Entscheidungsstichwort (Thema)
Statthaftigkeit der Berufung. Feststellung der Schwerbehinderung. Sprungrevision
Orientierungssatz
Urteile der Sozialgerichte, welche die Feststellungen über die Voraussetzungen einer unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr nach SchwbG § 3 Abs 4 (iVm UnBefG § 2 Abs 1 Nr 6) betreffen, sind nach SchwbG § 3 Abs 6 S 4 unanfechtbar (vgl BSG vom 1978-09-14 9 RVs 3/77 = Breith 1979, 82). So wie eine Berufung nicht stattfindet, ist auch die Sprungrevision nicht eröffnet. Dieses Rechtsmittel steht einem Beteiligten nur "unter Übergehung der Berufungsinstanz" zu (SGG § 161 Abs 1 S 1). Es muß also an sich die Berufung gegeben sein (vgl BSG 1978-12-06 9 RVs 9/78 = SozR 1500 § 161 Nr 23).
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 4, 6 S. 4; UnBefG § 2 Abs. 1 Nr. 6; SGG §§ 150, 161 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 11.04.1978; Aktenzeichen S 14 V 158/77) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11. April 1978 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Zustand des Klägers ist durch Mongolismus gekennzeichnet. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit wird auf 100 vH geschätzt. Die Versorgungsverwaltung hat es abgelehnt, anzuerkennen, daß der Kläger die Voraussetzungen für die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr erfüllt, erheblich gehbehindert ist und von einer anderen Person begleitet werden muß (§ 3 Abs 4, Abs 5 Satz 1 des Schwerbehindertengesetzes - SchwbG - ; § 2 Abs 1 Nr 6, Abs 2 und 4 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr - UnBefG - vom 27. August 1965, BGBl I 978). Den entsprechenden Ausweis hat die Versorgungsverwaltung nicht ausgestellt (Bescheid vom 20. Januar 1977; Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 1977).
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Es hat die Ursache für eine Gehbehinderung des Klägers in seiner geistig-seelischen Verfassung gesehen und nicht in einer Beeinträchtigung seines Stütz- oder Bewegungssystems. Nur die orthopädisch, nicht aber eine neurologisch bedingte Bewegungseinschränkung vermöge nach der maßgeblichen Definition der Körperbehinderung (§ 39 Abs 1 Nr 1 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - idF vom 31. Juni 1961) das Begehren des Klägers zu rechtfertigen. - Das SG hat die Berufung und die Sprungrevision zugelassen.
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er erblickt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-) darin, daß das Gesetz den geistig-seelisch Behinderten nicht gleichermaßen wie Körperbehinderten entgegenkomme. Wenn das Bundesverfassungsgericht -BVerfG- (BVerfGE 39, 148 = NJW 1975, 1925) diese Rechtslage auch für eine Übergangszeit hingenommen habe, so könne sie doch nunmehr, nachdem seit der Entscheidung des BVerfG dreieinhalb Jahre verflossen seien, nicht mehr gelten. An dem angefochtenen Urteil hat die Revision außerdem auszusetzen, daß es auf einer unbewiesenen Annahme beruhe. Der Vorderrichter sei nämlich nicht der Frage nachgegangen, oh der Mongolismus des Klägers nicht auch mit einer für diese Krankheit symptomatischen Muskel- und Bindegewebsschwäche verbunden sei, welche den Tatbestand der Körperbehinderung ausmache.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und der Klage stattzugeben;
hilfsweise:
das Bundesverfassungsgericht anzurufen zur Beantwortung der Frage, ob die Begrenzung des Personenkreises der Körperbehinderten, die wegen Schwerbehinderung zum unentgeltlichen Nahverkehr berechtigt seien, mit dem Grundgesetz vereinbar sei;
äußerst hilfsweise:
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision des Klägers ist nicht statthaft.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob der mongoloide Kläger wegen seiner Behinderungen die Voraussetzungen einer unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr erfüllt. Die Feststellungen hierüber sind nach Abs 4 des § 3 SchwbG (iVm § 2 Abs 1 Nr 6 UnBefG) zu treffen. Urteile der Sozialgerichte, welche diese Feststellungen betreffen, sind nach § 5 Abs 6 Satz 4 SchwbG unanfechtbar (BSG, Urteil vom 14. September 1978 - 9 RVs 3/77 - ). So wie eine Berufung nicht stattfindet, ist auch die Sprungrevision nicht eröffnet. Dieses Rechtsmittel steht einem Beteiligten nur "unter Übergehung der Berufungsinstanz" zu (§ 161 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Es muß also an sich die Berufung gegeben sein (BSG, Urteil vom 6. Dezember 1978 - 9 RVs 9/78 - ). Daran fehlt es.
Daß der - weitere - Rechtsweg abgeschnitten ist, hat der erkennende Senat in dem oben angeführten, den Beteiligten bekanntgegebenen Urteil aus dem Wortlaut des § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG (" Eine Berufung .... findet nicht statt"), aus der Gegenüberstellung dieser Gesetzesstelle mit den ihr vorangehenden Sätzen und aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes gefolgert. Die vorhergehenden Gesetzesanordnungen zeigen die prozessualen Möglichkeiten im Schwerbehindertenrecht und ihre Schranken auf. Davon hebt sich die hier zu beachtende, in ihrem Inhalt rigorose Regelung so deutlich ab, daß ein Zweifel über ihren Sinn nicht aufkommen kann. Die Gesetzesmaterialien bestätigen, wie in dem Urteil vom 14. September 1978 dargelegt worden ist, diese Deutung. Forscht man nach dem Beweggrund, der den Gesetzgeber zu dieser wenig befriedigenden Lösung bewogen haben mag, dann kann man sich mit der Überlegung abfinden, daß die vom Rechtsmittelausschluß betroffenen Angelegenheiten lediglich Nebenwirkungen einer Schwerbehinderung sind.
Die Revision steht dem Kläger auch nicht wegen des Verlangens nach Erteilung des orangefarbenen Ausweises für den kostenfreien Nahverkehr zur Verfügung. Ob die Berufung und damit die Sprungrevision in dieser Beziehung ebenfalls gemäß § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG verschlossen sind, kann offenbleiben. Jedenfalls fehlt für die Durchführung des Rechtsmittels das Rechtsschutzinteresse. Bereits die Klage ist insoweit unzulässig. Denn der Antrag auf Ausstellung des in Betracht kommenden Ausweises kann nur "aufgrund einer unanfechtbar gewordenen Feststellung" nach Abs 4 des § 5 SchwbG gestellt werden und Erfolg haben (§ 3 Abs 5 Satz 1 SchwbG). Bevor die zunächst zu treffende Feststellung nicht in einem dem Antragsteller günstigen Sinn gegeben ist, ist für das Begehren nach dem Ausweis kein Raum.
Der Senat sieht sich nicht veranlaßt, das BVerfG anzurufen. Dies wäre nur geboten, wenn die Begrenzung des Rechtswegs auf eine Gerichtsinstanz verfassungswidrig sein könnte. Die Endgültigkeit eines erstinstanzlichen Urteils ist jedoch mit dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art 20 GG) und mit dem Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt (Art 19 Abs 4 GG) vereinbar (BVerfGE 41, 23, 26; NJW 1979, 154, 155).
Hiernach ist dem Revisionsgericht die Nachprüfung der vorinstanzlichen Entscheidung in der Sache selbst entzogen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen