Leitsatz (amtlich)
1. Wird das Vorliegen von Berufsunfähigkeit verneint, so muß sich aus dem Urteil ergeben, daß die nach AVG § 23 Abs 2 (= RVO § 1246 Abs 2) rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen fehlen.
2. Genügt ein Urteil diesen Erfordernissen nicht, so verstößt es gegen SGG § 136 Abs 1 Nr 6 und enthält damit einen wesentlichen Mangel des Verfahrens iS von SGG § 162 Abs 1 Nr 2; ob darin auch ein absoluter Revisionsgrund iS von ZPO § 551 Nr 7 iVm SGG § 202 liegt, bleibt offen.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 128; ZPO § 551 Nr. 7; AVG § 23 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Juli 1973 aufgehoben, soweit dieses die Berufung der Klägerin zurückgewiesen hat.
Insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die 1923 geborene Klägerin legte 1941 die Kaufmannsgehilfenprüfung ab und war anschließend vorwiegend als Buchhalterin versicherungspflichtig beschäftigt. Zwischen 1947 und 1955 betrieb sie mit ihrem Ehemann ein eigenes Unternehmen. Seit 1956 arbeitete sie wieder als kaufmännische Angestellte. Infolge fehlender Hormontherapie nach einer Strumektomie im Februar 1968 kam es zu einem körperlichen und psychischen Zusammenbruch, der zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit der Klägerin führte. Von Mai 1969 bis Januar 1970 war die Klägerin halbtags als Buchhalterin bei einem Musikverlag beschäftigt. Aus dem von der Beklagten wegen eines psycho-physischen Erschöpfungszustandes, neurozirkulatorischer Dystonie und eines Zustandes nach Strumektomie bewilligten Heilverfahren wurde die Klägerin am 7. März 1970 als arbeitsfähig für täglich vier Stunden Büroarbeit entlassen.
Die von der Klägerin im Juni 1970 beantragte Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. August 1970 ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege. Die Klage hat das Sozialgericht (SG) München durch Urteil vom 6. April 1972 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit vom 6. August bis 30. September 1970 zu zahlen. Es hat im übrigen die Berufung zurückgewiesen und ausgeführt: Nach den Bekundungen der medizinischen Sachverständigen liege keine dauernde Berufsunfähigkeit vor. Seit September 1970 habe die Klägerin dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung gestanden und seit Oktober 1971, wenn auch mit Unterbrechungen, Halbtagsbeschäftigungen als Bürokraft ausgeübt. Unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Kenntnisse könne die Klägerin auch auf Tätigkeiten im Rahmen der Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe halbtags verwiesen werden. Dabei sei an Sekretariatsarbeiten, an die Überprüfung von Sach- und Kontokorrentkonten mit den damit zusammenhängenden Arbeiten sowie an Arbeiten der Korrespondenz zu denken. Zur Verrichtung solcher Halbtagsarbeiten sei die Klägerin gesundheitlich in der Lage.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Die Klägerin hat nach Bewilligung des Armenrechts dieses Rechtsmittel gleichwohl eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Dem angefochtenen Urteil fehlten die für eine Verweisung auf mögliche Halbtagstätigkeiten notwendigen tatsächlichen Feststellungen, aus denen entnommen werden könne, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin bei halbtägiger Verrichtung der genannten Beschäftigungen noch die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines gesunden vergleichbaren Versicherten erreiche. Das LSG sei somit zu Schlußfolgerungen gelangt, ohne erkennbar deren tatsächliche Voraussetzungen geprüft und festgestellt zu haben.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Urteils des SG München vom 6. April 1972 und des Bescheides der Beklagten vom 25. August 1970 die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit ab Antrag zu verurteilen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig; mit ihr wird frist- und formgerecht ein tatsächlich gegebener (BSG 1, 150 (152 f)) wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Mit Recht macht die Revision geltend, daß das angefochtene Urteil nicht in dem nach § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG erforderlichem Maße (vgl. SozR Nr. 9 zu § 136 SGG) Entscheidungsgründe enthält; das LSG hat ferner nicht alle tatsächlichen Feststellungen getroffen, auf die es von seinem Rechtsstandpunkt aus ankam, und somit auch § 128 SGG verletzt. Zwar ist dem angefochtenen Urteil zu entnehmen, daß das LSG eine dauernde Berufsunfähigkeit (§ 23 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) im Ergebnis verneint hat; nicht ersichtlich ist jedoch, welche Gründe das LSG insgesamt zu dieser Auffassung bewogen haben. Aus dem Urteil ergibt sich nicht, daß die nach § 23 Abs. 2 AVG rechtserheblichen Anspruchsvoraussetzungen hier fehlen. So ist bereits offengeblieben, was nach Ansicht des LSG als bisheriger Beruf der Klägerin anzusehen ist und inwieweit die Klägerin noch in der Lage ist, diesen Beruf auszuüben. Es mag sein, daß das LSG Ausführungen dazu für entbehrlich gehalten hat, weil die Klägerin jedenfalls noch andere Verweisungstätigkeiten halbtags auszuüben vermöge. Dann hätte das LSG jedoch darlegen müssen, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in einem solchen Halbtagsberuf mindestens die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines mit ihr vergleichbaren gesunden Versicherten i. S. von § 23 Abs. 1 Satz 1 AVG erreicht. Hierzu ist im angefochtenen Urteil nichts gesagt. Das ist aber nicht selbstverständlich. Wird etwa als bisheriger Beruf der Klägerin i. S. des § 23 Abs. 2 AVG der Beruf der Maschinenbuchhalterin zugrundegelegt und hiernach die Erwerbsfähigkeit der Vergleichsperson bestimmt, so ist fraglich, ob eine halbtägige Verweisungstätigkeit in sonstigen Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen der Klägerin mindestens die Hälfte des Verdienstes der maßgebenden Vergleichsperson verschaffen könnte. Der nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG erforderliche Vergleich zwischen der Erwerbsfähigkeit der Klägerin und der der Vergleichsperson ist vom LSG nicht vorgenommen worden; jedenfalls enthält das Urteil hierzu weder tatsächliche Feststellungen noch rechtliche Erwägungen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die der Vorschrift des § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG nicht genügende Urteilsbegründung immer auch einen absoluten Revisionsgrund i. S. der §§ 551 Nr. 7 Zivilprozeßordnung, 202 SGG bildet. Denn auch wenn man das verneint, läßt sich nicht ausschließen, daß das Urteil des LSG, zumal ausreichende tatsächliche Feststellungen fehlen, auf dem gerügten Verfahrensmangel beruht. Das Urteil des LSG ist deshalb aufzuheben, soweit es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen hat. Insoweit ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, da der Senat selbst nicht abschließend in der Sache entscheiden kann.
Bei seiner erneuten Entscheidung hat das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Fundstellen