Entscheidungsstichwort (Thema)
Beanstandungsschutz (= Bestandsschutz). Offenbare Unrichtigkeit der Versicherungskarte
Leitsatz (amtlich)
Der Beanstandungsschutz des AVG § 145 Abs 2 (= RVO § 1423 Abs 2 bewirkt, daß der Versicherungsträger nach Ablauf der mit der Aufrechnung der Versicherungskarte beginnenden 10-Jahresfrist die einer Entgeltbescheinigung zu entnehmenden Beiträge als im Lohnabzugsverfahren wirksam entrichtet gelten lassen muß.
Normenkette
AVG § 145 Abs. 2; RVO § 1423 Abs. 2; SGG § 138
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. März 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist der Umfang des durch § 145 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (§ 1423 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gewährten Beanstandungsschutzes.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) erhielt der Kläger als Verwaltungsangestellter der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hamburg auch während seines Wehrdienstes (1940 bis 1945) Friedensgebührnisse. Seine am 26. Februar 1942 ausgestellte und am 4. April 1944 aufgerechnete Versicherungskarte Nr. 6 enthält für die Zeit von März 1942 bis Februar 1944 insgesamt 24 Beitragsmarken (23 der Klasse H und 1 der Klasse J) sowie auf einem der für das Lohnabzugsverfahren üblichen Einlagebogen Entgeltbescheinigungen für die Zeit vom 1. Juli 1942 bis 29. Februar 1944. Bei der Berechnung des ihm ab 1. Februar 1972 gewährten Altersruhegeldes berücksichtigte die Beklagte den Entgelteintragungen entsprechende Pflichtbeiträge und die auf dieselbe Zeit entfallenden Beitragsmarken als Höherversicherungsbeiträge. Während des Klageverfahrens berechnete sie das Altersruhegeld neu - und zwar höher - dergestalt, daß sie nun die durch Beitragsmarken entrichteten Beiträge als Pflichtbeiträge anrechnete, die Entgelteintragungen dagegen unberücksichtigt ließ. Die Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg: Das LSG verurteilte die Beklagte, das Altersruhegeld unter zusätzlicher Berücksichtigung der bescheinigten Arbeitsentgelte neu zu berechnen. Die ursprüngliche Berücksichtigung der Entgelteintragungen als Pflichtbeiträge sei zutreffend gewesen, weil die Aufrechnung der Versicherungskarte länger als 10 Jahre zurückgelegen habe. An dem Charakter dieser Entgelteintragungen habe sich nichts dadurch geändert, daß die Beklagte nunmehr die Beitragsmarken als Pflichtbeiträge behandele. Auch habe der Kläger weder auf den Beanstandungsschutz des § 145 Abs. 2 AVG verzichtet, noch verstoße es gegen Treu und Glauben, wenn er sich hinsichtlich der Entgelteintragungen weiterhin auf diesen Schutz berufe. Zwar seien diese Eintragungen allem Anschein nach versehentlich erfolgt. Da die Beklagte aber schon seit der am 4. April 1944 durchgeführten Aufrechnung im Besitz der Karte gewesen sei, habe sie ihr Recht zur Beanstandung nur bis zum Ablauf der Zehnjahresfrist ausüben können. Der Schutz der einen Eintragung schließe den der anderen auch dann nicht aus, wenn sich beide auf dieselbe Zeit beziehen. Das Gesetz kenne nur eine einzige Ausnahme von diesem Schutz: Die Herbeiführung einer Eintragung in betrügerischer Absicht (§ 145 Abs. 2 Satz 2 AVG). Hierfür bestehe kein Anhalt. Selbst wenn feststehe, daß eine Doppeleintragung vorliege, sei deshalb das Begehren des Klägers, auch die Entgelteintragungen zu berücksichtigen, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gerechtfertigt. Außerdem sei nicht sicher, daß eine Beitragsentrichtung im Lohnabzugsverfahren unterblieben sei. Es könne deshalb dahinstehen, ob die Versicherungskarte trotz der Bedeutung des § 145 Abs. 2 AVG in entsprechender Anwendung des § 138 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) berichtigt werden könne.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 145 Abs. 2 AVG sowie die Nichtanwendung des § 138 SGG. Nach dem Karteninhalt könnten nicht sowohl Pflichtbeiträge im Lohnabzugsverfahren als auch Pflichtbeiträge im Markenverfahren abgeführt worden sein. Bei einem solchen, aus der Versicherungskarte erkennbaren Widerspruch greife der Beanstandungsschutz nicht durch. Es liege eine offenbare, aus dem Inhalt der Versicherungskarte ersichtliche Unrichtigkeit der Entgelteintragung vor. Der in § 138 SGG festgelegte allgemeine Rechtsgedanke aber habe Vorrang vor dem Beanstandungsschutz des § 145 Abs. 2 AVG.
Der Kläger ist vor dem BSG nicht vertreten. Er hat sich jedoch ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, bei der Berechnung des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes außer den in seiner Versicherungskarte Nr. 6 aufgerechneten Markenbeiträgen auch die in dem Einlagebogen zu dieser Versicherungskarte bescheinigten Arbeitsentgelte rentensteigernd zu berücksichtigen. Da die Versicherungskarte bereits im April 1944 aufgerechnet worden ist, hätte die Beklagte die Entgeltbescheinigungen nur bis April 1954 beanstanden können; nach § 145 Abs. 2 Nr. 1 AVG (§ 1423 Abs. 2 Nr. 1 RVO) kann - abgesehen von der hier nicht gegebenen Ausnahme einer in betrügerischer Absicht herbeigeführten Eintragung - nach Ablauf von 10 Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte bei den im Lohnabzugsverfahren abgeführten Beiträgen die Richtigkeit der Eintragung der Beschäftigungszeiten und der Arbeitsentgelte nicht mehr angefochten werden. Das bedeutet, daß dann auch die wirksame Entrichtung der den eingetragenen Arbeitsentgelten entsprechenden Pflichtbeiträge nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Dieser Beanstandungsschutz (auch "Bestandsschutz" genannt) erfaßt sogar Beiträge, die im Lohnabzugsverfahren tatsächlich nicht entrichtet worden sind. Auch dann sind rechtswirksame Pflichtbeiträge entsprechend den Entgelteintragungen anzunehmen; und zwar unabhängig davon, ob die nicht im Lohnabzugsverfahren abgeführten Beiträge auf andere Weise rechtmäßig entrichtet worden sind und gesondert in der Versicherungskarte ausgewiesen werden. Der Versicherungsträger muß also nach Ablauf der in § 145 Abs. 2 AVG festgelegten, mit der Aufrechnung der Versicherungskarte beginnenden Zehnjahresfrist stets die einer Entgeltbescheinigung zu entnehmenden Beiträge als im Lohnabzugsverfahren wirksam entrichtet gelten lassen. Das hat der 4. Senat des BSG bereits in einem Parallelfall mit dem schon vom LSG zitierten Urteil vom 18. August 1971 (4 RJ 187/70) entschieden (ebenso 12. Senat in SozR Nr. 9 zu § 1423 RVO). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen besteht kein Anlaß.
Nicht gefolgt werden kann der von der Revision vertretenen Auffassung, hinsichtlich der Entgeltbescheinigungen bestehe hier ein aus der Versicherungskarte erkennbarer Widerspruch bzw. eine aus dem Karteninhalt ersichtliche Unrichtigkeit, weil nicht sowohl Pflichtbeiträge im Lohnabzugsverfahren als auch Pflichtbeiträge im Markenverfahren abgeführt worden sein könnten, weshalb es sich nur um irrtümlich erstellte Entgeltbescheinigungen handeln könne. Aus den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen zum Inhalt der Versicherungskarte Nr. 6 des Klägers, die von der Revision mit Verfahrensrügen nicht angefochten werden, ergibt sich insoweit weder ein Widerspruch noch eine offenbare Unrichtigkeit. Auch wenn der erkennende Senat den Inhalt dieser Versicherungskarte frei würdigen dürfte, könnte er zu keinem anderen Ergebnis kommen. Daß neben den im Markenverfahren entrichteten Beiträgen keine Beiträge im Lohnabzugsverfahren geleistet worden sein können, läßt sich der Versicherungskarte und ihrem Einlagebogen ebensowenig entnehmen, wie sich daraus ergibt, daß die Entgeltbescheinigungen irrtümlich erstellt worden sind. Andernfalls hätte die Beklagte auch nicht im Verwaltungsverfahren mit Schreiben vom 29. Dezember 1971 bei dem früheren Arbeitgeber des Klägers, der LVA Hamburg, anzufragen brauchen, ob, falls Beiträge im Lohnabzugsverfahren entrichtet worden sein sollten, die für dieselbe Zeit entrichteten Markenbeiträge dann als zur Überversicherung geleistet gelten sollen. Aus der Versicherungskarte und ihrem Einlagebogen ist nicht einmal ersichtlich, daß der Kläger seinerzeit Kriegsdienst geleistet hat. Eine sich unmittelbar aus dem Inhalt der Versicherungskarte ergebende offenbare Unrichtigkeit liegt mithin nicht vor, zumal Beitragsmarken in Klassen verwendet worden sind (fast sämtlich in Klasse H, eine sogar in Klasse J), die einen das in dem Einlagebogen bescheinigte Entgelt wesentlich überschreitenden Wert repräsentieren und deshalb wohl auch die damals bei Beschäftigten im öffentlichen Dienst übliche Überversicherung umfaßt haben. Die Frage, ob Versicherungsunterlagen in entsprechender Anwendung des § 138 SGG berichtigt werden dürfen, konnte das LSG deshalb mit Recht offen lassen; ihrer Beantwortung bedarf es hier nicht.
Nach alledem ist die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen