Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 01.04.1992) |
SG Kiel (Urteil vom 12.09.1990) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. April 1992 insoweit aufgehoben, als es das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 12. September 1990 geändert hat.
Die weitergehende Revision des Klägers wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger ein Drittel seiner außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im ürigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist als Arzt für Allgemeinmedizin zur kassenärztlichen (vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen. Seine Honoraranforderungen wurden von den zuständigen Prüfungsausschüssen für die ersten drei Quartale des Jahres 1986 bei den physikalisch-medizinischen Leistungen und den Laborleistungen sowie für das vierte Quartal 1986 bei den Gesamtleistungen wegen Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise gekürzt. Der beklagte Beschwerdeausschuß hob die Kürzungen bei Laborleistungen in den Quartalen I/86 und II/86 auf, ermäßigte einen Teil der Kürzungsbeträge für das Quartal III/86 und wies die Widersprüche des Klägers im übrigen zurück (Bescheid vom 28. April 1988).
Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) Kiel hat den Widerspruchsbescheid wegen Ermessensfehlern bei der Festlegung des Kürzungsumfangs aufgehoben und den Beklagten zur Neubescheidung verpflichtet (Urteil vom 12. September 1990). Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil geändert und unter Abweisung der Klage im übrigen die Bescheide der Prüfungsausschüsse vom 14. Juli 1986, 15. Oktober 1986, 19. Januar 1987 und 15. April 1987 sowie den Widerspruchsbescheid vom 28. April 1988 insoweit aufgehoben, als sie den Umfang der Kürzung betreffen (Urteil vom 1. April 1992).
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht ausgeführt, das SG habe der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Keine Einwände bestünden allerdings gegen die Feststellung der Prüfgremien, daß die Behandlungsweise des Klägers in den beanstandeten Punkten unwirtschaftlich gewesen sei. Rechtswidrig sei allein die Kürzungsentscheidung als solche, weil der Beklagte das ihm bei der Festlegung des Kürzungsumfangs zustehende Ermessen nicht ausgeübt habe. Im Hinblick darauf, daß Verwaltungsakte eine nach Grund und Betrag von Forderungen voneinander abschichtbare Struktur aufwiesen, und aus Gründen der Verfahrensökonomie sei die Aufhebung auf den Teil des angefochtenen Bescheides zu beschränken gewesen, der die Höhe der Kürzung betreffe. Mit dieser Maßgabe seien andererseits nicht nur der Widerspruchsbescheid, sondern auch die Bescheide des Prüfungsausschusses aufzuheben gewesen, nachdem sich die Anfechtungsklage gemäß § 95 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf sie erstrecke.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 202 SGG iVm § 536 der Zivilprozeßordnung (ZPO) sowie (sinngemäß) des § 368n Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis 31. Dezember 1988 geltenden Fassung. Dadurch, daß es entgegen dem erstinstanzlichen Urteil die Aufhebung des Widerspruchsbescheides auf den Kürzungsumfang beschränkt habe, habe das Berufungsgericht gegen das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers verstoßen. In der Sache selbst seien die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zur Wirtschaftlichkeitsprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht beachtet und Praxisbesonderheiten zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. April 1992 zu ändern und die Honorarkürzungsbescheide vom 14. Juli 1986, 15. Oktober 1986, 19. Januar 1987 und 15. April 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 1988 in vollem Umfang aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.
Er hält das Rechtsmittel für unzulässig, weil das LSG die Revisionszulassung gegenständlich beschränkt und der Kläger bezüglich der zur Entscheidung gestellten Rechtsfrage keine Revisionsrügen erhoben habe. In der Sache sei das angefochtene Urteil zutreffend; die vom Kläger behauptete Schlechterstellung (reformatio in peius) liege nicht vor.
Die übrigen Beteiligten haben keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig.
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten nicht daraus, daß auf die Rechtsfrage, deretwegen das Berufungsgericht die Revision zugelassen hat (Zulässigkeit einer Teilaufhebung eines nach Grund und Höhe streitigen Honorarkürzungsbescheides) in der Revisionsbegründung nicht eingegangen wird. Der Einwand des Beklagten geht schon deshalb fehl, weil das LSG mit den entsprechenden Ausführungen in den Urteilsgründen ersichtlich nicht etwa die Zulassung der Revision auf die betreffende Rechtsfrage beschränken, sondern lediglich die Revisionszulassung näher begründen wollte. Angesichts dessen ist es ohne Bedeutung, daß eine Beschränkung der Revisionszulassung auf die Entscheidung einer bestimmten Rechtsfrage ohnedies unwirksam und damit rechtlich unbeachtlich wäre (BSG SozR Nr 170 zu § 162 SGG). Da der Kläger im übrigen die Verletzung materiellen Rechts formgerecht iS des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG gerügt hat, bestehen gegen die Zulässigkeit des Rechtsmittels keine Bedenken.
Die Revision ist auch teilweise begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Das LSG hat dieses Urteil auf die Berufung des Klägers in zweierlei Hinsicht geändert: Zum einen hat es – insoweit hinter der Entscheidung des SG zurückbleibend – die Aufhebung des Widerspruchsbescheides auf den Ausspruch zur Höhe der Kürzung beschränkt; zum anderen hat es – insoweit über die Entscheidung des SG hinausgehend – nicht nur den Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses, sondern auch die zugrunde liegenden Bescheide des Prüfungsausschusses (richtig: der Prüfungsausschüsse) in dem vorbezeichneten Umfang aufgehoben.
Was den zuerst genannten Punkt betrifft, muß das Berufungsurteil schon deshalb aufgehoben werden, weil es, wie die Revision mit Recht rügt, gegen das gemäß § 202 SGG iVm § 536 ZPO auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltende Verbot der reformatio in peius verstößt. Dieses Verbot besagt, daß der Berufungskläger nicht schlechter gestellt werden darf, als ihn das mit der Berufung angegriffene Urteil gestellt hat, es sei denn, der Beklagte oder ein anderer Beteiligter hätte ebenfalls Rechtsmittel eingelegt. Hier hatte das SG den Bescheid des Beklagten vom 28. April 1988 in vollem Umfang und mithin auch insoweit aufgehoben, als er Feststellungen zur Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise enthielt. Indem das LSG diese vollständige in eine bloß partielle Aufhebung umgewandelt und die Klage im übrigen abgewiesen hat, hat es das erstinstanzliche Urteil zum Nachteil des Klägers als des alleinigen Berufungsführers abgeändert. Die mit der Revisionszulassung aufgeworfene Frage, ob eine auf die Kürzungshöhe beschränkte Teilaufhebung des Honorarkürzungsbescheides rechtlich zulässig ist, was voraussetzen würde, daß es sich bei der Feststellung der Unwirtschaftlichkeit auf der einen und der Bestimmung des Kürzungsumfangs auf der anderen Seite um selbständig anfechtbare, isolierter Bindung fähige Teilentscheidungen und nicht bloß um unselbständige Begründungselemente eines einheitlichen Verwaltungsaktes handelt, kann bei dieser Sachlage auf sich beruhen.
Das angegriffene Urteil kann darüber hinaus aber auch insoweit keinen Bestand haben, als es die Teilaufhebung bezüglich der Kürzungshöhe auf die Bescheide der Prüfungsausschüsse erstreckt hat. Eine gerichtliche Anfechtung der im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung von den Prüfungsausschüssen erlassenen Bescheide scheidet – von bestimmten, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen – aus Rechtsgründen aus; die darauf gerichtete Klage ist unzulässig.
Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, der sich der zeitweilig für das Kassenzahnarztrecht zuständig gewesene 14a-Senat des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen hat (BSGE 72, 214, 219 ff = SozR 3-1300 § 35 Nr 5), ist Gegenstand eines Rechtsstreits in Angelegenheiten der Wirtschaftlichkeitsprüfung grundsätzlich allein der vom Beschwerdeausschuß erlassene Verwaltungsakt. Erweist sich dieser als rechtswidrig, so ist allein er und nicht auch ein ihm vorausgegangener – ebenfalls rechtswidriger – Bescheid des Prüfungsausschusses aufzuheben; der Beschwerdeausschuß hat dann unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und in Wahrnehmung der ihm zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume über den „Widerspruch” gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses erneut zu entscheiden (BSGE 55, 110, 115 = SozR 2200 § 368n Nr 27 S 85; SozR aaO Nr 36 S 118; SozR aaO Nr 44 S 148; BSGE 62, 24, 31 f = SozR aaO Nr 48 S 164; SozR aaO Nr 49 S 165). Etwas anderes könnte nur in Fällen gelten, in denen der Beschwerdeausschuß seinerseits ausnahmsweise gehalten wäre, den angefochtenen Bescheid des Prüfungsausschusses aufzuheben, etwa weil eine Zuständigkeit der Prüforgane nicht gegeben war (vgl BSGE 60, 69, 74 = SozR 2200 § 368n Nr 42) oder der für die Einleitung des Prüfverfahrens notwendige Prüfantrag fehlte (vgl BSGE 72, 214, 221 = SozR 3-1300 § 35 Nr 5). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.
Die aufgezeigte Rechtsprechung knüpft an die spezifische normative Ausgestaltung des Verfahrens vor dem Beschwerdeausschuß an. Wie der Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom heutigen Tage in der Sache 6 RKa 5/92 nochmals im einzelnen dargelegt hat, handelt es sich dabei nach der Konzeption des Gesetzes (§ 368n Abs 5 Sätze 5 bis 8 RVO; vgl jetzt: § 106 Abs 5 Sätze 4 bis 7 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫) um ein eigenständiges und umfassendes Verwaltungsverfahren in einer zweiten Verwaltungsinstanz, das nicht mit dem Widerspruchsverfahren des SGG identisch ist und lediglich im Hinblick auf die prozessualen Erfordernisse des § 78 Abs 1 SGG die Funktion eines Vorverfahrens erfüllt. Diese vom herkömmlichen Aufbau eines Verwaltungsverfahrens abweichende Ausgestaltung trägt dem Umstand Rechnung, daß es sich bei den Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen um rechtlich und organisatorisch verselbständigte Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen handelt, denen das Gesetz die Beteiligtenfähigkeit im Prozeß und damit zugleich im Rahmen ihrer Sachkompetenz die Prozeßführungsbefugnis einräumt (§ 70 Nr 4 iVm § 51 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGG). Sie hat zur Folge, daß der Beschwerdeausschuß mit seiner Anrufung für die streitbefangene Wirtschaftlichkeitsprüfung funktionell ausschließlich zuständig wird und die auf das Widerspruchsverfahren des SGG zugeschnittene Vorschrift des § 95 SGG keine Anwendung findet.
Gegenstand der Anfechtungsklage im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist danach nicht der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Bescheides des Beschwerdeausschusses, sondern allein letzterer. Soweit das Berufungsgericht die Ausgangsbescheide vom 14. Juli 1986, 15. Oktober 1986, 19. Januar 1987 und 15. April 1987 gleichwohl hinsichtlich des Kürzungsumfangs ebenfalls aufgehoben hat, kann seine Entscheidung nicht bestehen bleiben.
Mit der Aufhebung des Berufungsurteils auch in diesem Umfange, verstößt der Senat nicht seinerseits gegen das Verbot der reformatio in peius; denn die partielle Aufhebung auch der Bescheide der Prüfungsausschüsse durch das LSG hat nur scheinbar eine verfahrensrechtliche Besserstellung, in Wirklichkeit jedoch eine Verschlechterung der durch das erstinstanzliche Urteil geschaffenen Rechtsposition des Klägers bewirkt. Da auf der Grundlage der Entscheidung des Berufungsgerichts der die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit betreffende Teil der Bescheide der Prüfungsausschüsse in Bindung erwachsen würde, wären diese und im Falle seiner erneuten Anrufung auch der Beschwerdeausschuß nur noch zur Entscheidung über die Kürzungshöhe berufen, wohingegen nach dem Urteil des SG zwar nur der Beschwerdeausschuß, dieser aber in vollem Umfang über die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise erneut zu befinden hat. Dies allein trägt aber dem sachlichen Begehren des Klägers Rechnung. Angesichts dessen kann offenbleiben, ob das Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers auch für den Fall gilt, daß die ihn begünstigende Entscheidung – wie hier die Aufhebung der Entscheidungen der Prüfungsausschüsse durch das LSG – trotz Fehlens zwingender, von Amts wegen zu beachtender Prozeßvoraussetzungen ergangen ist (dazu Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 123 RdNr 5 mwN).
Unbegründet ist die Revision, soweit mit ihr über das erstinstanzliche Urteil hinausgehend die vollständige und endgültige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird. Die vom LSG festgestellten Tatsachen schließen es nicht aus, daß der Beklagte das Honorar des Klägers für die im Streit befindlichen Abrechnungsquartale erneut kürzt. Wie sich aus den Prüflisten ergibt, lag der Fallwert des Klägers bei den physikalisch-medizinischen Leistungen in den Quartalen I/86 bis III/86 um 2,5 bis 3 Standardabweichungen, bei den Laborleistungen im Quartal III/86 um 2,5 Standardabweichungen und bei den Gesamtleistungen im Quartal IV/86 um 2,2 Standardabweichungen über dem Fachgruppendurchschnitt. Dieser ist damit in einem Ausmaß überschritten, das jedenfalls den Verdacht auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise nahelegt. Die Auffassung der Revision, daß eine Kürzung ausscheide, weil bei den genannten Abweichungen mit statistischen Methoden der Nachweis der Unwirtschaftlichkeit nicht geführt werden könne, ist rechtsirrig. Sie verkennt, daß sich nicht allein nach statistischen Kriterien, sondern erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten beurteilen läßt, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses und damit den Schluß auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen (vgl dazu im einzelnen das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 6 RKa 18/92). Ob sich im konkreten Fall der Verdacht auf eine Unwirtschaftlichkeit bestätigt und in welcher Höhe ggf eine Kürzung vorzunehmen ist, wird der Beklagte nunmehr erneut zu prüfen und zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis 31. Dezember 1992 geltenden, im Hinblick auf den Zeitpunkt der Revisionseinlegung hier noch anzuwendenden Fassung.
Fundstellen