auch nach § 1250 Abs. 2 RVO nF einem Beitrag für einen vollen Kalendermonat gleichkam. Es entsprach nicht ihrem wohlverstandenen Interesse und deshalb auch nicht ihrem mutmaßlichen Willen, diesen Monat auch noch mit einem Monatsbeitrag zu belegen; denn für sie kam es in erster Linie auf die Erfüllung der Wartezeit und erst in zweiter Linie auf eine Erhöhung der Beitragsleistung an. Gegen die Wirksamkeit des für Januar 1957 entrichteten Wochenbeitrags bestehen, obwohl seit der mit dem 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Neuregelung nur noch Monatsbeiträge vorgesehen sind (§ 1388 RVO nF), keine Bedenken; denn vor der Verkündung des ArVNG waren für die ArV keine anderen Werte als Wochenbeitragsmarken erhältlich (vgl. Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Erl. zu § 1387 RVO; Verbandskommentar, Erl. 1 zu § 1387 und Erl. zu § 1388 RVO). Ist es somit gerechtfertigt, die für Januar 1957 entwertete Beitragsmarke dem Monat Februar zuzurechnen und dementsprechend auch die folgenden Beiträge jeweils um einen Monat zu verschieben, so erreicht die Klägerin die erforderlichen 60 Beitragsmonate. Auf eine Entscheidung, ob die teilweise zweifache Belegung des Monats Dezember 1956 zu einer weiteren Verschiebung der Beitragszeiten führen kann, kommt es hiernach nicht mehr an.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet und muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen