Entscheidungsstichwort (Thema)

Auflösung der Umlagekasse "Sicherung gegen Invalidität"

 

Orientierungssatz

1. Die Teilnahme eines Kassenarztes an der Umlagekasse "Sicherung gegen Invalidität" der KÄV Berlin begründet keine durch Art 14 GG geschützte Rechtsposition.

2. Der Kassenarzt kann sich auch nicht auf den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes oder auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen. Die Umlagekasse war nach ihrer Konzeption eine Fürsorgeeinrichtung, die zum Schutz vor dringender Not gegründet worden war. Der für sie maßgebend gewesene Grund ist entfallen, als das 1966 eingeführte Versorgungswerk der Ärztekammer eine ausreichende Versorgung bereitstellte. Bei der geringen Beitragsleistung konnte es sich nur um die Gegenleistung für eine zeitlich begrenzte Absicherung, nicht jedoch um eine Gegenleistung für eine reguläre Altersversorgung gehandelt haben.

3. Die Abwägung des Vertrauensschadens des Kassenarztes und der Bedeutung des Anliegens des Normgebers für die Allgemeinheit (für die Gesamtheit der Mitglieder der KÄV) ergibt, daß das allgemeine Interesse an der Auflösung der Umlagekasse das Interesse des betroffenen Personenkreises an dem Fortbestehen der Kasse überwiegt. Die Umlagekasse und die ihr zugrundeliegenden satzungsrechtlichen Vorschriften entbehrten einer gesetzlichen Ermächtigung. Eine landesrechtliche Regelung iS des Art 4 § 1 Abs 2 S 2 KARG, die allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommen könnte, hat es in Berlin nicht gegeben. Mit der Auflösung der Umlagekasse wurde also eine Anpassung an die Rechtslage vorgenommen.

 

Normenkette

RVO § 368n; KARG Art. 4 § 1 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1955-08-17; SGB 10 § 45 Abs. 2 Fassung: 1980-08-18, § 48 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18; GG Art. 14 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 20.04.1983; Aktenzeichen L 7 Ka 8/80)

SG Berlin (Entscheidung vom 28.05.1980; Aktenzeichen S 71 Ka 42/79)

 

Tatbestand

Es ist streitig, ob der Kläger, der in Berlin als Kassenarzt tätig war, gegen die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) einen Anspruch auf Invaliditätsrente hat.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte die Vertreterversammlung der Beklagten am 2. Dezember 1958 eine Änderung der Satzung beschlossen, wonach sie Maßnahmen zum Schutz von Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern der KÄV Berlin (auch ihrer Rechtsvorgängerin) und deren Hinterbliebenen vor dringender Not treffen konnte (§ 5 Abs 3 der Satzung). Die daraufhin beschlossenen Maßnahmen enthielten ua Bestimmungen über 'Sterbegeld und Garantieeinnahmen' sowie über 'Sicherung gegen Invalidität'. Für die Gewährung der Invaliditätsrente hatte die Beklagte eine Umlagekasse eingerichtet, die von den übrigen Umlagekassen gesondert zu führen war. An dieser Umlagekasse nahmen die Mitglieder der Beklagten nur auf Antrag teil. Nach § 3 der Bestimmungen über die 'Sicherung gegen Invalidität' (InvR-Bestimmungen) idF vom 8. Dezember 1977 betrug die Invaliditätsrente bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres DM 700,-- monatlich, nach Erreichung des 70. Lebensjahres DM 400,-- monatlich, wobei bis zum 70. Lebensjahr bestimmte Einkünfte auf die Rente anzurechnen waren. § 1 Ziff 9 der InvR-Bestimmungen sah vor, daß Ärzte, die bei einer Auflösung der Umlagekasse bereits Invaliditätsrente beziehen, die Rente weitererhalten.

Der Kläger war seit 1959 Teilnehmer dieser Umlagekasse. Seine Beitragsleistungen beliefen sich bis Ende 1977 auf insgesamt DM 1.320,--. Auf seinen Antrag hin beschloß der Vorstand der Beklagten, ihm vom 1. Januar 1978 an die Invaliditätsrente nach Maßgabe der Bestimmungen zu gewähren (Bescheid vom 7. Oktober 1977). Von Januar bis März 1978 bezog er eine Rente von insgesamt DM 2.100,--. Die Weitergewährung der Rente für die Zeit ab April 1978 lehnte die Beklagte wegen anderer Einkünfte des Klägers ab. Diese Entscheidung ist rechtskräftig bestätigt worden (Urteil des LSG vom 17. Februar 1982 - L 7 Ka 11/81 -).

Am 7. Dezember 1978 beschloß die Vertreterversammlung der Beklagten: "Die Umlagekasse 'Sicherung gegen Invalidität' wird gemäß § 5 Ziff 3 der Bestimmungen zum 31. Dezember 1979 aufgelöst, d.h. Leistungen gemäß den genannten Bestimmungen sowie die Altersinvaliditätsrenten (§§ 3 Ziff 1, 4 Ziff 3) werden ab 1. Januar 1980 nicht mehr gewährt". Von diesem Beschluß setzte die Beklagte durch Schreiben vom 15. Mai 1979 alle Teilnehmer der Umlagekasse in Kenntnis. Die Mitteilung enthielt wie der Beschluß keine Ausnahmeregelung für rentenberechtigte Teilnehmer.

Der Kläger hat daraufhin Klage erhoben und festzustellen beantragt, daß der Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 7. Dezember 1978 rechtswidrig und die Beklagte verpflichtet ist, die Invaliditätsrenten über den 1. Januar 1980 hinaus zu gewähren. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil des LSG vom 29. Juli 1981 - L 7 Ka 8/80 - hat der Senat aufgehoben und die Streitsache an die Vorinstanz zurückverwiesen (Urteil des Senats vom 9. November 1982 - 6 RKa 22/81 -). Nun hat der Kläger vor dem LSG den Antrag gestellt, den Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 1979 idF des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni/ 2. Dezember 1980 aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm die Invaliditätsrente über den 31. Dezember 1979 hinaus zu gewähren.

Das LSG hat die Berufung erneut zurückgewiesen. Zur Begründung führt es aus: Der dem Bescheid vom 15. Mai 1979 zugrundeliegende Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 7. Dezember 1978 sei schon deshalb rechtmäßig, weil er lediglich einen dem Gesetz entsprechenden Rechtszustand wiederhergestellt habe. Die InvR-Bestimmungen entbehrten einer gesetzlichen Ermächtigung. Eine solche Rechtsgrundlage enthalte insbesondere nicht § 368n der Reichsversicherungsordnung (RVO), denn diese Vorschrift verstehe unter kassenärztlicher Versorgung nicht die Versorgung von Kassenärzten, sondern die Versorgung der versicherten Bevölkerung durch Kassenärzte. Auch eine landesrechtliche Grundlage für die streitbefangene Versorgungskasse (iS von Art 4 § 1 Abs 2 des Gesetzes über Kassenarztrecht -GKAR-) sei nicht zu erkennen. Die Rechtmäßigkeit der Versorgungsregelung ergebe sich schließlich nicht aus Gewohnheitsrecht. Aber selbst wenn Gewohnheitsrecht entstanden sein sollte, wäre es durch den Beschluß der Vertreterversammlung beseitigt worden. Der Kläger habe auch keine Rechtsposition erlangt, die durch Art 14 des Grundgesetzes (GG) geschützt sei. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) versage den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz jedenfalls solchen öffentlich-rechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften, die aus Fürsorgegründen eingeräumt worden seien. Zwischen den Leistungen der Mitglieder der Umlagekasse und den aus der Kasse zu zahlenden Renten bestehe ein außergewöhnliches Mißverhältnis, das die Rente nahezu als Schenkung erscheinen lasse. Aus den gleichen Gründen könne in der Wiederherstellung des vom Gesetzgeber ursprünglich beabsichtigten Zustandes, der den KÄVen Versorgungswerke der hier vorliegenden Art nicht zugestehe, auch kein Verstoß gegen Treu und Glauben gesehen werden. Die außergewöhnliche Ungleichgewichtigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung sei für jedes Kassenmitglied klar erkennbar gewesen. Die für die betriebliche Altersversorgung geltenden Regeln seien hier nicht anwendbar. Der Kläger könne sein Begehren auf Weitergewährung der Rente nicht auf § 1 Ziff 9 der InvR-Bestimmungen stützen. Er sei zum Zeitpunkt der Auflösung der Umlagekasse nicht Rentenbezieher iS dieser Vorschrift gewesen. Ihm sei lediglich die Rente nach Maßgabe der Bestimmungen, dh dem Grunde nach gewährt worden. Bezogen habe er die Rente nur für das I. Quartal 1978 und dies vermutlich nur deshalb, weil er die geforderten Angaben über seine Einkommensverhältnisse nicht vollständig gemacht habe. Der Wegfall der die Rentengewährung stützenden Normen stelle eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse dar. Der Bescheid vom 7. Oktober 1977 sei damit jedenfalls für die Zukunft rechtswidrig geworden. Demgegenüber könne sich der Kläger nicht auf Grundsätze des Vertrauensschutzes berufen. Er habe das Entstehen der Umlagekasse miterlebt, ihm sei daher der Übergangscharakter der Kasse bekannt gewesen. Die Auflösung der Umlagekasse bedeute für ihn auch keine unzumutbare Härte. Er habe keine Rente erhalten, auf deren Fortdauer er sich hätte einstellen können. Außerdem seien ihm eine Berufsunfähigkeitsrente (BU-Rente) von der Ärztekammer (DM 2.345,65) und ein Abgeordnetenruhegeld (DM 1.875,--) gezahlt worden. Fasse man den Bescheid vom 7. Oktober 1977 als eine Zusicherung iS des § 34 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) auf, so wäre die Beklagte, selbst wenn die Zusage rechtmäßig erteilt worden sein sollte, nach Auflösung der Umlagekasse nicht mehr daran gebunden.

Mit der Revision rügt der Kläger, das Urteil des LSG entspreche nicht der Sach- und Rechtslage. Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Rentenzahlungen aus der Umlagekasse einzustellen. Die Umlagekasse sei rechtswirksam errichtet worden. Eine Ermächtigungsgrundlage ergebe sich aus den §§ 368 ff RVO, denn eine ausreichende Versorgung der Kassenärzte sei Vorbedingung für das Funktionieren der kassenärztlichen Versorgung der Bevölkerung. Auch Art 4 § 1 Abs 2 GKAR stelle eine Rechtsgrundlage dar. Bei den InvR-Bestimmungen handele es sich nur um eine rechtlich zulässige Änderung der vorangegangenen satzungsrechtlichen Regelung. Im übrigen ergebe sich die Rechtmäßigkeit der Versorgungsregelung aus Gewohnheitsrecht. Selbst wenn die Beklagte zur Auflösung der Umlagekasse berechtigt gewesen sein sollte, folge daraus nicht, daß sie auch die ausdrückliche Zusage, bereits fällige Renten weiterzuzahlen (§ 1 Ziff 9 der InvR-Bestimmungen), hätte widerrufen dürfen. Ihm sei eine Invaliditätsrente gewährt worden, weshalb er dem Kreis der Anspruchsberechtigten zuzurechnen sei. Es sei rechtswidrig gewesen, ihm die Rentenansprüche zu entziehen. Die Entziehung der Rente stelle einen enteignungsgleichen Eingriff dar und sei deshalb nach Art 14 GG unzulässig. Der Beschluß der Beklagten vom 7. Dezember 1978 und der Bescheid vom 15. Mai 1979 widersprächen auch den Regeln über die Rücknahme bzw den Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes. Er habe infolge seines Vertrauens auf die InvR-Bestimmungen es unterlassen, sich anderweitig gegen Invalidität zu versichern. Ihm stehe die Rente zumindest ab dem 70. Lebensjahr zu. Er könne sich aber auch nicht mit dem Urteil des LSG vom 17. Februar 1982 - L 7 Ka 11/81 - und den die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückweisenden Beschluß des Senats zufrieden geben. In jenem Verfahren seien nicht seine erheblichen Verbindlichkeiten berücksichtigt worden. Insoweit sei noch eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erforderlich.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. April 1983, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Mai 1980 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 1979 idF des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni/ 2. Dezember 1980 aufzuheben und festzustellen, daß er gegen die Beklagte einen Anspruch auf Invaliditätsrente über den 31. Dezember 1979 hinaus hat.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Soweit der Kläger eine Verletzung solcher Rechtsvorschriften rügt, deren Geltungsbereich sich auf den Bezirk des Berufungsgerichts beschränkt, macht er keine zulässigen Revisionsgründe geltend. Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf einer Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (§ 162 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Bei dem Gesetz über die Vereinigungen der Sozialversicherungsärzte, Sozialversicherungszahnärzte und Sozialversicherungsdentisten von Groß-Berlin vom 20. Januar 1950, der Satzung der Vereinigung der Sozialversicherungsärzte von Groß-Berlin vom 4. August 1950, der Satzung und den sonstigen Vorschriften der Beklagten sowie den Beschlüssen ihrer Vertreterversammlung handelt es sich um nichtrevisibles Recht. Insoweit hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung das vom Berufungsgericht festgestellte Recht zugrunde zu legen.

Die Vorinstanzen haben in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, daß der Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 7. Dezember 1978 auch auf den Kläger Anwendung findet und deshalb der Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 1979 nicht rechtswidrig ist. Die Entziehung des dem Kläger ab Januar 1978 dem Grunde nach zuerkannten Anspruchs auf Invaliditätsrente mit Wirkung vom 1. Januar 1980 entspricht dem vom LSG festgestellten Satzungsrecht der Beklagten und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.

Der Beschluß vom 7. Dezember 1978, durch den die Umlagekasse 'Sicherung gegen Invalidität' aufgehoben und festgestellt worden ist, daß Leistungen gemäß den InvR-Bestimmungen sowie die Altersinvaliditätsrenten ab 1. Januar 1980 nicht mehr gewährt werden, hat jedenfalls insoweit eine ausreichende Rechtsgrundlage, als er sich nicht auf laufende Rentenzahlungen erstreckt. Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie das LSG meint, die InvR-Bestimmungen mangels einer gesetzlichen Ermächtigung von Anfang an nicht rechtmäßig waren und deshalb der Beschluß vom 7. Dezember 1978 lediglich eine den geltenden gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Rechtslage wiederhergestellt hat (zur Frage der Zulässigkeit einer Alters- und Hinterbliebenenversorgung der KÄV nach Inkrafttreten des GKAR: BSGE 25, 123; 28, 9). Auch wenn die im Dezember 1958 beschlossene Versorgungsregelung rechtmäßig (geworden) war - das LSG zieht eine gewohnheitsrechtliche Geltung in Erwägung -, konnte die Vertreterversammlung der Beklagten die Auflösung der Umlagekasse beschließen. Diese rechtliche Möglichkeit ergab sich schon aus der Zwecksetzung der Versorgungsregelung und war zudem ausdrücklich vorgesehen. Die InvR-Bestimmungen sollten die Mitglieder der Umlagekasse im Falle der Invalidität vor dringender Not schützen. Die Bestimmungen konnten daher aufgehoben werden, wenn ein Bedürfnis für diese auf Fürsorgerwägungen beruhende Versorgungsregelung nicht mehr bestand. § 5 Ziff 3 der InvR-Bestimmungen räumte der Vertreterversammlung das Recht ein, die Umlagekasse unter bestimmten Voraussetzungen (Absinken der Mitgliederzahl unter 1.200) aufzulösen. Nach § 1 Ziff 9 der InvR-Bestimmungen sollten lediglich die Mitglieder die Invaliditätsrente weiter erhalten, die bei Auflösung der Kasse bereits die Rente bezogen.

Nach der für den Senat verbindlichen Auslegung der InvR-Bestimmungen durch das LSG waren Rentenbezieher iS des § 1 Ziff 9 nur diejenigen anspruchsberechtigten Mitglieder, die tatsächlich die Rente erhielten, nicht auch solche, denen ein Anspruch nur dem Grunde nach zustand. An den Kläger wurde zu der hier maßgebenden Zeit keine Rente gezahlt. In einem anderen Streitverfahren ist rechtskräftig festgestellt worden, daß der Kläger in Anbetracht seiner Einkommensverhältnisse auch keine Rente zu erhalten hatte (Urteil des LSG vom 17. Februar 1982 - L 7 Ka 11/81 -). Die insoweit vorgebrachte Rüge mangelnder Sachaufklärung kann sich nicht auf das vorliegende Verfahren beziehen. Die Rechtskraft der Entscheidung im anderen Verfahren verbietet eine abweichende Sachentscheidung.

Der Kläger hat durch seine Teilnahme an der hier fraglichen Umlagekasse keine durch Art 14 GG geschützte Rechtsposition erlangt. Der Schutz der Eigentumsgarantie kann zwar auch öffentlich-rechtlichen Ansprüchen zuteil werden (zB Rentenansprüchen und Rentenanwartschaften aus den gesetzlichen Rentenversicherungen). Das BVerfG stellt dabei im wesentlichen darauf ab, ob der Anspruch in einem Zusammenhang mit einer eigenen Leistung des Inhabers steht oder ob er in Erfüllung einer Fürsorgepflicht eingeräumt ist; je höher der einem Anspruch zugrundeliegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor (BVerfGE 53, 257, 289 ff). Die Umlagekasse der Beklagten zur 'Sicherung gegen Invalidität' war eine Fürsorgeeinrichtung der Beklagten. Sie wurde im Rahmen der 'Maßnahmen zur Fürsorge und zum Schutze von Mitgliedern ...vor dringender Not' gegründet. Das geschah zu einer Zeit, als die Kassenärzte in Berlin noch nicht durch ein Versorgungswerk der Ärztekammer abgesichert waren. Die Umlagekasse war nach ihrer Konzeption keine Dauereinrichtung, die es dem Kassenarzt ermöglichen sollte, durch eigene Leistung eine angemessene Versorgung für das Alter und für den Fall der Berufsunfähigkeit aufzubauen. Vielmehr war ihre Auflösung vorgesehen, wenn sie von den Kassenärzten nicht mehr in einem bestimmten Umfange in Anspruch genommen wird, die Kassenärzte also nicht mehr auf sie angewiesen sind. Die Teilnehmer an der Umlagekasse bildeten somit eine Risikogemeinschaft auf Zeit. Die Höhe der Rente entsprach ihrer Zwecksetzung (Schutz vor dringender Not). Die bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres zustehende Rente betrug zuletzt DM 700,-monatlich. Sie wurde nach dem Bedürftigkeitsprinzip gewährt, nämlich unter teilweiser Anrechnung der Einkünfte des Arztes und seines Ehegatten. Zwar stellten die InvR-Bestimmungen PE auch eine geringe einkommensunabhängige Altersrente in Höhe von DM 400,-- monatlich ab Vollendung des 70. Lebensjahres in Aussicht, dies jedoch ebenfalls unter dem Vorbehalt, daß die Umlagekasse nicht vorher aufgelöst wird. Nur diejenigen, die die Rente bereits bezogen, sollten sie weiter erhalten. Hinsichtlich der anderen Mitglieder der Umlagekasse ging die Regelung offensichtlich davon aus, daß dann, wenn es (wegen Absinken der Mitgliederzahl) zur Auflösung der Kasse kommt, eine ausreichende anderweitige Versorgung der Kassenärzte (zB durch das Versorgungswerk der Ärztekammer) besteht. Diesem zeitlich begrenzten Schutz durch die Umlagekasse entsprachen die geringen Beitragsleistungen der Mitglieder. Nach den Feststellungen des LSG entrichtete der Kläger seit 1959 insgesamt Beiträge in Höhe von DM 1.320,--, also weniger als zwei Monatsbeträge der Invaliditätsrente. Hierbei kann es sich nur um eine Gegenleistung für die zeitlich begrenzte Absicherung gegen dringende Not, nicht jedoch um eine Gegenleistung für eine reguläre Altersversorgung gehandelt haben.

Der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes, der für vermögenswerte Güter im Eigentumsgrundrecht eine eigene Ausprägung erfahren hat, ist auch sonst zu beachten, wenn der Normgeber in Rechtspositionen eingreift. Im vorliegenden Fall kommen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe in Betracht, welche das BVerfG zur unechten Rückwirkung entwickelt hat, also für Fälle, in denen eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (BVerfGE 64, 87, 104 ff). Die hier vorzunehmende Abwägung des Vertrauensschadens des Klägers und der Bedeutung des Anliegens des Normgebers für die Allgemeinheit (für die Gesamtheit der Mitglieder der KÄV) ergibt, daß das allgemeine Interesse an der Auflösung der Umlagekasse das Interesse des betroffenen Personenkreises an dem Fortbestehen der Kasse überwiegt. Die Umlagekasse und die ihr zugrundeliegenden satzungsrechtlichen Vorschriften der Beklagten aus der Zeit ab 1958 entbehrten einer gesetzlichen Ermächtigung. Eine landesrechtliche Regelung iS des Art 4 § 1 Abs 2 Satz 2 GKAR, die allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommen könnte (BSGE 25, 123; 28, 9; BSG SozR Nr 3 zu Art 4 § 1 GKAR), hat es nach den Feststellungen des LSG in Berlin nicht gegeben. Mit der Auflösung der Umlagekasse wurde also eine Anpassung an die Rechtslage vorgenommen. Unabhängig davon war die Umlagekasse auch nach ihrer eigenen Zweckbestimmung nicht fortzuführen. Der für sie maßgebende Grund, Kassenärzte im Alter und für den Fall der Invalidität vor dringender Not zu schützen, ist spätestens zu dem Zeitpunkt entfallen, in dem das 1966 eingeführte Versorgungswerk der Ärztekammer für alle noch tätig gewesenen Kassenärzte eine ausreichende Versorgung bereitstellte. Demgegenüber waren die Interessen der Mitglieder der Umlagekasse an deren Fortführung von untergeordneter Bedeutung. Im Zeitpunkt ihrer Auflösung im Dezember 1978 waren sie im allgemeinen nicht mehr auf einen Schutz vor dringender Not angewiesen. Zwischenzeitlich konnten sie ihre Versorgung auf andere Weise sicherstellen. Eine Anwartschaft auf eine Altersrente war ihnen nicht verbindlich zuerkannt. Sie mußten vielmehr damit rechnen, daß die Umlagekasse aufgelöst wird, bevor es zur Rentengewährung kommt. Sie konnten in Anbetracht der Ausgestaltung der 'Sicherung gegen Invalidität' nicht darauf vertrauen, daß damit ihre Altersversorgung vervollständigt wird. Eine solche Erwartung war schon wegen der geringen Beitragsleistung nicht begründet. Eine Altersversorgung aller Mitglieder, wenn auch nur in Höhe von DM 400,-- monatlich, konnte das Beitragsaufkommen nicht sicherstellen. Dem § 5 Ziff 3 der  InvR-Bestimmungen war zu entnehmen, daß die Auflösung der Kasse einer sonst unvermeidbaren unangemessenen Erhöhung der Beiträge vorgezogen werden sollte. Die Auflösung der Umlagekasse war daher absehbar.

Bei diesen Gegebenheiten kann in der Auflösung der Umlagekasse auch kein Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen Rechtsgrundsätze gesehen werden, die auf die Zusage einer betrieblichen Altersversorgung Anwendung gefunden haben. Es ist nicht ersichtlich, daß die Beklagte damit sich zu ihrem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch gesetzt, insbesondere gegebene Zusagen mißachtet hat. Die Entscheidung ihrer Vertreterversammlung, ab 1. Januar 1980 keine Renten mehr zu gewähren, hält sich in dem von der Vertreterversammlung bei der Schaffung der Umlagekasse gesetzten rechtlichen Rahmen, soweit sie sich nicht auf laufende Rentenzahlungen bezieht. Die Verpflichtung der Beklagten aus laufenden Rentenzahlungen (§ 1 Ziff 9 InvR-Bestimmung) ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

Der somit rechtswirksame Beschluß der Vertreterversammlung der Beklagten vom 7. Dezember 1978 rechtfertigt den an den Kläger gerichteten Bescheid vom 15. Mai 1979, dem zu entnehmen ist, daß auch ihm eine Rente nicht mehr gewährt wird. Die Beklagte hat durch diesen Bescheid die dem Kläger am 7. Oktober 1977 mitgeteilte Entscheidung ihres Vorstandes, ihm vom 1. Januar 1978 an die Invaliditätsrente nach Maßgabe der Bestimmungen zu gewähren, mit Wirkung für die Zukunft widerrufen. § 1 Ziff 9 der InvR-Bestimmungen stand dem Widerruf nicht entgegen, denn der Kläger war, wie bereits ausgeführt worden ist, im Zeitpunkt der Auflösung der Kasse kein Rentenbezieher iS dieser Vorschrift. Der Beschluß der Vertreterversammlung vom 7. Dezember 1978 stellt eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse dar, so daß sowohl nach § 48 Abs 1 des am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen 1. Kapitels des SGB X als auch nach den allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen der Widerruf zulässig war (zur Anwendbarkeit der Vorschriften des SGB X über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten in einem bei Inkrafttreten der Vorschriften anhängigen Gerichtsverfahren: BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 SGB X Nr 3; § 45 SGB X Nr 5). Etwas anderes ergibt sich nicht, wenn man den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1977 lediglich als eine Zusicherung iS des § 34 SGB X ansehen will. Nach Absatz 3 dieser Vorschrift ist die Behörde an eine Zusicherung nicht gebunden, wenn sich nach Abgabe der Zusicherung die Sach- oder Rechtslage derart ändert, daß die Behörde bei Kenntnis der nachträglich eingetretenen Änderung die Zusicherung nicht gegeben hätte oder aus rechtlichen Gründen nicht hätte geben dürfen.

Soweit das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommt, die InvR-Bestimmungen seien mangels einer Rechtsgrundlage von Anfang an unwirksam gewesen, folgt daraus nicht, daß es der Beklagten verwehrt gewesen wäre, den dann unter Umständen von Anfang an rechtswidrigen Bescheid vom 7. Oktober 1977 mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann ebenfalls widerrufen werden, soweit sich die Verhältnisse, die für ihn maßgebend gewesen waren, geändert haben (Schroeder-Printzen/ Wiesner, SGB X, Komm, 1981, Anm 1 zu § 48; Kopp, VwVfG mit Erläuterungen, 3. Aufl, RdNr 19 zu § 48). Aber auch die bei Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts vorzunehmende Abwägung des Vertrauens des Begünstigten mit dem öffentlichen Interesse (§ 45 Abs 2 SGB X) rechtfertigt die dem Kläger am 15. Mai 1979 mitgeteilte Entscheidung. Die Mitglieder der Umlagekasse konnten, wie oben bereits ausgeführt, in Anbetracht der in den InvR-Bestimmungen enthaltenen Auflösungsklausel (§ 5 Ziff 3 iVm § 1 Ziff 9) nicht damit rechnen, daß die Umlagekasse fortgeführt und jedem Mitglied zur gegebenen Zeit eine Rente gewährt wird. Nach der Konzeption dieser Versorgungseinrichtung mußte damit gerechnet werden, daß bei einer anderweitigen Versorgung der Kassenärzte die dem Schutz vor dringender Not dienenden Maßnahmen wegfallen werden. Eine ausreichende Versorgung hatte sich zwischenzeitlich auch für den Kläger ergeben. Nach den Feststellungen des LSG bezog er 1979 eine BU-Rente der Ärztekammer von DM 2.345,65 und ein Abgeordnetenruhegeld von DM 1.875,-- im Monat. Daß der Kläger im Vertrauen auf den Bescheid vom 7. Oktober 1977 - also zu einer Zeit, zu der bei ihm schon Invalidität vorlag - auf weitere Vorsorgemaßnahmen verzichtet hat, die er sonst noch getroffen hätte, kann ernsthaft nicht in Erwägung gezogen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663341

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