Leitsatz (redaktionell)
Die Verhaftung eines Volksdeutschen in der Ukraine im November 1937 durch den sowjetrussischen Geheimdienst und sein Festhalten auf Grund einer Verurteilung zu 10jähriger Freiheitsstrafe kann sich mit Ausbruch des 2. Weltkrieges in eine Internierung iS des BVG § 1 Abs 2 Buchst c umgewandelt haben, wenn nunmehr der Krieg - entweder allein oder überwiegend - Ursache des weiteren Festhaltens gewesen ist.
Die Änderung des Grundes für das Festhalten muß aus irgendwelchen äußeren Umständen hervorgehen, die diese Annahme rechtfertigen; die Verneinung solcher äußerer Umstände lediglich deswegen, weil über das Schicksal des seit der Verhaftung verschollenen Volksdeutschen nichts in Erfahrung zu bringen gewesen ist, genügt nicht.
Das Gericht muß aufklären, welche Behandlung der volksdeutschen Gruppe in der Sowjetunion damals in ihrer Gesamtheit widerfahren ist und inwieweit daraus Schlüsse auf das Schicksal des Verschollenen gezogen werden können.
Die weitere Sachaufklärung ist durch die Einholung eines Gutachtens von besonders sachkundigen Stellen, zB des Osteuropainstituts in München und durch Beschaffung von anderen geeigneten Unterlagen zu versuchen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 11. Oktober 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin lebte mit ihrem Ehemann, dem im Jahre 1888 geborenen C H, vor dem zweiten Weltkrieg als Volksdeutsche in der Ukraine. Am 19. November 1937 wurde ihr Ehemann vom russischen Geheimdienst verhaftet und - späteren Mitteilungen zufolge - zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Bei Kriegsausbruch riß die bis dahin bestehende Briefverbindung zwischen den Eheleuten ab; seitdem fehlt jede Spur von dem Ehemann.
Im März 1953 beantragte die Klägerin Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt L lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. August 1954 mit der Begründung ab, die Internierung habe nichts mit den späteren Kriegsereignissen zu tun gehabt. Der Widerspruch gegen diesen Bescheid blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3.10.1955). Die daraufhin erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) Lübeck mit Urteil vom 9. März 1956 abgewiesen: Die Inhaftierung sei ohne Zusammenhang mit unmittelbaren Kriegseinwirkungen erfolgt. Es sei auch keine genügende Grundlage für die Annahme vorhanden, daß das weitere Festhalten des Ehemannes nach Kriegsausbruch wegen seiner Eigenschaft als Volksdeutscher erfolgt sei. Die Berufung gegen diese Entscheidung hat das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig durch Urteil vom 11. Oktober 1957 zurückgewiesen: Selbst wenn man davon ausgehe, daß der Ehemann mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod gefunden habe, so könne nicht festgestellt werden, daß der Verschollene auf Grund einer der in den §§ 1, 5 BVG bezeichneten Tatbestände ums Leben gekommen sei. Es sei zwar möglich, daß der erforderliche Zusammenhang zwischen Internierung und Krieg auch nachträglich - insbesondere schon durch das weitere Festhalten nach Kriegsbeginn - hergestellt werde. Dabei müßten jedoch wenigstens irgendwelche Anhaltspunkte für eine Veränderung des Status durch den Kriegsausbruch erkennbar sein. Mangels näherer Anhaltspunkte lasse sich aber nicht genügend wahrscheinlich machen, daß der Ehemann durch eine im Zusammenhang mit der Kriegsführung getroffene Maßnahme eine Änderung seines Status erfahren habe, zu Tode gekommen oder verschollen sei. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 15. November 1957 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem am 6. Dezember 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Schleswig vom 11. Oktober 1957 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Lübeck vom 9. März 1956 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 5. August 1954 und des Widerspruchsbescheides vom 3. Oktober 1955 zu verurteilen, der Klägerin ab 1. März 1953 Hinterbliebenenrente nach ihrem Ehemann C H zu gewähren,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur weiteren Aufklärung und Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
In der gleichzeitig eingereichten Revisionsbegründung trägt die Klägerin vor, aus einem Gutachten des Osteuropa-Instituts in M, das in einer ähnlichen vom Bayerischen LSG. entschiedenen Sache (abgedruckt in Breithaupt 1955 S. 757) erstattet worden sei, ergebe sich, daß die Sowjetunion seinerzeit die Volksdeutschen verhaftet habe, um sich vor einem erwarteten deutschen Angriff auf die Ukraine zu schützen. Deshalb müsse schon die Inhaftierung als ein schädigender Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG angesehen werden. Zumindest aber erfülle das weitere Festhalten nach Kriegsausbruch den Tatbestand dieser Vorschrift; denn von diesem Zeitpunkt ab hätten sich nach dem angeführten Gutachten des Osteuropa-Instituts die Lebensverhältnisse der internierten Volksdeutschen so verschlechtert, daß von einer äußersten Gefahr für Gesundheit und Leben gesprochen werden müsse.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er trägt vor, die Ansicht der Revision, daß bereits in der Festnahme im Jahre 1937 eine Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG zu erblicken sei, finde im Gesetz keine Stütze. Die Frage, ob sich der ursprüngliche Charakter der Inhaftierung durch den Kriegsausbruch verändert habe und eine neue Art der Festhaltung unter Umständen den Tatbestand der angeführten Vorschrift erfülle, müsse ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Ursächlichkeit entschieden werden. Im vorliegenden Falle liege aber außer der Tatsache des Kriegsausbruchs kein konkreter Anhaltspunkt vor, der die Feststellung rechtfertigen könnte, daß die Ursächlichkeit der ersten Inhaftierung nicht über den Ausbruch des Krieges hinaus fortgewirkt habe, daß vielmehr die neuen Ereignisse wesentlich für die weitere Festhaltung und ihre Art und Weise gewesen seien. Gerade im Falle des Ehemannes der Klägerin sei es wahrscheinlich, daß er im Zeitpunkt des Kriegsbeginns noch nicht entlassen worden wäre, weil er seine Freiheitsstrafe - selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Begnadigung nach fünf Jahren, von der er angeblich gesprochen habe - noch nicht verbüßt gehabt hätte.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Rechtsgrundlage des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs ist § 38 Abs. 1 BVG in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG. Nach diesen Vorschriften steht der Klägerin Witwenversorgung zu, wenn der frühere Ehemann an den Folgen einer Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit gestorben oder im Sinne des § 52 BVG verschollen ist.
Dem LSG. ist zunächst darin beizupflichten, daß es sich um eine Internierung im Sinne des BVG nur dann handelt, wenn das Festhalten in Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege gestanden hat (vgl. hierzu und zum Begriff der Internierung überhaupt das Urteil des 10. Senats des BSG. vom 4. 2. 1959 - 10 RV 918/57 -, abgedruckt in "Der Versorgungsbeamte", 1959 S. 71). Der Ehemann der Klägerin wurde im November 1937 - also vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges - von den Russen verhaftet. Diese Verhaftung kann - wie das LSG. im Ergebnis mit Recht angenommen hat - nicht in Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gebracht werden. Zwar hat der 10. Senat des BSG. in seinem Urteil vom 4. Februar 1959 ausgeführt, eine Internierung könne auch schon dann mit dem Kriege zusammenhängen, wenn die Festnahme zwar vor Ausbruch des Krieges, aber während und wegen einer drohenden Kriegsgefahr erfolgt sei. Der erkennende Senat brauchte zu dieser Rechtsauffassung jedoch nicht Stellung zu nehmen; denn der Ehemann der Klägerin wurde zu einem Zeitpunkt (November 1937) festgenommen, in dem von einer drohenden Kriegsgefahr im Sinne der Ausführungen des 10. Senats noch nicht gesprochen werden konnte.
Aber auch wenn ein Festhalten noch nicht von vornherein in Zusammenhang mit dem Krieg gestanden hat und somit zunächst nicht als eine Internierung im Sinne des BVG angesehen werden kann, so kann es sich doch mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges in eine solche Internierung umgewandelt haben, wenn nunmehr der Krieg - sei es allein oder vorwiegend - Ursache des weiteren Festhaltens war. Der erkennende Senat stimmt insoweit dem 10. Senat des BSG. zu, der in seinem oben angeführten Urteil hierzu ausgeführt hat, es müsse, um eine solche Umwandlung annehmen zu können, allerdings regelmäßig gefordert werden, daß die Änderung des Grundes aus irgendwelchen äußeren Umständen hervorgehe. Das LSG. hat diese Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Krieg und weiterem Festhalten nicht verkannt und sie der angefochtenen Entscheidung - wenn auch mit einigen Bedenken - zugrunde gelegt, für den vorliegenden Fall aber einen solchen Zusammenhang zwischen dem weiteren Festhalten des Ehemannes der Klägerin und dem inzwischen ausgebrochenen Krieg verneint. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem weiteren Festhalten und dem Kriege könne nur dann angenommen werden, wenn wenigstens irgendwelche Anhaltspunkte für eine Veränderung des Status des Verhafteten durch den Kriegsausbruch erkennbar seien. Eine solche Feststellung lasse sich aber nicht treffen. Die Regel sei jedenfalls, daß das weitere Festhalten eines im Jahre 1937 verhafteten und zu einer in die Kriegszeit hineinreichenden Freiheitsstrafe verurteilten Volksdeutschen in der Sowjetunion über den Kriegsausbruch hinaus nicht durch den Krieg, sondern nach wie vor durch seine frühere Verhaftung und Verurteilung verursacht worden sei. Mangels näherer Anhaltspunkte lasse sich nicht feststellen, daß der Ehemann der Klägerin entgegen dieser Regel durch eine im Zusammenhang mit dem Krieg getroffene Maßnahme eine Änderung seines Status erfahren habe. Es sei nicht einmal andeutungsweise etwas darüber bekannt, inwiefern der Kriegsausbruch auf das Schicksal des Verschollenen irgendeinen nachhaltigen Einfluß gehabt habe. Das Berufungsgericht hat demnach die auf dem Gebiet der Tatsachenfeststellung liegende Frage verneint, ob im vorliegenden Falle der nach Verhaftung des Verschollenen ausgebrochene Krieg Ursache des weiteren Festhaltens war. Diese Feststellung hat die Revision jedoch in zulässiger und begründeter Weise angegriffen (§ 163 SGG).
In der Revisionsbegründung wird die Verletzung "materiellen Rechts" ausdrücklich gerügt. Sämtliche Ausführungen lassen jedoch mit noch hinreichender Deutlichkeit erkennen, daß sich die Revision gegen die oben angeführten tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts richtet. Zwar muß die Revisionsbegründung nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die verletzte Rechtsnorm sowie die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Mangel ergeben. Die Revision hat allerdings eine Verfahrensvorschrift, die als verletzt angesehen werde, nicht ausdrücklich genannt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG. genügt es aber, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen mit hinreichender Klarheit ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG. 1 S. 227). Die Klägerin weist in der Revisionsbegründung insbesondere auf ein Gutachten des Osteuropa-Instituts in München - auszugsweise wiedergegeben in einer Entscheidung des Bayerischen LSG. vom 16. Februar 1955 (Breithaupt 1955 S. 757) - hin. Aus diesem Gutachten gehe hervor, daß sich die Lebensverhältnisse der internierten Volksdeutschen in Rußland allgemein mit Beginn des Krieges so erheblich verschlechtert hätten, daß von einer äußersten Gefahr für die Gesundheit und das Leben dieser Internierten gesprochen werden müsse. Den Ausführungen der Klägerin zu diesem Gutachten und den darin geschilderten Lebensverhältnissen der internierten Volksdeutschen in Rußland im allgemeinen glaubte der erkennende Senat mit noch hinreichender Klarheit entnehmen zu können, daß die Revision § 103 SGG als verletzt ansieht, weil das LSG. diese allgemeinen Verhältnisse näher habe aufklären müssen, zumal es durch das ihm aus der Entscheidung des Bayerischen LSG. vom 16. Februar 1955 bekannte Gutachten auf eine Möglichkeit hierzu hingewiesen worden sei. Diese Rüge greift auch durch. Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung lediglich auf Grund der Tatsache gewonnen, daß über das Schicksal des Verschollenen direkt nichts in Erfahrung zu bringen war. Das LSG. hätte sich hiermit aber, gerade weil sich die Klägerin in einem unverschuldeten Beweisnotstand befand, nicht begnügen dürfen. Da der Verschollene Angehöriger der volksdeutschen Gruppe in der Sowjetunion war, hätte das LSG. aufklären müssen, welches Schicksal und welche Behandlung dieser Volksgruppe in ihrer Gesamtheit in Rußland widerfahren ist und inwieweit daraus Schlüsse auf das Schicksal des Verschollenen als Angehöriger dieser Gruppe gezogen werden können. Abgesehen davon, daß sich das LSG. schon mit dem in dem angeführten Urteil des Bayerischen LSG. enthaltenen Auszug aus dem Gutachten des Osteuropa-Instituts in München hätte auseinandersetzen müssen, hätte es darüber hinaus auch das vollständige Gutachten beiziehen und prüfen müssen, auf Grund welcher Erkenntnisquellen das Gutachten erstattet worden ist und welcher Beweiswert ihm somit zukommt. Jedenfalls war das LSG. durch das ihm bekannte Gutachten auf die Existenz eines Instituts hingewiesen worden, das zumindest möglicherweise dem Gericht durch seine besondere Sachkunde bei der Aufklärung des Sachverhalts hätte helfen können. Weiter hätte das LSG. versuchen müssen, andere geeignete Unterlagen (z. B. Veröffentlichungen auf dem in Betracht kommenden Gebiet) beizuziehen. Sodann hätte es prüfen müssen, ob nach Durchführung einer solchen Sachaufklärung hinsichtlich des allgemeinen Schicksals der in der Sowjetunion verhafteten Volksdeutschen, über die seit Kriegsausbruch zum größten Teil jede Nachricht fehlt, zugenommen werden kann, daß auch das Ableben des Ehemannes der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit (§ 52 BVG) auf Verhältnisse zurückzuführen ist, die mit Kriegsausbruch als Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG angesehen werden können. In dem Nichtausschöpfen dieser Möglichkeiten liegt ein Mangel der Sachaufklärung.
Die Revision ist somit begründet, da die Möglichkeit besteht, daß das LSG. bei weiterer Sachaufklärung anders entschieden hätte (BSG. 2 S. 197 (201)). Das Revisionsgericht kann die noch erforderliche Sachaufklärung nicht selbst vornehmen; das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen