Leitsatz (amtlich)
Wird die Berufung durch eine vor Ablauf der Berufungsfrist eintretende Gesetzesänderung statthaft, so gilt das im Zweifel auch, wenn sie schon vorher eingelegt war.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 6 Fassung: 1979-10-18, § 4 Abs 6 Fassung: 1986-08-26; SGG §§ 143, 148, 151 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.12.1986; Aktenzeichen L 11 Vs 1766/86) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 14.05.1986; Aktenzeichen S 7 Vs 1504/85) |
Tatbestand
Der Kläger erstrebt als Schwerbehinderter die Anerkennung des Merkmals "aG" - außergewöhnliche Gehbehinderung - als Voraussetzung für eine Parkerleichterung. Das Sozialgericht (SG) hat die gegen die Ablehnung (Bescheid vom 4. September 1984, Widerspruchsbescheid vom 26. August 1985, Ausführungsbescheide vom 16. und 24. Juli 1986) gerichtete Klage aufgrund mündlicher Verhandlung abgewiesen (Urteil vom 14. Mai 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die am 18. Juli 1986 bei ihm eingegangene Berufung des Klägers gegen das am 7. Juli 1986 zugestellte Urteil des SG verworfen (Urteil vom 8. Dezember 1986). Es hat das Rechtsmittel, das das Vordergericht nicht zugelassen hatte, nach § 3 Abs 6 Satz 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in der zur Zeit der Berufungseinlegung geltenden Fassung als ausgeschlossen angesehen und eine Zulässigkeit entsprechend § 150 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verneint. Die erst ab 1. August 1986 geltende Fassung des § 4 Abs 6 SchwbG 1986, wonach die Berufung in Fällen dieser Art uneingeschränkt statthaft ist, sei auf diesen Fall nach ständiger Rechtsprechung noch nicht anzuwenden.
Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung von §§ 143, 148 Nr 3, 151 SGG und von § 3 Abs 6 SchwbG 1986. Nach seiner Auffassung hätte das LSG in der Sache entscheiden müssen. Die am 1. August 1986 in Kraft getretene Neuregelung sei auf diesen Fall anzuwenden, weil zu diesem Zeitpunkt die Berufungsfrist noch nicht verstrichen gewesen sei.
Der Kläger beantragt, den Rechtsstreit unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen; hilfsweise regt er an, die Sache dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Entscheidung vorzulegen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Prozeßurteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zur Sachentscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hätte die Berufung nicht nach § 158 Abs 1 SGG als unzulässig verwerfen dürfen. Der Rechtsstreit betrifft eine vom Versorgungsamt zu treffende Feststellung des gesundheitlichen Merkzeichen "außergewöhnliche Gehbehinderung" ("aG"), die Voraussetzung für verschiedene Parkerleichterungen (§ 3 Abs 4 SchwbG idF des Art 1 Nr 4 Buchstabe d des Ersten Gesetzes zur Änderung des SchwbG vom 24. Juli 1986 -BGBl I 1110-, vorher idF seit dem Gesetz vom 18. Oktober 1979 -BGBl I 1649-; jetzt § 4 Abs 4 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986 -BGBl I 1421-; dazu BSG SozR 3870 § 3 Nrn 11 und 18). Für diese Streitigkeiten ist nach § 51 Abs 4 SGG iVm § 3 Abs 6 Satz 1 SchwbG 1979 und § 4 Abs 6 Satz 1 SchwbG nF der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben und deshalb die Berufung nach § 143 SGG statthaft, weil nichts anderes vorgeschrieben ist. § 4 Abs 6 Satz 2 SchwbG nF enthält mit der Verweisung auf die Sondervorschriften des Kriegsopferrechts im SGG mit Ausnahme des § 148 keine Abweichung von jener Regel.
Die Neufassung des § 4 Abs 6 SchwbG ist am 1. August 1986 in Kraft getreten (Art 10 Satz 1). Sie regelte die Berufung des Klägers deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt die für sie in § 151 Abs 1 SGG vorgeschriebene Anfechtungsfrist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils (§ 63 SGG) - 7. Juli 1986 - noch nicht abgelaufen war. Diese endete erst am 7. August 1986 (§ 64 Abs 1 und 2 SGG). Mit jener Rechtsänderung trat die vorher geltende Regelung des § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG 1979 außer Kraft, nach der die Berufung in Fällen dieser Art nicht zulässig - Halbsatz 1 -, aber § 150 SGG entsprechend anzuwenden war - Halbsatz 2 -. Diese Einschränkung galt zwar noch, als der Kläger seine Berufung am 18. Juli 1986 einlegte. Aber das zur Zeit dieser Prozeßhandlung geltende Verfahrensrecht ist nach gefestigter Rechtsprechung und Lehre nur grundsätzlich bestimmend dafür, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (Urteil des Senats vom 23. Februar 1987 - 9a RVs 1/86 - mN; BSG SozR Nr 3 zu § 143 SGG; 1500 § 146 Nrn 5 und 6; BSGE 37, 64, 65; BSGE 58, 291, 294 = SozR 1500 § 144 Nr 30). Dieser Grundsatz wird für Fälle wie den gegenwärtigen durch einen anderen ergänzt. Nach diesem Zeitpunkt geändertes Verfahrensrecht ist maßgebend, wenn es während des Zeitraumes in Kraft getreten ist, in dem das Rechtsmittel noch eingelegt werden konnte. Das gilt jedenfalls, wenn - wie hier - neues Recht zugunsten des Rechtsmittelklägers während der Rechtsmittelfrist wirksam wird.
Bei einer derartigen Verfahrenslage treffen die wesentlichen Rechtfertigungsgründe für den zuvor genannten, auf einen bestimmten Zeitpunkt abstellenden Rechtsgrundsatz nicht zu: Bei der Einlegung des Rechtsmittels mußte und konnte in diesem besonderen Fall nicht - unbeschadet einer nachträglichen Verfahrensrüge nach § 150 Nr 2 SGG - feststehen, ob alle Voraussetzungen für die Zulässigkeit desselben gegeben sind oder nicht vorliegen; das Rechtsmittelgericht konnte nicht alsbald darüber entscheiden; und der Rechtsmittelgegner konnte sich in jenem Zeitpunkt noch nicht darauf verlassen, daß ihm durch eine Rechtskraft des angefochtenen Urteils, unangefochten durch eine - zulässige - Berufung, die durch das Vordergericht geregelte Rechtslage endgültig zugute käme.
Bis zum Ende der Berufungsfrist besteht immer ein Schwebezustand. in dieser Zeit kann der Eintritt der Rechtskraft der Urteile durch eine Berufung gehemmt werden (Suspensiveffekt: Stein/Jonas/Grunsky, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl, 1977, Allgemeines, Einleitung I, 2 zum Dritten Buch, Rz 2; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl 1986, S 850 f, 859). Daher ist eine Rechtsmittelerweiterung während der Rechtsmittelfrist rechtserheblich. Der Kläger hätte sogar bis zum Fristablauf die Berufung unter der Herrschaft des erst am 1. August 1986 in Kraft getretenen Rechts wiederholen können. Nachdem das Urteil des SG in seiner Gegenwart am 14. Mai 1986 verkündet worden war, hätte er sich über das laufende Gesetzgebungsverfahren unterrichten können, in dem bereits eine uneingeschränkte Eröffnung der Berufung für Fälle dieser Art vorgesehen wurde. Der 11. Ausschuß des Deutschen Bundestages stimmte in seinem Beschluß vom 18. Juni 1986 (BT-Drucks 10/5673), erläutert im Bericht vom 19. Juni 1986 (BT-Drucks 10/5701), der Streichung der Sätze 3 und 4 des § 3 Abs 6 SchwbG zu, die in den Gesetzesentwürfen der SPD vom 10. Juli 1984 (BT-Drucks 10/1731) - Art 1 Nr 2 Buchstabe d - und der Bundesregierung vom 3. April 1985 - nach Zustimmung des Bundesrates (BT-Drucks 10/3138) - Art 1 Nr 4 Buchstabe f, bb - übereinstimmend vorgeschlagen wurde. Das Bundesgesetzblatt mit dem am 24. Juli 1986 verkündeten Gesetz wurde am 30. Juli 1986 ausgegeben, und die Zeitschrift des Verbandes, der den Kläger vertrat ("Reichsbund"), wies in der Juli-Ausgabe auf den Gesetzesbeschluß hin. In Kenntnis dessen und damit des auch zuletzt vorgeschlagenen und beschlossenen Inkrafttretens am 1. August 1986 hätte der Kläger vorsorglich die Berufung nach diesem Tag im letzten Abschnitt der Frist erstmalig einlegen oder wiederholen können. Grundsätzlich darf eine Rechtsmittelfrist so ausgeschöpft werden, daß noch gerade bei normaler Bearbeitung der Postsache mit einem fristgerechten Eingang beim Rechtsmittelgericht gerechnet werden kann (st Rspr, zB BSGE 38, 248, 356 f = SozR 1500 § 67 Nr 1; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl 1987, § 67, Rz 6). Der Beteiligte, der ein Rechtsmittel schon vor dem Inkrafttreten einer neuen, für ihn günstigen Vorschrift über die Zulässigkeit einlegt und danach nicht mehr wiederholt, darf nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 Grundgesetz) nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der dies zufällig oder mit Bedacht erst unter der Herrschaft der neuen Regelung rechtzeitig vor Fristablauf besorgt. Dies gebietet eine verfassungskonforme Anwendung des für die Zulässigkeit maßgebenden Verfahrensrechts. Vor Ablauf der Berufungsfrist hätte das LSG noch nicht über die vor dem 1. August 1986 eingelegte Berufung entscheiden und durch eine Verwerfung nach früherem Recht die Rechtskraft des angefochtenen Urteils eintreten lassen können. Falls dies dennoch geschehen wäre, hätte sich die Entscheidung auf das bereits eingelegte Rechtsmittel beschränkt. Falls es nach der Rechtsänderung noch fristgerecht wiederholt worden wäre, hätte darüber jedenfalls erneut entschieden werden müssen. Solange ein statthaftes Rechtsmittel fristgerecht eingelegt werden kann, kann der Gegner nicht darauf vertrauen, daß die ihm von der Vorinstanz zugesprochene Rechtsstellung rechtskräftig ist oder wird.
Unschädlich für die Zulässigkeit der Berufung ist, daß das Urteil zur Zeit seines Wirksamwerdens durch Verkündung nach früherem Recht nur begrenzt anfechtbar war. Auf diese Rechtslage kommt es auch nicht einmal nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz an, der das zur Zeit der Rechtsmittelerhebung geltende Recht für die Zulässigkeit der Anfechtung maßgeblich sein läßt, der hier aber durch einen anderen Grundsatz verdrängt wird. Auch eine ursprünglich fehlende Beschwer kann durch eine Rechtsänderung vor Ablauf einer Berufungsfrist herbeigeführt werden und damit das Rechtsmittel zulässig machen (OLG Hamm, NJW 1978, 277).
Entgegen der Ansicht der Klägers ist der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nicht anzurufen, weil keine Entscheidung der obersten Bundesgerichte bekannt geworden ist, von der dieses Urteil abweicht.
Das LSG hat nunmehr über das Sachbegehren des Klägers zu entscheiden (vgl dazu Urteil des Senats vom 9. März 1988 - 9/9a RVs 15/87 -) und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen